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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

671 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Rosenstock, Roland

Titel/Untertitel:

Evangelische Presse im 20. Jahrhundert.

Verlag:

Stuttgart-Zürich: Kreuz Verlag 2002. 569 S. m. Abb. 8 = Christliche Publizistik, 2. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7831-2052-7.

Rezensent:

Claudia Lepp

Die an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität entstandene theologische Dissertation zeichnet die Entwicklung der evangelischen Presse von ihren Anfängen 1891 bis zur medienpolitischen Neuordnung im Jahr 1991 nach. Rosenstock unterscheidet dabei zwischen einer "kirchlichen Presse", die durch kirchenamtliche Herausgeberschaft bestimmt ist, und einer ungebundenen "evangelischen Presse", deren innere und äußere Pressefreiheit durch einen Verband geschützt werden. Er zeigt auf, wie es am Ende des 19. Jh.s und dann vor allem nach 1945 zur Ausprägung einer "freien Publizistik" neben der "kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit" gekommen ist. Als "roter Faden", um die Geschichte der evangelischen Presseverbände, Zeitschriften, Zeitungen und Nachrichtendienste darzustellen, dient ihm die Entwicklung des westfälischen Presseverbandes, von dem aus vor allem nach 1945 eine publizistische Weichenstellung erfolgte.

Neben Recherchen in den Archiven der westdeutschen Presseverbände und ostdeutscher Redaktionen der Kirchengebietszeitungen fußt die Arbeit auf der umfangreichen Akte des württembergischen Juristen Rudolf Weeber und den Beständen des ehemaligen Archivs des Publizistischen Zentrums in Berlin. Der Leser kann dies lediglich der Einleitung entnehmen, da R. auf ein Quellenverzeichnis im Anhang gänzlich verzichtet hat. Dort findet sich hingegen neben einer umfassenden Bibliographie zur evangelischen Presse in Deutschland sowie Kurzbiographien zu allen im Band erwähnten Personen eine Auswahl biographischer Interviews mit Hauptakteuren der evangelischen Publizistik nach 1945.

R. untergliedert die evangelische Pressegeschichte in sechs "idealtypische Entwicklungsschritte", von denen er die beiden ersten zu einem Kapitel zusammenfasst. Für den Weg zur organisatorischen Selbstständigkeit, den er zwischen 1891 und 1918 ansiedelt, markiert R. zwei Ausgangspunkte: die Innere Mission und die Gründergestalt der unabhängigen Presseverbände, Stanislaus Swierczewski, sowie die Tradition liberaler Zeitschriften wie die "Christliche Welt" oder "Die Hilfe". Den zweiten Entwicklungsschritt sieht R. in der zunehmend zentralen Koordination der publizistischen Aktivitäten im "Evangelischen Presseverband für Deutschland" (EPD), dessen Leiter August H. Hinderer von 1918 bis 1933 kulturpolitische Absichten verfolgte. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Pressepolitik auf die evangelische Presse prägen den dritten Entwicklungsschritt. In diesem Kapitel wird auch die umstrittene Rolle der Presseverbände im "Kirchenkampf" beleuchtet. Erst im Sommer 2002 deckte der Evangelische Pressedienst (epd) auf, dass es sich bei der lange tradierten Behauptung, der epd sei im Jahr 1937 verboten worden, um eine "Legende" handelte. R. hat die Rechercheergebnisse des epd in seine Arbeit aufgenommen und sie in das historische Umfeld eingeordnet.

Die Entwicklungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit bilden einen Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit. Für den Münchener Theologen ist diese Phase durch eine Tendenz zur Verkirchlichung - die übrigens den gesamten Verbandsprotestan- tismus betraf - und der Lizenzbindung der evangelischen Printpublizistik an kirchenleitende Persönlichkeiten gekennzeichnet. Detailliert zeichnet er die medienpolitischen Interessen der Bischöfe Otto Dibelius ("Die Kirche") und Hanns Lilje ("Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt") sowie Eugen Gerstenmaiers, Leiter des Evangelischen Hilfswerkes, ("Christ und Welt") nach. Anhand des "Falles Schwarz" wirft er einen Blick auf die Auseinandersetzungen zwischen der Kirchenkanzlei der EKD und dem epd. Er würdigt die Rolle von Focko Lüpsen - des Erfinders der Legende! - als Begründer des Evangelischen Pressedienstes und beschreibt die Gründung des Gemeinschaftswerkes der evangelischen Presse 1952 als einen publizistischen Neuanfang, der sich indes nur in Westdeutschland realisieren ließ.

R. berücksichtigt in seiner Arbeit aber auch die Entwicklung der evangelischen Publizistik in der DDR einschließlich der Gründung so genannter "progressiver Zeitschriften". Die Gründung der Berliner Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Publizistik kennzeichnet er als einen Versuch, die evangelischen Kirchen in den beiden deutschen Staaten zu verklammern. Im letzten Kapitel der Dissertation wird vor allem das konfessionsspezifische Profil des evangelischen Pressewesens herausgearbeitet. Der Leser erfährt, warum es in den Jahren von 1968 bis 1991 kein einheitliches Führungsblatt des deutschen Protestantismus geben konnte. Darüber hinaus wird die Bedeutung des Gemeinschaftswerkes der evangelischen Publizistik als eigenständiges Werk der EKD herausgestellt und die Rolle der Kirchenzeitungen in der DDR während der Vorwendezeit beleuchtet und dabei etwas überschätzt.

R.s Arbeit bietet ihren Lesern sowohl einen Überblick über als auch tiefere Einblicke in die Geschichte der protestantischen Presse und vor allem ihrer Leitfiguren. Für die Forschung gibt sie vielfache Anregungen, auf diesem Gebiet weiterzuarbeiten. Hierbei wäre insbesondere die konfessionell vergleichende Perspektive von großem Interesse.