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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

680–683

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

1) Stein, Edith 2) Stein, Edith 3) Stein, Edith 4) Stein, Edith 5) Stein, Edith

Titel/Untertitel:

1) Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Und weitere autobiographische Beiträge. Neu bearb. u. eingel. v. M. A. Neyer. Fußnoten u. Stammbaum unter Mitarbeit v. H.-B. Gerl-Falkovitz.

2) Selbstbildnis in Briefen. Briefe an Roman Ingarden. Einleitung v. H.-B. Gerl-Falkovitz. Bearbeitung u. Anmerkungen v. M. A. Neyer. Fußnoten mitbearb. v. E. Avé-Lallemant.

3) Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen. Einleitung v. S. Binggeli. Bearb. v. M. A. Neyer.

4) Bildung und Entfaltung der Individualität. Beiträge zum christlichen Erziehungsauftrag. Einleitung v. B. Beckmann. Bearb. v. M. A. Neyer u. B. Beckmann.

5) Übersetzung von John Henry Newman. Briefe und Texte zur ersten Lebenshälfte (1801-1846). Einführung, Bearbeitung u. Anmerkungen v. H.-B. Gerl-Falkovitz.

Verlag:

1) Freiburg-Basel-Wien: Herder 2002. XX, 393 S. 8 = Edith Stein Gesamtausgabe, 1. Geb. Euro 45,00. ISBN 3-451-27371-3.

2) Freiburg-Basel-Wien: Herder 2001. 246 S. 8 = Edith Stein Gesamtausgabe, 4, Biographische Schriften, 4. Geb. Euro 29,50. ISBN 3-451-27374-8.

3) 2., durchgesehene u. korrigierte Aufl. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2000. XXIV, 256 S. 8 = Edith Stein Gesamtausgabe, 13, Schriften zu Anthropologie und Pädagogik, 1. Geb. Euro 33,00. ISBN 3-451-27383-7.

4) Freiburg-Basel-Wien: Herder 2001. XXX, 186 S. 8 = Edith Stein Gesamtausgabe, 16, Schriften zu Anthropologie und Pädagogik, 4. Geb. Euro 29,00. ISBN 3-451-27386-1.

5) Freiburg-Basel-Wien: Herder 2001. XXXIV, 300 S. 8 = Edith Stein Gesamtausgabe, 22, Übersetzungen, 2. Geb. Euro 37,00. ISBN 3-451-27392-6.

Rezensent:

Jörg Splett

Nach früheren Drucken, in ihren editorischen Möglichkeiten begrenzt und großteils vergriffen, hat das "Internationale Edith Stein Institut", Würzburg, in Zusammenarbeit mit H.-B. Gerl-Falkovitz und zahlreichen Fachgelehrten eine in Textherstellung, Hinführung und Kommentaren heutigen Standards verpflichtete Gesamtausgabe begonnen. Bis jetzt sind 25 Bände geplant, in fünf Abteilungen: A. Biographische Schriften (1-4), B. Philosophische Schriften (5-12), C. Schriften zu Anthropologie und Pädagogik (13-16), D. Schriften zu Mystik und Spiritualität (17-20), E. Übersetzungen (21-25).

Abgeschlossen ist die erste Sektion mit Bd. 4 und 1 (der sie "erschließt und beschließt" (1, V). Die Familien- und Lebensgeschichte hat St., gestützt auf Erzählungen der Mutter, in den beiden Breslauer Abschiedsmonaten 1933 begonnen, im Kölner Karmel fortgeführt, bis sie sie für die Arbeit an "Potenz und Akt" unterbrach, um sie erst in Echt wieder aufzunehmen. Sie greift weit zurück - schön das Gebet der Urgroßmutter (prompt im früheren Druck "korrigiert"): "Herr, schicke uns nicht soviel, wie wir ertragen können" (7) - und führt bis zur Promotion 1916: Bildungsbürgerliche Kindheit im Kaiserreich, Alltag und Familiendramen in einer weitverzweigten Verwandtschaft (viel Arbeit für die Fußnoten), mit z. T. recht deutlichen Wertungen. Aufbruchsfreude einer hochbegabten Studentin der ersten Generation, nach Verlust des überkommenen Glaubens von hohem ethischem Anspruch an sich und andere (und zunächst auch hochgemut patriotisch). Für die Fortsetzung werden wir auf die Briefbände verwiesen - hier gibt es ergänzend noch einen Bericht aus ihrer Hand über den Weg in den Karmel (345-362); 348 f. geht es um Jesu Kreuz, "das jetzt auf das jüdische Volk gelegt würde" und das sie auf sich nehmen will, sowie um den Brief an Pius XI., den Editoren noch unzugänglich, inzwischen ja - vielbeachtet - publiziert.

