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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

663 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Grosse, Heinrich, Otte, Hans, u. Joachim Perels [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Neubeginn nach der NS-Herrschaft? Die hannoversche Landeskirche nach 1945.

Verlag:

Hannover: Lutherisches Verlagshaus 2002. 263 S. 8. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-7859-0864-4.

Rezensent:

Hartmut Ludwig

Mit dem vorliegenden Band setzen die Herausgeber die kritische Auseinandersetzung mit dem Weg der hannoverschen Landeskirche fort, den sie 1996 für die NS-Zeit mit dem Werk "Bewahren ohne Bekennen?" eröffneten. Acht Autoren untersuchen in zwölf Beiträgen nicht nur die Frage, ob es in der Landeskirche nach 1945 überhaupt einen Neubeginn gab, sondern auch, wer mit welchen Konzeptionen erneut Einfluss auf die EKD nahm. Die Kontroversen um die kirchenpolitische Rolle von Landesbischof August Marahrens in der NS-Zeit führten dazu, dass das Wirken anderer kirchenleitender Männer der Landeskirche bisher kaum erforscht wurde (201). Deshalb befassen sich mehrere Studien des Bandes mit dem neuen Führungsduo Hanns Lilje und Heinz Brunotte, das die Landeskirche aus der Isolation herausführte, in die sie Marahrens durch die Weigerung zurückzutreten manövriert hatte (47.110 u. ö.).

Hans Otte beschreibt die Geschichte der Landeskirche nach 1945 unter dem Titel "Kontinuität, Bruch und Aufbruch" (11-48). Zutreffender hätte er formulieren müssen: Aufbruch ohne Bruch. Das kirchliche Führerprinzip wurde nach 1945 nicht abgebaut, sondern verstärkt. Indem Marahrens faktisch alle Leitungsämter übernahm, war jede Kritik an ihm bereits im Vorfeld zum Scheitern verurteilt. Das erfuhr besonders die Hannoversche Pfarrbruderschaft. Gerhard Lindemann belegt an vier Texten, wie sie den Bruch mit der Vergangenheit und einen Neubeginn forderte, jedoch ohne Gehör blieb (61-84). Im Gegenteil: Auf Götz Harbsmeiers Text "Niemand kann zwei Herren dienen!" erwiderte Paul Fleisch: Kritik dürfe aus Anstand nicht öffentlich gemacht werden. Und Hermann Ubbelohde drohte gar ein Disziplinarverfahren, weil er die Forderung nach baldigem Rücktritt von Marahrens in der sozialdemokratischen "Hannoverschen Presse" begrüßt hatte (80).

Für die Mehrheit war Lilje der "ideale Bischofskandidat", weil er sich loyal zu Marahrens verhielt und doch "für den notwendigen Aufbruch und das Neue stand, ohne den Bruch mit der Vergangenheit allzu tief erscheinen zu lassen" (48). Ein weit kritischeres Bild von Marahrens und Lilje als Otte zeichnet Joachim Perels (49-60.235-257). An vier Beispielen für Marahrens falsche Nähe zum NS-Staat belegt er, dass die institutionelle Kontinuität "die Tendenz einer Schuld- und Erkenntnisabwehr" (60) bis in die Gegenwart förderte. Lilje, 1947 zum Landesbischof gewählt, habe bereits 1949 gefordert, "mit der Klärung der Vergangenheit" Schluss zu machen und "allen, die redlichen Willens sind, eine Chance [zu] geben" (244). Axel Wunderlich (85-103) weist daraufhin, dass Lilje bereits 1948 in einem "Offenen Brief" für eine "positive Entnazifizierung" eintrat. Statt der "negativen" Entnazifizierungsverfahren forderte er für die "geistigen Opfer oder Mitläufer des Nationalsozialismus [...] eine ausreichende Möglichkeit zur politischen Bewährung". In Wunderlichs Beitrag "Hanns Lilje und der Umgang mit NS-Verbrechern" (187-199) wird das an zwei Fallbeispielen weiter vertieft.

An diesem Kurs hatte auch Brunotte erheblichen Anteil, der wegen seiner staatsnahen Rolle in der NS-Zeit 1946 aus der Kanzlei der DEK in die Landeskirche zurückkehrte. Heinrich Grosse zeigt, wie Brunotte in Denkschriften die Geschichte umschrieb und erfolgreich die Rechtskontinuität zwischen DEK und EKD durchsetzte (201-219). Brunotte steht auch dafür, dass am Ende der schweren Konfessionskämpfe 1947/48 die VELKD in der EKD integriert blieb. Mit Lilje rettete er damit die "evangelische Einheit", meint Christian Simon (105-127). Der Preis dafür war, dass Lilje 1949 statt Martin Niemöller stellvertretender Vorsitzender des Rates der EKD und Brunotte Präsident der Kanzlei der EKD und des Lutherischen Kirchenamtes wurde (123 ff.).

Weitere Problemstudien legen Otte über den Aufbau des Evangelischen Hilfswerks (129-152) und Simon über die Schulpolitik der hannoverschen Landeskirche (153-167) vor. Beide belegen, wie Lilje/Brunotte den defensiven Kurs ihrer Vorgänger korrigierten. Simone Schad analysiert "Das Geschichtsbild des Sonntagsblattes", das Lilje seit 1. Februar 1948 herausgab (169-186). Nach allem, was wir bisher erfuhren, verwundert es nicht, dass 1948-1953 nur in drei Texten die Rolle der evangelischen Kirche während der NS-Zeit angedeutet wurde (183). Heike Köhler schreibt über Meta Eyl, seit 1934 Vorsitzende des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes (221-234). Obwohl auch sie 1945 für den Aufbruch ohne Bruch plädierte, wurde sie 1947 aus ihrem Amt entlassen, da sie, "in nationalprotestantischen Traditionalismen steckengeblieben" sei.

Korrigenda: Zu S. 198 f.: Mit dem Darmstädter Wort des Bruderrates der EKD vom 8.8.1947 setzte sich 1948 kritisch der Theologische Konvent der Bekenntnisgemeinschaft auseinander (Memorandum Th. Hoppes: LKA Hannover E 6, Nr. 257). Daraus entstand das Wort "Kirche und Politik" (ELKZ 1950, 330 f.). - Zu S. 252 Anm. 62: Die "Theologisch-ethische Besinnung" zum Krieg verfasste Peter Brunner, nicht Hans Joachim Iwand. - Zu S. 255: Als politisch verantwortungslos bezeichnete Lilje die Formulierung aus der Anfrage der Kirchlichen Bruderschaften an die Synode der EKD vom März 1958, nicht 1957.