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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

656–658

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gößner, Andreas

Titel/Untertitel:

Die Studenten an der Universität Wittenberg. Studien zur Kulturgeschichte des studentischen Alltags und zum Stipendienwesen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 299 S. m. Abb. gr.8 = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 9. Geb. Euro 44,00. ISBN 3-374-02075-5.

Rezensent:

Matthias Asche

"Die von der Wittenberger Reformation und der Leucorea ausgehenden Impulse für Studium und Bildung wurden vor allem durch die Studenten, die diese Universität besuchten, verbreitet. Die Absolventen trugen ihr durch die akademische Ausbildung erworbenes Wissen vorwiegend in die protestantischen Territorien und Städte des Reiches und in zahlreiche europäische Länder." Diese Feststellung kann nicht nur zusammenfassend für die von Andreas Gößner untersuchte Universität Wittenberg, sondern generell für alle (protestantischen) Hochschulen getroffen werden. Um so eigentümlicher ist die Tatsache, dass Studenten als deren wesentliche Trägergruppe erst in jüngerer Zeit Thema universitätsgeschichtlicher Forschung geworden sind - jenseits traditioneller institutionen-, wissenschafts- und gelehrtengeschichtlicher Fragestellungen. Bemerkenswert ist auch, dass es zu der in der Frühen Neuzeit unter die frequenzstärksten deutschen Hochschulen gehörenden Wittenberger Universität - abgesehen von punktuellen geographischen Untersuchungen zu ihrem regionalen Einzugsbereich - bislang noch keine systematischen Studien über ihre regionale und soziale Verankerung in Region und Stadt gibt, obwohl sie doch insbesondere im 16. Jh. auf Grund der Wirksamkeit der Reformatoren über eine internationale Ausstrahlung bis nach Nord- und Ostmitteleuropa mit einer Multiplikatorfunktion verfügte.

Die Leipziger Dissertation von G. stellt sozialgeschichtliche Fragen an die Leucorea und behandelt dabei einen klug ausgewählten Untersuchungszeitraum - die Zeitspanne vom Übergang der Hochschule an die albertinischen Wettiner im Gefolge des Schmalkaldischen Krieges (1547) bis zur ersten Zentenarfeier (1602), die mit einem umfangreichen inneruniversitären Reformprozess unter dem Vorzeichen der lutherischen Orthodoxie einherging. Zu diesem Zeitpunkt war der Weg Wittenbergs zu einer humanistisch geprägten, konfessionellen Landesuniversität für Kursachsen bereits abgeschlossen - Etappen, die G. mit der Untersuchung von "Grundmustern des studentischen Alltags" eindrucksvoll rekonstruieren kann. Als Primärquelle dient ihm die Matrikel, die für den Untersuchungszeitraum immerhin über 30.000 Studenten verzeichnet und deren Auswertung die unverzichtbare Voraussetzung für alle weiterführenden Überlegungen ist.

Die Studie beschränkt sich jedoch keineswegs allein auf eine Analyse des Wittenberger Besucherprofils. G. thematisiert besonders das bislang nur wenig von der Forschung beachtete Verhältnis von Universität und Stadt, mithin das nicht immer reibungsfreie Miteinander von den der akademischen Gerichtsbarkeit unterworfenen cives academici zur Stadtbevölkerung. Er kann die zügig fortschreitende obrigkeitliche Regulierung des studentischen Lebens durch Universitätsgesetze, Disziplinarverordnungen und Visitationen aufzeigen, welche auch mit Bemühungen der sächsischen Kurfürsten um die Durchsetzung der reinen lutherischen Landeskonfession korrespondierten. Der lutherische Konfessionalisierungsprozess scheint hier geradezu paradigmatisch stattgefunden zu haben. Explizit thematisiert G. dies allerdings nicht.

