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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

673–676

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Buber, Martin

Titel/Untertitel:

Werkausgabe. Bd. 1: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891-1924. Bearb., eingeleitet u. kommentiert von M. Treml.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001. 396 S. gr.8. Geb. Euro 84,00. ISBN 3-579-02675-5.

Rezensent:

Martin Leiner

Mit dem zu besprechenden Band startet ein neues großes und wegen des behandelten Autors auch bedeutendes editorisches Projekt: die Martin-Buber-Werkausgabe (MBW). Deshalb zunächst einige Bemerkungen zur Werkausgabe, die in israelisch-deutscher Zusammenarbeit im gemeinsamen Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Israel Academy of Sciences and Humanities entsteht. Als Herausgeber fungieren Paul Mendes Flohr in Jerusalem und - nach dem schmerzlich frühen Tod von Willy Schottroff - Peter Schäfer in Berlin. Geplant sind 23 Bände, die thematisch geordnet sind. Kulturkritische, philosophische (Bd. 1), religionstheoretische (Bd 2.1: Zu Mythos und Mystik) und jüdische Schriften (Bd. 3) aus den frühen Jahren werden gesondert behandelt. Band 2.2. enthält die Schriften zur chinesischen Philosophie und Literatur. Ansonsten folgt die Ausgabe den Themen Bubers: Schriften zum dialogischen Prinzip (Bd. 4 und 5), zu Sprachphilosophie, Literatur und Kunst (Bd. 6; 7.1. und 7.2.), Schriften zur Pädagogik (Bd. 8), zu Psychologie und Sozialphilosophie (Bde. 10 und 11). Weitere religionsphilosophische Arbeiten enthalten die Bände 9 und 12 bis 20 (darunter vier Bände zum Chassidismus); Bd. 20 und 21 schließen mit Arbeiten zum Judentum, zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage. Die neue Ausgabe wird für die wissenschaftliche Arbeit sowohl die dreibändige Ausgabe der Werke (München 1962) als auch viele Einzelausgaben ersetzen, mit denen bisher gearbeitet wird. Verständlich ist, dass im Editionsprojekt die bereits leicht zugängliche Bibelübersetzung von Buber und Rosenzweig und die vielen, zum Teil sehr interessanten Briefe, an denen noch viel Editionsarbeit zu leisten ist, nicht aufgenommen sind. Immerhin kann man auf die dreibändige Ausgabe von Grete Schaeder zurückgreifen.

Die Bedeutung der MBW dürfte vor allem darin liegen, dass hier, anders als in der dreibändigen Werkausgabe, Buber selbst keinen Einfluss auf die auszuwählenden Texte hatte. Bubers eigenes Urteil, welche Schriften er für die Zukunft weitergeben wollte, hatte nämlich dazu geführt, dass viele vordialogische Texte nicht in die Werkausgabe aufgenommen wurden und darum heute fast in Vergessenheit geraten sind. Ebenso hatte Buber die Angewohnheit, seine Schriften für spätere Ausgaben zu überarbeiten, so dass Formulierungen, die ihm nicht mehr treffend erschienen, vom späteren Buber korrigiert wurden. Schließlich werden auch einige bisher nur im Archiv zugängliche Quellen in der MBW veröffentlicht.

Die Herausgeber haben versucht, einen Mittelweg zu gehen zwischen einer Ausgabe für wissenschaftliche Arbeit und einem Text, der auch andere Leser anspricht. Dies ist ihnen im Großen und Ganzen sehr gut gelungen. Es ist ein gut lesbarer Text auf Deutsch entstanden. Was im Original auf Hebräisch steht, wird in Bd. 1 auf Hebräisch zitiert und in deutscher Übersetzung geboten. Ein im Original polnischer Text erscheint in deutscher Übersetzung. Für ein weiteres Publikum erschließt ein Glossar Grundbegriffe des Judentums. Sehr zu begrüßen ist die Kommentierung, die von Buber selbst nicht nachgewiesene Zitate und Anspielungen belegt und die die vielfältigen Veränderungen, die Buber an seinen Schriften im Laufe ihrer Reeditionen vornahm, notiert - eine große Erleichterung für die weitere Forschung. Ein philologischer Editionskommentar der einzelnen Schriften, ein - vielleicht nicht in jedem Teilband zu wiederholendes - ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie auch Personen- und Sachregister runden den Band ab.

