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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

668–671

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Palm, Dirk

Titel/Untertitel:

"Wir sind doch Brüder!" Der evangelische Kirchentag und die deutsche Frage 1949-1961.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 360 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B. Darstellungen, 36. Geb. Euro 49,00. ISBN 3-525-55736-1.

Rezensent:

Friedemann Stengel

Zu Beginn des Hamburger Kirchentages 1953 erschien in den Zeitungen ein eher zufällig geschossenes Foto, das den Handschlag zwischen Kirchentagspräsident Reinhold von Thadden-Trieglaff und Bundeskanzler Adenauer zeigt. Die besondere Brisanz lag darin, dass Adenauer aufrecht stand und von Thadden sich vor dem Kanzler tief verbeugte (179). Dieser Schnappschuss rief Proteste hervor. Für die Regierung der DDR war er Symbol für die westliche Orientierung des Kirchentages und ihre vergeblichen Instrumentalisierungsbemühungen, zugleich für die kirchlich-politische Strömung, die sich eine deutsch-deutsche Verständigung jenseits der Blöcke erhoffte, ein Schlag ins Gesicht ihrer diplomatischen Bemühungen. Für die Bundesregierung geriet die Momentaufnahme zum Ausdruck des politischen Erfolgs, der sich in einem fast absoluten Wahlsieg wenige Wochen später niederschlug. Dieser durchaus missverständliche Vorfall zeigt die vielfältigen Interessenkonflikte miteinander konkurrierender Organisationen, zwischen denen der Kirchentag stand.

Diese Konflikte in ihrer politischen, und zwar nicht nur deutsch-deutschen, sondern auch internationalen Einbettung, und in ihrer innerkirchlichen Vielschichtigkeit zu beschreiben, ist das Anliegen der Arbeit P.s, nicht etwa der Blickwinkel der SED-Kirchenpolitik (19). Die Entscheidung für die "deutsche Frage" als Untersuchungsperspektive zieht dabei naturgemäß die Vernachlässigung anderer kirchlicher und kultureller Entwicklungen nach sich.

Bei der Entstehung des Kirchentages aus der Evangelischen Woche, der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung und der evangelischen Akademiearbeit (25-45) tritt die Person ihres langjährigen Präsidenten und Gründers von Thadden prägend hervor. Seine volksmissionarisch-konservative Orientierung brachte ihn in Gegensätze zur Amtskirche, aber auch zu einem explizit politischen Protestantismus Niemöllerscher Prägung. Nur durch die Integration dieser kirchlichen Richtungen ließ sich gegen anfängliche Widerstände eine Organisation neben den Organen der EKD konstituieren. Hier scheint bereits der methodische Zugriff auf, den P. anwendet, um die Gemengelage der verschiedenen Interessen in den Griff zu bekommen: Neben dem "volksmissionarischen" Konzept von Thaddens werden ein aus der Akademiearbeit stammender "akademisch-problemorientierter" und ein "politisch-symbolhafte[r]" Ansatz gesehen. Diese Konzepte sind eine idealtypische Hilfskonstruktion, sie gehen auch ineinander über, erleichtern aber die Analyse der innerkirchlichen Richtungen, die bei der Gestaltung des Kirchentages wirkten (15).

Fraglich allerdings ist die These, die "deutsche Frage" sei dem Kirchentag von außen aufgedrängt worden (306). Eine gesamtdeutsche Veranstaltung diesen Ausmaßes - die Schlusskundgebung etwa in Leipzig besuchten 1954 mehr als 500.000 Menschen - musste diesen Zug naturgemäß tragen. Schon die Evangelischen Wochen wurden von der NS-Politik als Demonstrationen eines politischen Protestantismus "gebrandmarkt" (38), und auch für die SED war ein unabhängiger und öffentlicher Protestantismus immer auch politisch.