Dagegen kann er eine starke soziale Integration der Studenten in die Wittenberger Stadtbevölkerung nachweisen, die sich unter anderem durch die Wohnumstände bei und Konnubien mit Bürgerfamilien ausdrückte. Mit der Benutzung von Quellen aus dem Stadtarchiv und der Stadtkirche Wittenberg sowie von Kirchenbüchern der Stadtpfarrei Wittenberg dokumentiert die Untersuchung eindrücklich, wie ertragreich es gerade für sozial- und alltagsgeschichtliche Fragestellungen ist, über die genuinen Akten des Universitätsarchivs - die edierten Matrikel, das Urkundenbuch der Universität Wittenberg und zeitgenössische akademische Druckwerke - und der parallel entstandenen Landesarchivalien im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden hinaus auch die Akten des jeweiligen Hochschulortes heranzuziehen.

Zweifellos ist das Kapitel über das noch in der bildungsgeschichtlichen Forschung weitgehend vernachlässigte Stipendienwesen der originellste Abschnitt der Untersuchung von G. Zu Recht bezeichnet er die materielle Versorgung der Studenten durch ein ausdifferenziertes Stipendienwesen als "einen wesentlichen Pfeiler lokaler und landesherrlicher Universitätspolitik des 16. Jahrhunderts." Deutlich unterscheidet er zwischen Stipendienstiftungen des Landesherren einerseits, von Privatpersonen in der Stadt, im Territorium und im Ausland andererseits. Sie waren - wie wohl auch an anderen Universitäten - Instrumente einer zunehmend institutionalisierten, obrigkeitlich kontrollierten und stetig erweiterten Nachwuchsförderung zur Reproduktion offenbar noch lange Zeit unterbesetzter Pfarr- und Schulstellen in Kursachsen. Mit der gezielten Untersuchung eines ausgewählten Stipendiatenjahrganges und der bewussten Kontrastierung der Wittenberger mit der Leipziger Praxis der Stipendienvergabe gelingt G. eine differenzierte Beurteilung der beiden kursächsischen Universitäten. Überspitzt lässt sich wohl formulieren, dass Leipzig als die ältere Hochschule mit ihrer Einbindung in das System der Fürstenschulen in höherem Maße den Charakter einer kursächsischen Landesuniversität trug als das erst 1547 an die Albertiner gefallene, zumindest bis zum Ende des 16. Jh.s weit überregional ausstrahlende Wittenberg. Die allmähliche Einschränkung des regionalen Einzugsbereiches der Leucorea, mithin das Fortbleiben von Studenten aus den nord- und ostmitteleuropäischen Ländern erklärt sich jedoch nicht zuletzt aus der zunehmend restriktiver gehandhabten kursächsischen Religionspolitik unter dem Zeichen der lutherischen Orthodoxie, auch wenn es im akademischen Alltag Prüfungserleichterungen für ausländische Studenten bei Examen und Ordinationen gab.

Im abschließenden Kapitel behandelt G. die vielfältigen sozialen Beziehungen der Studenten untereinander. Das spezifische "sozio-kulturelle Milieu" vor Ort wirkte aber auch über die eigentliche Studienzeit hinaus und blieb als Phänomen der "Nachhaltigkeit" des Wittenberger Studiums greifbar. Die lebenslange Verbundenheit zur Leucorea drückte sich etwa durch die bleibenden Kontakte zwischen Wittenberger Professoren und ihren ehemaligen Studenten aus. Diese spezifischen Verhaltensformen finden sich nicht nur in den pädagogischen Vorstellungen Melanchthons, sondern sind freilich auch Ausdrucksformen der sich um 1600 im Zeichen des Späthuma- nismus entfaltenden "res publica litteraria".

G. nähert sich mit seiner Studie dem bislang nur in Ansätzen bekannten und erforschten Problemkreis der "akademischen Wirklichkeit" an, welche nach der konkreten Umsetzung obrigkeitlicher Normen fragt. Seine wichtige, zudem auch erfreulich bündig geschriebene Studie hat Pioniercharakter für weiterführende sozialgeschichtliche Untersuchungen zum deutschen Universitätswesen der Vormoderne.