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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

658–660

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Loetz, Francisca

Titel/Untertitel:

B>Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 576 S. m. 4 Abb. u. 12 Tab. gr.8 = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 177. Lw. Euro 64,00. ISBN 3-525-35173-9.

Rezensent:

Peter Opitz

Bereits im Untertitel ist die forschungsgeschichtliche Einordnung der Arbeit angedeutet; sie wird in einem ersten Teil (15- 111) im Blick auf die gegenwärtige kulturgeschichtliche Diskussion präzisiert. Ute Daniels "Bedeutungs"-Konzept, ergänzt durch Einsichten Dinges' und Scribners, bilden den hermeneutischen Rahmen zur Interpretation "religiöser" Äußerungen: Religion soll nicht als "strukturell" (durch "Kirche" und "Theologie") determinierte Größe verstanden werden, sondern "als eine sich wandelnde Menge von Handlungsentscheidungen unter den Bedingungen bestehender Normen" (71). Zur angemessenen Erfassung "blasphemischer" Verbalhandlungen, welche die Untersuchungsbasis bilden, bietet sich dabei, im Anschluss an die in mancherlei Hinsicht Vorbild gebende Arbeit Schwerhoffs zur Blasphemie (Gott und die Welt herausfordern, Habilitationsmanuskript Bielefeld 1996), die Sprechakttheorie an (73-82).

Im zweiten, zentralen Teil (113-484) geht es zunächst um die "Sanktionierung der Gotteslästerung" (113-261): Als Normsetzungen wird vor allem auf Zwingli und Bullinger rekurriert (die Angabe der Quelleneditionen [88] enthält leider zahlreiche Unrichtigkeiten). Diese befassen sich allerdings, so das Resultat, auf Grund ihres "existenziellen" Sündenbegriffs, kaum mit dem traditionellen Delikt der Blasphemie als verbaler Verfehlung, geht es ihnen doch nicht um quantitative Abwägungen von Sünden, sondern um "die restitutive Aussöhnung des Sünders mit Gott" (124-141; hier 136). Insofern leuchtet die Behauptung, Zwingli und Bullinger hätten "die Haltung der Zürcher Kirche gegenüber der Blasphemie für die gesamte Frühe Neuzeit nachhaltig geprägt" (88), nicht unbedingt ein, wird doch im Weiteren gezeigt, dass "die kirchlichen Gutachter die theologischen Grundsätze Zwinglis und Bullingers nicht um[setzten]" (533), ja ein "offener Widerspruch zwischen den theologischen Konzeptionen Zwinglis und Bullingers zum einen und der Moralisierungspraxis der Kirche zum anderen" (533) zu konstatieren ist. Auf die Kontinuität von Zürichs Umgang mit der Delinquenz der Gotteslästerung zur mittelalterliche Praxis wird zwar hingewiesen (547), den dort in der Tat zahlreich anzutreffenden Quellen und ihrer Bedeutung wird aber nicht weiter nachgegangen. Hauptgrundlage für die Untersuchung der obrigkeitlichen Anwendung der Normen (142-261) bilden eine Auslese von Urteilen des Zürcher Rats aus dem Zeitraum zwischen 1501 und 1747 (!), die als "aussagekräftig eingeschätzt" wurden (182), und eine Stichprobe aus den "Kundschaften und Nachgängen" (92-111.177-182).

Dass Gotteslästerung durch den "gesellschaftlichen Handlungskontext" (262-366) konstitutiv bestimmt ist, wird besonders herausgestrichen. In einer vollständig vom "Religiösen" durchdrungenen Gesellschaft trägt nicht nur das "Prophane" "sakrale" Züge, die Referenz auf "Sakrales" in Sprachhandlungen dient umgekehrt nicht selten auch durchaus weltlichen Intentionen und offenbart damit etwas über dabei vorausgesetzte kulturelle Normen. Im Blick auf die Disziplinierungsdebatte sieht die Vfn. insgesamt die von H. R. Schmidt hervorgehobene Bedeutung der "gemeindliche[n] Selbstregulierung" (54 f.521. 539) bestätigt: Ohne die Etatismusthese einer "vertikalen" Sozialdisziplinierung vollständig zu verwerfen, gibt gerade die Gotteslästerungsproblematik deutliche Hinweise auf die diese an Gewicht übertreffende "horizontale" "Sozialdisziplinierung" (537-541). Von hier aus ergibt sich die Kritik der Vfn. an Ansätzen, welche die Grundkräfte der Frühen Neuzeit in Akkulturations- und Zivilisierungsvorgängen bzw. -maßnahmen lokalisieren, von selbst (539 f.).

