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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

654–656

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd. 10: Schriften zu Ehe und Eherecht. Bearb. v. St. E. Buckwalter u. H. Schulz unter Mitarbeit v. Th. Wilhelmi.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001. 627 S. gr.8 = Martini Buceri Opera Omnia, I. Deutsche Schriften, 10. Geb. Euro 146,00. ISBN 3-579-04895-3.

Rezensent:

Irene Dingel

Mit Band 10 der Deutschen Schriften Martin Bucers durchbrechen Herausgeber und Bearbeiter die bisherige chronologisch-thematische Editionsabfolge der Reihe, um hier all jene Schriften Bucers zugänglich zu machen, in denen sich der Reformator, auch gemeinsam mit seinen Straßburger Kollegen, explizit zu Problemen von Ehe und Eherecht äußert, soweit diese nicht schon anderweitig durch eine angemessene kritische Edition erschlossen sind. 19 Stücke - überwiegend Gutachten, außerdem eine Heiratsurkunde sowie eine Traupredigt Bucers - aus der Zeitspanne von 1524 bis 1543, welche annähernd die gesamte Straßburger Wirksamkeit des Reformators umfasst, werden hier zusammengebracht. Der Benutzer gewinnt auf diese Weise ein zusammenhängendes Bild von dem Prozess der allmählichen Ablösung der sich etablierenden Reformation von den Autoritäten und Normen des kanonischen Rechts. Dies ist insofern umso interessanter, als mit dem Eherecht und dessen praktischer Anwendung ein Feld tangiert ist, das die Umsetzung reformatorischen Gedankenguts in das alltägliche Leben des Einzelnen und der evangelischen Gemeinden klar vor Augen zu führen vermag. Gleichzeitig wird Einblick in die Entwicklungsabläufe einer "Übergangszeit" gewährt, die gekennzeichnet ist durch die notwendig werdende Schaffung neuer Richtlinien und Institutionen auf dem Hintergrund der von Theologen angeforderten Gutachten und der obrigkeitlichen Einrichtung von Ehegerichten bzw. Konsistorien. Dass der Band rechtzeitig zum Bucerjubiläum 2001 (450. Todesjahr) vorlag und sich nun ein zügiger Publikationsrhythmus für die Bände der Ausgabe einzupendeln scheint, ist im Rückblick auf die bisher vorliegenden, zweifellos allesamt wertvollen Bände, besonders hervorzuheben.

Die edierten Stücke sind vor allem in zweifacher Hinsicht für die reformationshistorische, aber auch rechts- und sozialgeschichtliche Beschäftigung von Interesse: Sie bieten einerseits Einblick in konkrete Problemfälle, die eine Entscheidung rechtlicher Art erforderten, und eröffnen andererseits die theoretische, auf Allgemeingültigkeit neuer Rechtsnormen zielende Perspektive. So steht z. B. die Einsegnung einer zweiten ehelichen Verbindung verlassener Ehepartner, die gegen bestehendes kanonisches Recht und unter Übergehung der zuständigen altgläubigen Ehegerichtsbarkeit reformatorisch begründet und autorisiert wird, ebenso zur Debatte wie die Möglichkeit der Eheschei- dung und anschließenden Wiederheirat oder der Wiederverheiratung nach Ehebruch. Diskutiert werden darüber hinaus die zur Ehe verbotenen bzw. erlaubten Verwandtschaftsgrade und die Scheidung von einem durch Krankheit eheunfähig gewordenen Partner, wobei neben allem Insistieren Bucers auf der Wahrung des Gemeinwohls in gelegentlicher Verobjektivierung des Einzelfalls dennoch die seelsorgerliche Komponente nicht ausgespart wird oder gar zu kurz kommt. Außerdem wird die nach kanonischem Recht garantierte Gültigkeit von heimlichen Ehen bzw. Eheversprechen, deren sozusagen inflationäres Auftreten große Probleme nach sich ziehen konnte, strikt abgelehnt und durch die geforderte Notwendigkeit der elterlichen Zustimmung eingeschränkt. Bucer und seine Straßburger Kollegen hatten bei ihren Stellungnahmen aber nicht nur konkrete Fälle zu lösen, sondern auch auf Anfragen von außerhalb zu reagieren. Gutachten für den Berner, Augsburger und vor allem für den Ulmer Rat stellen Meilensteine in der allmählichen Herausbildung eines evangelischen Eherechts dar. Das für Letzteren erstellte umfangreiche Gutachten "Von der Ehe und Ehescheidung aus göttlichem und kaiserlichem Recht" (Nr. 12) ist in dieser Hinsicht wegweisend. Durch seine Verbreitung in dem Eherechtskompendium des Mansfelder Superintendenten Erasmus Sarcerius, der es unter Verzicht auf die Nennung des Autors und mit kritischen Kommentaren versehen abdruckte, erreichte es eine weit tragende Bedeutung, freilich hindurchgegangen durch den Filter der eigenen Stellungnahme.

