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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

676–679

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethik der Liebe. Studien zu Kierkegaards "Taten der Liebe".

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. X, 190 S. gr.8 = Religion in Philosophy and Theology, 4. Kart. Euro 29,00. ISBN 3-16-147770-7.

Rezensent:

Walter Dietz

Der Band versammelt Beiträge für ein Symposium zu Sören Kierkegaards Werk "Taten der Liebe" (Kjerlighedens Gjerninger, Kopenhagen 1847; dt. GW 19, 1966), das im Oktober 2000 in Zürich unter Leitung des Herausgebers stattfand. Im Gegensatz zu den pseudonymen Schriften K.s hat "Taten der Liebe" erst in den 90er Jahren des 20. Jh.s die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Schuld an dieser lange ungebührlich schwachen Wahrnehmung von "Taten der Liebe" war die vorrangig existenzphilosophische und subjektivitätstheoretische Interpretation K.s, vor allem aber Adornos Fehlinterpretation des Liebesbegriffs K.s (dt. 1951), verbunden mit dem Vorurteil, hier werde Liebe nur im Horizont reiner, objektloser Innerlichkeit stark gemacht; K.s Liebestheorie sei dämonisch und menschenverachtend. Die Forschung hat sehr lange gebraucht, um dieses polemische Konstrukt zu überwinden und K. nicht mehr primär mit den Augen seiner Kritiker zu lesen.

Hierzu dient auch der vorliegende Sammelband. Im Vorwort verweist der Herausgeber zu Recht darauf, dass einseitige "Interpretationsansätze, wie etwa die auf die subjektivistische Innerlichkeit abhebenden Deutungen Kierkegaards von Emanuel Hirsch bis Theodor W. Adorno ... methodisch und sachlich überholt" sind (VI). Diesen gegenüber versucht der Band neue Einsichten geltend zu machen (ältere Literatur zu "Taten der Liebe" bleibt allerdings unberücksichtigt, vgl. z. B. Hans Friemond, Existenz in Liebe nach Sören Kierkegaard, 1965).

Der erste Beitrag von Ulrich Lincoln (1-18) verfolgt die These einer inneren Beziehung zwischen K.s Entwürfen zu einer Vorlesung über die indirekte Mitteilung des Ethischen und des Religiösen, so dass "Taten der Liebe" im Kontext einer "christlichen Redekunst" (4) zu interpretieren sei. "Ethik, theologische Ethik zumal, wird also rhetorisch ..." (13). Liebe ist dabei nicht als bloßes Gefühl, auch nicht als bestimmte Handlung, sondern als zwischenmenschliches Ereignis zu verstehen (14).

Im Beitrag I. U. Dalferths (19-46) wird K.s Leitdifferenz des Christlichen analysiert. Christliche Liebe liebt "ohne Ansehen der Person, nicht aus Neigung, sondern nur aus Pflicht" (37). Ihre Basis ist kein rigoroses Pflichtideal, auch nicht die immanente Liebenswürdigkeit des Nächsten, sondern "die vorgängige Liebe Gottes zu mir und jedem anderen" (ebd.). Der "Horizontwechsel" des Christentums gegenüber dem Weltlichen realisiert sich "als dessen spezifische Modifikation in Kritik und Korrektur des Vorfindlichen im Licht der Liebe, die Gott ist" (40). K.s "Grammatik der Liebe" mündet so in "Horizontbeschreibungen" christlichen Lebens, welche die natürliche Vorliebe (Präferenzliebe) zur Liebe des Nächsten erheben (42).

Der Beitrag von Heiko Schulz (47-70) unterläuft das Gesamtthema insofern, als er leider keinen Bezug auf "Taten der Liebe" nimmt und stattdessen eine Verhältnisbestimmung zur Ethik Kants versucht. So bleibt es bedauerlich, dass er K.s "Ausführung der christlichen Ethik, die die Forschung nicht zu Unrecht in Taten der Liebe verwirklicht sieht", aus ungenannten Gründen nicht nachgeht (64). Obwohl seine Fragestellung (Dialektik von Sollen und Können) unschwer mit "Taten der Liebe" in Beziehung gebracht werden könnte, lässt Schulz das Tagungsthema ganz unberücksichtigt.