Bd. 1, frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891-1924, beginnt mit einer fast 80 Seiten langen Einleitung. Ihr Verfasser, Martin Treml, der Bearbeiter des 1. Bandes, bekundet seine Absicht, Buber "allen Idealisierungen zu entwinden" (19) und auch seine "dunklen Seiten" (17) aufzuzeigen. Außerdem spricht er sich für eine stärkere Betonung der jüdischen Absichten in Bubers Werk aus: "Jene enge und im Zeichen des Christentums stehende Rezeption Bubers brachte sein Denken um seinen vollen Gehalt." (17) Beide Tendenzen sind forschungsgeschichtlich verständlich und treffen Richtiges; sie führen insgesamt aber auch zu überzogenen Urteilen. Man kann sich zumindest fragen, ob es zutreffend ist, ohne Relativierung von den "eigentlich jüdischen Interessen" (17) Bubers zu reden. Zur Betonung des Jüdischen bei Buber gibt es zumindest Gegenpole: Buber bekennt immer wieder, dass seine Interessen immer eigentlich auf seinen jeweiligen Gesprächspartner gerichtet waren oder dies zumindest sein sollten, und er betont außerdem an für die Interpretation seines Werkes zentraler Stelle, dass ihm im dialogischen Prinzip "etwas im Verhältnis zum Sein" bzw. zur Wirklichkeit im Ganzen aufgegangen sei, das für jeden Menschen Bedeutung beansprucht (vgl. Werke I, 1111 ff.). Ähnliches gilt auch für die "dunklen Seiten" Bubers. Dass Buber in seiner Jugendzeit sich von manchen jüdischen Erscheinungen ironisch distanzierte und etwas als "echt jüdisch" bezeichnete, muss man nicht gleich mit Eliasberg als "üblen jüdischen Antisemitismus" (22) beurteilen. Trotz dieser verständlichen Überakzentuierungen bleibt die Einleitung eine Quelle interessanter biographischer Details. Bubers Kriegsbegeisterung - eine seiner tatsächlich dunklen Seiten - wird genau nachgezeichnet und ihr Entstehen sowie ihre Krise 1916 mit Quellen belegt (73-85). Auch Details zu Bubers Dissertation "Beiträge zur Geschichte des Individuationsproblems" - sie wurde von der Wiener Philosophischen Fakultät nur mit "rite" bewertet (50, Anm. 174), von Franz Rosenzweig aber für so wichtig befunden, dass er Auszüge veröffentlichte - oder seine Rolle im Fortekreis (68- 73) gehen über manches hinaus, was man in den Biographien von Maurice Friedman, Hans Kohn, Gerhard Wehr oder Grete Schaeder lesen kann.

Nun zu den Texten Bubers: Nach den eher biographisch interessanten Dokumenten vor dem Beginn seines Studium (Kosmopolitische Kultur, Zitate von Schiller, Victor Hugo, des polnischen Dichter Mickiewicz), bietet die Ausgabe einen bislang unveröffentlichten Text über Nietzsches Zarathustra, den Paul Mendes-Flor auf die Zeit zwischen 1898 und 1900 datiert und der Bubers Nietzschebegeisterung belegt. In den beigefügten Nietzsche-Aphorismen ruft Buber aus: "Mir ist Nietzsche das Beste, das ein Mensch Einem sein kann: Trost und Lust-Erweckung ... Er hat mich gelehrt, freudig-gross zu sein im Guten wie im Bösen. Höheres habe ich nie gelernt" (115). Der nächste Text weist auf die Vorgeschichte der Entdeckung des dialogischen Prinzips hin. In einem auf Polnisch verfassten Bericht über die Wiener Schriftsteller Bahr, Hofmannsthal, Altenberg und Schnitzler stellt Buber die Beschreibung der Icheinsamkeit des Menschen in Hofmannsthals "Der Thor und der Tod" heraus. Buber nennt dieses Gedicht sogar "eine Legende unserer Seele" (124). Dieser Text stützt die Annahme, dass die in der Wiener Literatur dargestellte Seelenlage ein möglicher gemeinsamer Hintergrund ist für die bislang so schwer zu erklärende unabhängige Entdeckung des dialogischen Prinzips bei Ferdinand Ebner und bei Buber. Wie stark Buber allerdings noch zwischen unterschiedlichen Auffassungen schwankte, belegen die folgenden Texte: Die "Betrachtungen zum Erhabenen bei Schopenhauer" zeigen ein Interesse am Gefühl des Unendlichen als Erhabenheitsgefühl (131-147; 134), Nietzschebegeisterung drückt sich wieder aus in dem kurzen Text: "Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte" (149-151). Nietzsche erscheint hier als Verkünder des "werdenden Gottes, an dessen Entwicklung wir mitschaffen können" (151). "Feste des Lebens" (153-155) enthält eine Verteidigung der jüdischen Feste, die nicht aus theologischen Gründen, sondern als Ausdruck der "Volksseele" zu bewahren sind.

In der Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation (157- 159) stellt Buber Kultur als unableitbares Schaffen aus dem Überfluss dar. Zivilisation hat es demgegenüber mit der Erhaltung und Erleichterung des Lebens zu tun. Zu sozialethischen Fragen äußert sich Buber in den nächsten kleinen Beiträgen über die Essays von Ellen Key und Selma Lagerlöfs Wunder des Antichrist (Zwei Bücher nordischer Frauen, 161-168) und zu den Abenteuern des kleinen Walter von Multatuli (169-176). Darauf folgt Bubers Anwort auf den Vorwurf des Plagiats, den ein anonymer übereifriger Anhänger von Constantin Brunner gegen seine ersten drei Reden über das Judentum erhoben hatte.