1917 setzt Bd. 4 ein. Die Einleitung rechtfertigt eigens die Vorlage dieser persönlichen Briefe, die "einer Freundschaft Aufblühen und Sich-Bezähmen" (10) dokumentieren. Sie zeigen aber darüber hinaus, was es hieß, zum engagierten Kreis der Phänomenologen zu gehören - zuzeiten scheint St. fast so etwas wie eine Drehscheibe für Informationen und persönlichen Austausch zu bilden; dann, was es bedeutet, zumal bei dessen Arbeitsweise, als Privatassistentin Husserls zu arbeiten, schließlich, zu was es führte, sich als Frau habilitieren zu wollen. "Reizend-boshaft" (19) kann sie auch hier sein, etwa über ihren "Kindergarten" von Einführungsseminar; oder wir treffen den "kleinen Heidegger", mit dem und Husserl sie "einen - übrigens sehr hübschen - religionsphilosophischen Spaziergang" macht (85-100); später dann, auf SuZ hin, die Anerkennung, dass er "etwas Großes" sei und sie alle in die Tasche stecken könne). Am Rand bleibt, wegen Ingardens Abwehr, die ihr zunehmend wichtig gewordene Thematik Religion/Glaube; auf Anwürfe repliziert St. scharf und klar (153 f.175 f.191.195); grundsätzlich (191): Wir müssten in diesem Leben nicht zu einem Rechtsausweis religiöser Erfahrung kommen, aber zu einer "Entscheidung für und wider Gott". Der letzte Brief, vom 6.5.1938, auf den Tod des verehrten "Meisters" hin, der "in den letzten Wochen ganz vom Irdischen gelöst" erschien, regt zu einer Gedenkschrift an, im Wissen um die vielfältigen Hindernisse: "Wir sind ja so weit in der Welt zerstreut und durch so viele Schwierigkeiten gebunden" (239).

Bd. 13 hat die Werkausgabe eröffnet und ist von den bislang vorliegenden wohl der anspruchsvollste; denn neben Vorträgen und Kurzbeiträgen (jeweils durch eine "Situierung" eingeleitet) enthält er eine Vorlesungsreihe über Probleme der neueren Mädchenbildung, gehalten am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster, wo St. ab 1932 als Dozentin wirkt, und als Artikelfolge in der Benediktischen Monatsschrift publiziert. St. vertritt darin, "daß die Species Mensch sich als Doppelspecies - Mann und Frau - entfaltet" (167). Das Gemeinte wird klar, gegen die Minimalisierung der "petite différence" in der Frauenbewegung oder die These von der Ungeschlechtlichkeit des Geistes (163); der Begriff indes ist kaum glücklich, biologisch wie logisch gesehen (gerade dass es sich nicht um eine Spezies handelt, erklärt die Unmöglichkeit einer Definition des Männlichen/Weiblichen). In anderer Weise anspruchvoll ist ein Fach-Vortrag über Grundlagen der Frauenbildung für die Zentral-Bildungs-Kommission des Katholischen Deutschen Frauenbundes (in den Stimmen der Zeit erschienen). Im Anhang gibt es dazu das Protokoll einer eigentümlich zerfahrenen Diskussion am folgenden Tag. St. selbst hat wohl Recht, wenn sie schreibt (251), der Widerstand, der "klarer und unumwundener" hätte sein sollen, habe wohl "ihrer radikalen Orientierung am Übernatürlichen" gegolten. (Ebd. ein briefliches Urteil: "Ich glaube, daß E. St. schon ein so hohes Maß von wirklicher Einfachheit erreicht hat, daß sie gar nicht anders sprechen konnte ...") (Corrigenda: XVI, Abs. 3, Z. 2 f.; 20, Z. 15; 53, Z. 21; 95, Z. 13 v. u.; 165, Z. 13 v. u.: welches?; 173, Abs. 2, Z. 5; 233, Z. 13 v. u.: tiefer?; 245, Z. 14 v. u.; 593, 16546, 2304, 24315 wären Belegergänzungen wünschenswert.)