Dies zeigte sich erstmals in Berlin 1951 so gewaltig, dass der hannoversche Landesbischof Hanns Lilje im Kirchentag gar den derzeit einzigen Repräsentanten der deutschen Einheit erblickte (139). Die Kirchentage der beiden Vorjahre in Essen und Hannover hatten demgegenüber noch ein stärker westdeutsches Gepräge gehabt. Doch schon hier stand die auf eine gesamtdeutsche Neutralität und gegen Adenauers Westintegration gerichtete Position Niemöllers, Heinemanns und anderer neben einer allerdings auf die bundesdeutsche Situation bezogenen "akademisch-problemorientierten" Intention. Die Folge der gesamtdeutschen, aber bis auf wenige Ausnahmen eindeutig DDR-ablehnenden Position des Berliner Kirchentages war ein nunmehr wiederum "westlicher", die "östliche" Problematik nahezu ignorierender und in seiner Absicht deeskalierender Kirchentag 1952 in Stuttgart, den DDR-Bürger (bis auf 35! Ausnahmen) nicht besuchen durften, weil die SED die Ausreise nicht genehmigte (147). Natürlich ist bei diesem Vorgang auch die Verschärfung des "Kirchenkampfes" in Rechnung zu stellen, der im Umfeld des Beschlusses der SED zum Aufbau des Sozialismus im Juli 1952 zu verzeichnen war. Dafür hatte sich in Stuttgart der "Kronberger Kreis" CDU-naher Kirchenmänner unter Mitwirkung von Thaddens prägend hervorgetan (148 f.). In Hamburg setzte sich die konservative und westorientierte Tendenz noch einmal fort - P. macht infolgedessen einen tiefer gewordenen "Spalt" im deutschen Protestantismus aus (189) -, aber 1954 gelang es, mit Leipzig noch einmal einen Tagungsort in der DDR zu ermöglichen. Dieses Vorhaben war vom SED-Staat im Zuge einer taktisch neuen Kirchenpolitik und in der Hoffnung unterstützt worden, die Kirche für seine politischen Ziele einspannen zu können. Obwohl aus politischer Rücksichtnahme und zur kirchenpolitischen Konfliktverhinderung in Leipzig mehr die auch später noch DDR-typischen Untertöne in den nach P.s etwas qualifizierendem Urteil "lahm wirkende[n]" politischen Diskussionen zu hören waren, geriet der Kirchentag zu einer gewaltigen Demonstration der gesamtdeutschen Klammerfunktion der evangelischen Kirche und damit zu einem Fiasko für die SED. Sie hatte den Kirchentag in seiner Instrumentalisierbarkeit völlig falsch eingeschätzt und sah sich nun gezwungen, differenziertere und langfristigere Strategien zur Unterwanderung der Kirchen in der DDR zu entwickeln. Einen Kirchentag auf DDR-Boden hat die SED aber nie wieder erlaubt. Auch der mit fast 2,5 Millionen Mark von bundesdeutscher und US-amerikanischer Seite als Front gegen den Osten finanzierte (222 f.) Frankfurter Kirchentag 1956 konnte nur zu einem weiteren Rückschlag, ja geradezu zu einer Blamage für die SED werden.

Die - eher zufällige - Brüskierung des stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR, Otto Nuschke, und des Volkskammerpräsidenten, Johannes Dieckmann (227f.), schuf aber auch ein Zerwürfnis zwischen dem Kirchentagspräsidium und den "Bruderrätlern" (49) um Niemöller, machte Frankfurt nach P.s Urteil zu einer "große[n] Belastung" für den Kirchentag schlechthin und war ein Beleg für den starken Einfluss der Bonner Regierung (241 f.). Irreführend dürfte es allerdings sein, dem Urteil des Ost-CDU-Funktionärs Herbert Trebs zu folgen, Frankfurt habe nicht nur die Protestanten in der West-CDU gestärkt, sondern auch zu einem deutlich stärkeren Engagement von Ost-Pfarrern im Sinne der DDR geführt (243 f.). Während die Verhandlungen über einen Kirchentag in Thüringen 1957 an unerfüllbaren Forderungen der SED scheiterten, das Präsidium wegen der großen finanziellen Unterstützung durch Bonn und Washington unter Druck geriet und sich die kirchenpolitische Lage in der DDR zum Ende der fünfziger Jahre wieder verschärfte, kam es bei Kirchentagskongressen und -treffen in Berlin 1957 und Hamburg 1958 zu einer weiteren Wegorientierung von den Problemen des Ostens, zu einer stärkeren Hinwendung zur westlichen Parteiendemokratie (259-267) und zu einer weiteren Akademisierung. Die "gesamtdeutsche Klammerfunktion" des Kirchentages war im Grunde seit 1957 nicht mehr erfüllbar (257) - eine dem politischen Raum äquivalente Entwicklung, seit eine schnelle Wiedervereinigung nicht mehr realisierbar schien.