Der dritte Abschnitt des zweiten Teils nimmt die Gotteslästerung als Ausdruck des Un/Glaubens in den Blick (367-483). Hier werden einzelne z. T. schon bekannte, aber ausführlicher dokumentierte Fälle präsentiert und interpretiert. Weniger die Befindlichkeit einer ganzen Gesellschaft als die breite Palette der (devianten) religiösen Möglichkeiten werden hier dargestellt, vom religiösen "Disputieren" über lebenspraktische Zugänge zu theologischen "Paradoxien" bis hin zu frühneuzeitlichen Formen von "Atheismus" (458). Nicht nur bewusste Rezeption reformiert-christlicher Lehre, auch Beispiele von deren eigener (unorthodoxer) Verarbeitung lassen sich hier beibringen (546). Eine etwas präzisere Darstellung der "Grundanschauung des Christentums" (420; vgl. 442) und der "dogmatischen Themen" des Protestantismus (445) hätte der Interpretation dieser Zürcher Quellen, die teilweise von sehr viel theologischem Wissen zeugen, möglicherweise etwas mehr Tiefenschärfe verliehen (ihr entspräche ein etwas sorgfältigerer Umgang mit Bibelstellen: Jak 15 [130]; Gal 11 [389]; Röm 14,4 [424]).

Vor der im letzten Teil gezogenen Bilanz (523-548) wird in einem dritten Teil (485-522) die Frage nach dem historischen Wandel und nach interkonfessionellen Differenzen gestellt. Ein historischer Wandel lässt sich nicht feststellen, vielmehr bildet erst das Ende des Ancien Regime die entscheidende Zäsur (223). Dem entspricht, dass auch die Unterschiede zum katholischen Ort Luzern wenig signifikant sind (518-521). Die Betonung des Priestertums aller Gläubigen führt in Zürich zu verstärkter "horizontaler" Sozialdisziplinierung, die Betonung der eigenen Bibellektüre gibt Spielraum zu individueller kritischer Distanzierung zur offiziellen kirchlichen Lehre, wobei die Motive unterschiedlich sein können.

Ein Verdienst der facettenreichen Arbeit ist es zweifellos, die Vielfalt der frühneuzeitlichen Wirklichkeitsdeutungen nicht leichtfertig eingeebnet, sondern ausgehalten und in strukturierter Weise präsentiert zu haben. Schon dadurch, dass ihr Anspruch bis zuletzt nicht eindeutig bleibt, lädt sie aber auch zum Gespräch ein: Geht es um einen ergänzenden Beitrag angesichts konzeptioneller Defizite der bisherigen Forschungsansätze (540f.) oder/und um eine Überprüfung bestehender kulturhistorischer Hypothesen auf Grund einer "empirischen" Studie (536-543)? Oder wird gar der Anspruch erhoben, auf Grund der Urteile des Zürcher Rats in Sachen Gotteslästerung eine Kulturgeschichte des Religiösen überhaupt zu entwerfen, wie nicht nur der Untertitel indiziert (vgl. 544.545)? Diese Urteile machen aber "einen verschwindend kleinen Teil an den Gerichtsfällen aus", und deren Angaben zu den religiösen Hintergründen der Gotteslästerer sind zudem "außerordentlich spärlich" (219.177. 373). Die Frage, wie viele Schlösser sich mit der "Blasphemie" als kulturgeschichtlichem "Schlüssel zum Religiösen" (64) öffnen lassen und welche Türen dabei verschlossen bleiben, legt sich auf jeden Fall nahe, und damit auch die Frage, was mit "Kultur" und dem "Religiösen" gemeint ist. Schon auf kulturwissenschaftlicher Ebene stellt sich das Problem: Wird "die Geschichte des Religiösen" geradezu mit der "Geschichte praktizierter religiöser Normen" gleichgesetzt (547), dann wird eine mögliche positive kulturbestimmende Bedeutung als eine sozialen Lebensraum eröffnende, etwa zu Versöhnung und Gemeinschaft motivierende Kraft - immerhin als Zwinglis und Bullingers Intention erkannt (vgl. 135 f.) - bereits methodisch ausgeschlossen. Sie kommt in diesen Quellen naturgemäß nicht in den Blick. Entsprechend kann dann ein in den Quellen begegnender Hinweis auf das Abendmahl nur als Hinweis auf ein "Ritual als Medium sozialer Kontrolle" (437) wahrgenommen werden: "Die Gemeinde als die Gemeinschaft der Heiligen wachte über das gottgefällige Verhalten der Schwestern und Brüder. Mit dem gesetzlich verankerten Herdfall und den Sittengerichten verfügten die Brüder im Herrn über ein Instrument, ihrer bürgerlichen Aufsichtspflicht nachzukommen" (535).

Anregend ist die Studie allemal: für das methodologisch-hermeneutische Gespräch ebenso wie für die Erforschung der kirchlich-juristischen Praxis und des sie tragenden moralischen "common sense" im Zeitalter der "Orthodoxie", in dem sich verschiedene Traditionen und Kräfte überlagern - und reiben.