Der Titel "Bildung und Entfaltung der Individualität" stammt nicht von St. Er charakterisiert Vorträge und Artikel von 1926 bis 1933, die unter vier Themen zusammengestellt sind: Grundfragen der Pädagogik (Wahrheit und Klarheit in Unterricht und Erziehung; Zur Idee der Bildung [Bild - 37 - als "Abbild eines Urbildes"?]), Christlicher Bildungsauftrag (darunter: Teresa v. Avila als Meisterin), Pädagogik-Zeitfragen (Kampf um den katholischen Lehrer, Akademische und Elementarlehrerin ...) und Katholische Akademikerbildung (Der Intellekt und die Intellektuellen; Natur und Übernatur in Goethes Faust [so respektvoll wie kritisch]). Zu Neujahr 1922 getauft, seit 1923 Lehrerin bei den Dominikanerinnen in Speyer am Lyzeum wie dem Lehrerinnenseminar, wird sie zunehmend als Referentin angefragt - besonders nach ihrem Vortrag bei den Salzburger Hochschulwochen 1930. Man dürfe keine wissenschaftlichen Artikel erwarten (XV; siehe auch Bd. 4, 155); eigens sogar (X, im Rückbezug auf Bd. 13, 251): St. lasse "sich nicht einfach fromm lesen, auch nicht einfach primitiv". In der Tat überrascht es, "wie wenig Material und Methode St. von ihrer philosophischen Vorgeschichte her in ihre Vorträge einfließen lässt" (XIII). Was sie einbringt, ist z. T. die scholastische Psychologia rationalis (Typen der Psychologie für die Pädagogik), sodann dezidiert die übernatürliche Dimension (nicht nur in der zweiten Gruppe: zur Rolle der Klosterschulen, eucharistischer Erziehung und der Bedeutung von Glauben und Glaubenswahrheiten). Die Texte werden wieder eingangs situiert und in Fußnoten kommentiert (Belege, Übersetzung lateinischer Begriffe, z. T. Editorisches bezüglich Manuskript und Erstdruck; 7718: wörtliches Zitat aus De ver. 14, 2).

Erich Przywara, "in den 20er Jahren eine Art Mentor St.s" (X), hat sie 1923 für die Übersetzung des damals im katholischen Aufbruch entdeckten Kardinals Newman gewonnen (die Einführung unterrichtet über die etwas "mühselige" Rezeptionsgeschichte, zeitgleich bei drei Verlagen): zuerst für dessen Vorträge zur "Idea of a University" (die wie ihre Übertragung von Thomas' "De ente et essentia" in der Schublade blieben [XI]), dann für Briefe, Tagebuchnotizen und erläuternde Texte für die Jahre bis zum Übertritt in die römische Kirche. St. übersetzt, wie gewünscht, sehr wörtlich und ohne Kommentierung. Die wäre auch "wohl die Aufgabe Przywaras gewesen" [XVII], hier dankenswert ausführlich von der Bearbeiterin nachgetragen. Das Buch ist durchaus auch im Blick auf Newman von Interesse; denn die Mainzer Ausgewählten Werke enthalten nur (Bd. II/III) Briefe und Tagebücher ab 1845. Dem Rez. steht nicht an, es teilweise bedrückend zu nennen, nicht bloß im Bericht von der Krankheit in Sizilien, sondern gerade auch im minutiösen Hin und Her - noch mehr als mit Gegnern mit seinen Verwandten und Freunden. Anderseits kommen nur so gegen Verkürzungen und Missdeutungen die äußeren wie inneren Tatsachen ans Licht - und um so höher steigt vor diesem Hintergrund die Achtung vor der Leistung, die Newmans längst klassische "Apologia" darstellt. St. jedenfalls hat das Übersetzen wie der Umgang mit Newman Freude gemacht (XVII); dabei darf man sich über die Arbeitskraft wundern, mit der sie neben ihrem sonstigen Pensum (siehe Bd. 4, 152) diese umfangreiche Aufgabe bewältigt (nur gegen Ende fielen einige Errata auf).

Die Ausgabe als Ganze beeindruckt durch liebevolle Sorgfalt, schon von der äußerlichen Aufmachung (den Schutzumschlägen mit unterschiedlichen Porträtfotos der Autorin) bis zur textlichen Präsentation. Einführungen, editorische Hinweise, erläuternde Fußnoten (über deren Ausmaß man natürlich manchmal streiten könnte: sind Shakespeare, die Zauberflöte, Fidelio vorzustellen [Bd. 1, 111 u. 129]? Wo andererseits die Grenze ziehen?), immer ein Namenregister, dazu in Bd. 16 noch Sach- und Bibelstellenverzeichnis. Und inzwischen sind weitere Bände erschienen. Eine Diskussion mit Edith Stein oder über ihren philosophischen Beitrag steht jetzt nicht an. Aber dankbar ist zu bemerken, dass hier die Grundlage dafür entsteht.