Pierre Bühler (70-87) wagt sich hingegen in das Zentrum von "Taten der Liebe", behandelt das Werk zugleich "intertextuell", besonders in Bezug auf K.s Mitteilungstheorie. Diese ziele auf eine Mitteilung der Liebe, die sich indirekt vollzieht, jedoch ihre Basis im direkt mitteilbaren "Du bist geliebt" hat (vgl. K.s Eingangsgebet in "Taten der Liebe"; GW 19, 6). Dabei wird "das Du sollst des Können-Sollens verbunden ... mit dem Geschenk der Gottesliebe, Quelle aller Liebe" (84).

Der Beitrag von Pia Søltoft (89-109; er könnte auch gut am Anfang stehen) liest "Taten der Liebe" rein werkimmanent und versucht dessen Sinn mit Entdeckungs- und Detailfreude nachzubuchstabieren. Sie kommt K.s Intention am nächsten, ohne auf die Originalität eigener Thesen aus zu sein. Gegenüber einer subjektivistisch-akosmistischen Auslegung betont sie "die Bedeutung der Handlungen für den Nächsten als dem konkret anderen Menschen, zu dem wir uns in der Zeit verhalten" (102).

In Arne Grøns englisch ediertem Beitrag "Ethics of Vision" (111-122) geht es darum, dass K.s Werk "Taten der Liebe" auf eine Verwandlung unseres Sehens zielt. Den Nächsten lieben zu können, setzt voraus, ihn kraft der Liebe Gottes zu "evaluieren", d. h. seine Unvollkommenheit und Schuld kraft der Liebe Gottes "wegzusehen". Im Akt des Sehens konstituiert sich die Liebe, wobei in ihm der andere neu wird.

David Kangas (Florida/USA) unternimmt in seinem sehr dichten Beitrag (123-138) eine Verhältnisbestimmung der Liebestheorie und -theologie K.s zu Fichte und Meister Eckhart (Letzterer auch über H. L. Martensen an K. vermittelt; eine Nähe K.s zur mystischen Gotteserfahrung nimmt Kangas dabei nicht an, 137). Der neuplatonische Zug (trotz der Differenz im ethischen Sollen, 138) zeige sich besonders bei K.s apophatischer Bestimmung Gottes als "infinite reduplication" und als "pure like for like" (128), ferner in der Bestimmung der Liebe als "Evighedens Baand" (Band der Ewigkeit), worin Zeitliches und Ewiges koinzidieren (129). Liebe wird dabei als der Urgrund von Seiendem überhaupt gedacht (Eckhart, Fichte, K.). Durch die Liebe erfährt und empfängt sich der Mensch als sich selbst gegeben. "The self has its being not out of itself but radically out of another, out of God" (135). Im Innersten ist der Mensch jenseits seiner selbst, so dass er paradoxerweise hier "also not its own" ist (ebd.). - Dieser freilich nur kurz angerissene Beitrag ist der tiefste und wichtigste, was die metaphysischen und theologischen Grundlagen von "Taten der Liebe" angeht.

M. Jamie Ferreira (Virginia/USA) hat mittlerweile einen eigenen Kommentar zu "Taten der Liebe" vorgelegt (Love's Grateful Striving, USA 2001) mit gleicher Zielrichtung wie ihr Beitrag hier (139-153): Das Gebot der Nächstenliebe ist nicht im Horizont einer Kantischen Pflichtethik oder einer theologischen Gebotsethik zu verstehen, sondern als Aktualisierung eines im Innersten des Menschen verankerten Dranges zur Liebe: "God's gift is the background to God's command" (148 f.). Das Liebesgebot "presupposes the gift of God's love in us" (149). Diese schöpfungstheologisch verankerte Gabe begründet die Verwiesenheit ("need") zu lieben und geliebt zu werden. Die Bestimmung des Menschen zur Liebe ist ihm inhärent, so dass sie nicht von außen geboten werden muss. Im Gebot erscheint nur die Realisierungsanleitung (guide, 148) für das, worauf unser Leben hin drängt. Wir sind zur Liebe erschaffen, und "without this loving you are not really living" (WL, 375) (149). Der Drang (dän. Trang) zur Liebe zielt dabei auf die Manifestation ihrer Wirklichkeit (in Taten, works, gjerninger), d. h. "to express itself" (142 ff.), zugleich aber auch auf Gegenliebe (144f.). Ferreira zeigt hier, dass die antwortlose, einseitige Liebe nur Grenzfall, nicht Modellfall des Liebeskonzeptes bei K. ist.