Die beiden größten und auch philosophisch wichtigsten Arbeiten in diesem Band sind die 1913 erschienene Schrift "Daniel. Gespräch von der Verwirklichung" und dann die ursprünglich als Fortsetzung geplante Schrift "Ereignisse und Begegnungen", die 1917 veröffentlicht wurde. Beide Texte könnten in ihrer Grundkonzeption kaum gegensätzlicher sein. "Daniel" vertritt eine Einheitsmystik, die im Ich die Einheit der Polaritäten und Spannungen des Lebens und auch der Polarität zwischen Leben und Tod verwirklicht. Die Seele ruft das Ich herauf, das "Beständigkeit und Verwandlung in Allgegenwart" (244) verbindet. "Dieses Ich ist das Unbedingte" (245) im Menschen. Die Schrift "Ereignisse und Begegnungen" steht demgegenüber auf dem Weg zu "Ich und Du". Als Vorform der Unterscheidung der Ich-Du und der Ich-Es-Beziehung unterscheidet Buber hier das Gegenübertretende, Gestalthafte, Schenkende in den Dingen von dem Rationalisierbaren, Zerlegbaren (255). Dieser Unterscheidung parallel ist die des Singulären von dem in Kategorien Einzuordnenden (256). Aufgabe des Menschen ist es, die Einheit mit der Welt zu bilden, die aus der Berührung mit dem geliebten Ding entsteht (257). Wegen dieser Einheit kann Buber sein Denken in dieser Zeit sogar noch als Form des Monismus bezeichnen (257). Levinas' Kritik an Buber, dass er statt der radikalen Alterität des Anderen doch eine letzte Einheit denke, deren Paradigma die Liebe sei, findet an dieser Schrift die stärksten Anhalte. "Ereignisse und Begegnungen" endet mit einer Beschreibung des mystischen Erlebnisses des Augenblicks (275 f.): "Die Gegenwart war in mich eingetreten ... und der Unendlichkeit dieses Augenblicks standhaltend, wusste ich nicht, ob sie mich, ob ich sie regierte ... und fühlte den Glockenschlag: Alle Zeit durch mein Herz gehen" (276). Wie Rivka Horwitz gezeigt hat, war Bubers Denken in den Vorlesungen, aus denen "Ich und Du" hervorging und die den Titel "Religion als Gegenwart" trugen, stärker vom Thema der Gegenwart und weniger vom Gedanken des Du bestimmt. Der Schlussabschnitt von "Ereignisse und Begegnungen" belegt, wie massiv Buber sich mystischer Sprache bedienen konnte, um das Erlebnis der Gegenwart darzustellen: "Aber jetzt, jetzt schlägst du mein Fenster ein, jetzt stürzest du dich auf mich, Raubadler, Verhängnis, einbrechende Gewalt des Gleichzeitigen, die Zeite entfliehen vor deinem Sausen, und du wirfst den Erdraum dieses Augenblicks wie einen Feuerbrand an meine Brust" (276).

Gegen Ende des Bandes werden einige kleinere Schriften angeführt, die die Kriegsbegeisterung Bubers belegen. Bei aller expressionistischen Verherrlichung des Kriegserlebnisses, die gelegentlich anklingt, wird deutlich, dass Buber wie viele seiner Zeitgenossen durch den Krieg vor allem die "große Umkehr" (286) in der Kultur erhoffte. Er verstand dies aber privatistisch als "das wahrhafte Leben in und zwischen den Menschen" (286), das mit einer neuen besseren Rechtsordnung nichts zu tun hätte. Unter dem Einfluss Gustav Landauers geriet Bubers Kriegsbegeisterung im Mai 1916 in eine tiefe Krise, die ihn zum Umdenken veranlasste. Dennoch veranlassen die in der MBW veröffentlichten Texte zu einer Revision eines idealisierten Buberbildes. Stilistisch erweckt manches heute Befremden, ja Heiterkeit, so etwa folgende Passage: "Begriffsbebrillter unter Begriffsbebrillten ... reiß die Brille ab, zertritt sie, sieh mit nacktem Aug' das nackte Leben!"(293) Politisch wie religiös-philosophisch war Buber lange Zeit auf der Suche. Er entwickelte sich zu dem, was er in seiner dialogischen Philosophie und in seinen späteren politischen Schriften wurde, im Durchgang durch eine enthusiastische Parteinahme für Positionen, die seinem späteren Denken diametral entgegengesetzt sind. Buber hat diesen Positionen suggestiv Ausdruck verliehen und dann auch ihr Scheitern durchlebt.