Dies zeigte sich auch in München 1959 mit nur 1.000 Teilnehmern aus der DDR und fast ohne gesamtdeutsche Akzente (275-278). Breit dargestellt wird die kontroverse Vorgeschichte des letzten grenzübergreifenden Kirchentages 1961 wenige Wochen vor dem Mauerbau in Berlin (278- 292). Durch die große Beteiligung von Christen aus der DDR besaß er noch einmal einen gesamtdeutschen Charakter, auch wenn die innerkirchliche Selbstzensur versucht hatte, freie Diskussionen und politisch interpretierbare Töne zu verhindern. Ob ihm mit P. deshalb abgesprochen werden kann, "eine Veranstaltung mündiger Laien" gewesen zu sein (299), sei dahingestellt. Der Mauerbau beendete die deutsch-deutsche Klammerfunktion auch organisatorisch.

Das große Verdienst von P.s Arbeit liegt in dem weiten Fokus, der auf die politischen, theologischen und kirchlichen Interessenlagen gerichtet wird und der die Rahmenbedingungen des Kalten Krieges umsichtig einschließt. Dies geschieht auf einer breiten Quellenbasis aus Archivalien verschiedener Provenienz. Allerdings ist es auffällig, dass einerseits die US-amerikanischen Quellen kaum etwas hergeben, andererseits aber auf die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gänzlich verzichtet und dieser Verzicht nicht einmal begründet wird, obwohl der Einfluss des MfS an mehreren Stellen Erwähnung findet. Leider ist dies kein Einzelfall in der (kirchlichen) Zeitgeschichtsforschung. Meint man etwa, einem "Missbrauch" der Stasi-Akten dadurch zu entgehen, dass man sie einfach ignoriert? Gerade der Leipziger Kirchentag ist von der Staatssicherheit aufmerksam "begleitet" worden.

Eine große Zahl von Sachakten und Akten Inoffizieller Mitarbeiter des Leipziger Bezirks-MfS ist erhalten geblieben. Instruktive und relevante Auskünfte hätten hier eingeholt werden können. Schließlich hat der Leipziger Kirchentag zu erheblichen Impulsen für die weitere Kirchenpolitik der SED und in der Nacharbeit zur Gründung speziell mit den Kirchen befasster MfS-Abteilungen geführt. Die auf mehreren Kirchentagen aufgetretenen "fortschrittlichen" Theologen waren meist auch Inoffizielle Mitarbeiter des MfS, wie Gerhard Kehnscherper und Herbert Trebs. Die Nichtberücksichtigung der MfS-Akten ist umso bedauerlicher, als sie zur Zeit der Abfassung der Arbeit noch weitaus zugänglicher waren, als dies heute der Fall ist, und P. durch ihr Weglassen gleichsam "historische Tatsachen" geschaffen hat. Aber auch das Urteil über die Akten der Parteileitung der SED, es sei offenbar nur notiert worden, was "die übergeordneten Stellen hören wollten" (19), trifft gerade für die fünfziger Jahre nicht zu, sondern entspricht Beobachtungen über die Praxis späterer Jahre. Beklagte Lücken im SED-Material- das haben andere Arbeiten gezeigt - hätten im Übrigen durch die Sichtung der MfS-Archivalien gefüllt werden können.

Nur gestreift werden Kontext und Bedeutung der ebenfalls unter großer Beteiligung abgehaltenen Katholikentage für den evangelischen Kirchentag. Bei der Schilderung der kirchlichen Strömungen, die an der Gestaltung und Vorbereitung der Kirchentage beteiligt waren, fällt die tendenziöse Kritik gegenüber den Vertretern eines "Dritten Weges" um Niemöller und Heinemanns GDVP oder auch dem Bevollmächtigten der EKD Heinrich Grüber auf, die sich gegen die Bindung an Adenauers CDU wehrten und die Vermittlung mit der DDR suchten. Ihre Politik wird gelegentlich polemisch abqualifiziert, wobei gerade im Falle Grübers manchmal der merkwürdige Eindruck vermittelt zu werden scheint, er habe die Seiten gewechselt (220. 238.249 u. ö.).

Dessen ungeachtet hat P. einen wichtigen Forschungsbeitrag zur Rolle der Kirchen im geteilten Deutschland vorgelegt.