Ferreiras Artikel beseitigt mit einem großem Wurf die Fehlinterpretation eines unerfüllbaren, inhumanen Liebesgebots, das abstrakt, steil und ohne Interesse an Gegenliebe daherkommt (Adorno u. v. a.). Sie versteht Gebot, Anlage und Bestimmung als wesensmäßige Einheit, theologisch verankert in der vorgängigen Liebe Gottes: "God's love for us is absolute gift: it is not conditional on any response of us" (141). Das klingt gut lutherisch, steht aber bei Ferreira (und auch K. selbst) unvermittelt neben der These einer ontologischen Verankerung der Liebe im Menschen, einer "natural foundation of love" (151). Jene berücksichtigt hamartiologische Kritik nur insofern, als sie die Selbstsüchtigkeit und Präferenzbehaftetheit menschlicher Liebe kritisiert. Die ontologische Verankerung der Liebe - "congenial" mit der thomasischen These "grace perfects nature rather than destroys it" (151) - scheint doch in gewisser Spannung zu K.s "Lutheran inheritance" (141) zu stehen. Sicher, er wollte kein konfessioneller Lutheraner sein, der seinen Sermon von den Liebeswerken auf der Basis einer steilen und abstrakten Rechtfertigungstheologie verfasst. Dennoch bleibt es bemerkenswert, wie wenig die hamartiologische Grundfrage (vgl. BA, KzT) in "Taten der Liebe" durchschlägt, was mit Ferreiras Artikel noch einmal besonders deutlich wird.

Dewi Z. Phillips (USA) liegt mit seinem Beitrag (155-166) etwas quer zu den anderen Artikeln, insofern er mit Rush Rhees eine kritische Außenperspektive gegen K.s Liebestheorie rehabilitieren will, ohne die neueren exegetischen Einsichten zu "Taten der Liebe" einzubeziehen. Das "ewige" Recht der individuellen, z. B. erotischen Liebe (in der Gott als "middle term" nichts verloren habe) wird in seinem "Mehrwert" gegen die christliche Nächstenliebe präsentiert. Bei dieser werde, so Philips' Vorurteil, das Gegenüber individuell uninteressant (replaceable, 162), zum auswechselbaren Objekt einer abstrakten Pflicht. Während Phillips K. vorwirft, die erotische Liebe zu karikieren, basiert seine Kritik ihrerseits auf der Karikatur eines anonymisierenden, objektindifferenten Liebesbegriffs K.s. Dabei macht er die von K. zu Recht kritisierte Voraussetzung, im Bereich von Freundschaft und Familie sei "love of the neighbour ... simply irrelevant" (164). Nun, wer an das ewige Eigenrecht der erotischen Liebe glaubt, wird Phillips augenzwinkernd zustimmen und gerne in Kauf nehmen, dass bei ihm auf eine redliche Auslegung des Textes (vgl. Søltoft, Ferreira u. a.) leichtfüßig verzichtet werden kann. Wer K. schon durch die Augen seiner Kritiker verstanden weiß, muss ihn nicht mehr lesen.

Trotz der höchst unterschiedlichen Qualität der Beiträge - bei denen die US-amerikanischen von Kangas und Ferreira herausragen - liegt insgesamt ein schönes, sorgfältig ediertes Bändchen (sogar mit Begriffsregister) vor, das eine wichtige Ergänzung zum KSYB 1998 (de Gruyter, hrsg. von Cappelørn/Deuser) darstellt.