Die als Beilagen zu Nr. 12 abgedruckten "Kritischen Ergänzungen des Erasmus Sarcerius" bieten denn auch für die rezeptionsgeschichtliche Perspektive auf die Reformation aussagekräftiges Material. Aber die Rezeption durch die späteren konfessionellen Gegner zeigt auch, dass das Gutachten schon in den Augen der Zeitgenossen als Dokument für den Abschluss des reformatorischen Normenwechsels galt und herausragende Bedeutung erlangt hatte. Als Richtschnur für die Behandlung von Eherechtsfragen werden - seit langem in früheren gutachterlichen Stellungnahmen und Äußerungen vorbereitet - die Bibel zusammen mit dem römischen Recht herangezogen, welches, auf Grund seiner Prägung durch den christlichen Kaiser Justinian, als mit der Heiligen Schrift übereinstimmend gewertet wird. Die auf diesem Hintergrund vollzogene kompromisslose Zurückweisung der Geltung des päpstlichen, kanonischen Rechts wird begleitet von der - ebenfalls bereits früher geäußerten - reformatorischen Definition der Ehe als geheiligtem Stand mit gesellschaftstragender Bedeutung. Denn die Ehe wird von Bucer nicht nur als von Anfang an in Gottes Schöpfungsordnung angelegt gesehen, sondern in ihr sollen jene Strukturen und Bezüge im Kleinen eingeübt werden, die letzten Endes generell für den Bestand einer christlichen Gesellschaft als unabdingbar galten: ein Leben im Bewusstsein des ständigen Angewiesenseins auf die Gnade Gottes und der Dienst am Nächsten. Bucer kann deshalb die Ehe in seiner Traupredigt für den Frankfurter Stadtadvokaten Hieronymus zum Lamb und Margarete Silberborn als eine "Schule und Werkstatt des Glaubens" (Nr. 19) bezeichnen.

Interessant ist der vorliegende Band nicht zuletzt durch Bucers Gutachten zur Gültigkeit der Ehe Heinrichs VIII. mit Katharina von Aragon (Nr. 8) und seine gutachterliche Stellungnahme zur Frage der Doppelehe Philipps von Hessen (Nr. 15). Anders als in vergleichbar gelagerten Problemen von ehehinderlichen Verwandtschaftsbeziehungen und Gültigkeit alttestamentlicher Aussagen zu diesen Fragen votierte Bucer im Falle Heinrichs VIII. für die Legitimität von dessen Verbindung und ließ nur indirekt und zur Vermeidung von Unzucht die Möglichkeit einer Doppelehe anklingen. Philipp von Hessen gegenüber zeigte er die gegen eine Doppelehe sprechenden Gründe auf, denen er freilich seelsorgerliche Ratschläge im Falle einer möglicherweise nicht durch andere Lösungen zu vermeidenden und unter bestimmten Bedingungen denkbaren Doppelehe zur Seite stellte. Bekanntlich instrumentalisierte der Landgraf die zurückhaltenden Voten der Theologen, die nicht nur von Bucers Seite, sondern auch von Luther und Melanchthon eingingen, im Sinne längst gefasster Heiratsabsichten und zur Legitimierung seiner bereits im Vorhinein geplanten Eheschließung mit Margarete von der Sale.

Der jetzt vorliegende, auf die Eheproblematik zentrierte, aber im Einzelnen sehr vielfältige Band 10 stellt zweifellos eine Bereicherung der Bucer-Edition dar. Die Einleitungen erläutern nicht nur die jeweilige historische Einbettung der einzelnen Stücke, sondern referieren auch den Inhalt in gebotener Kürze und geben Informationen zur Wirkungsgeschichte eines Textes. Der Benutzer wird auf diese Weise gezielt zu den Quellen hingeführt, deren Lektüre durch eine solide textkritische Arbeit und knappe sachliche, auf neueste Forschungsergebnisse zurückgreifende Kommentierung erleichtert wird. Dies ermöglicht dem Benutzer ein rasches Vertrautwerden mit der vielschichtigen Problematik des Eherechts, ohne dass die eigenständige Überprüfung von Fakten und in der Literatur gebotenen Deutungen unzulässig eingeschränkt oder gegängelt wird. Beeindruckend ist im Übrigen die Fülle der Personen, die zum Gelingen der Edition beigetragen haben. Ob ein Vorwort tatsächlich überwiegend zu deren - freilich für die Genannten durchaus ehrenvollen - namentlichen Auflistung dienen sollte, wäre m. E. kritisch zu überdenken. Aber dies fällt angesichts der erfreulichen Fortführung einer nicht nur für die historischen Wissenschaften im engeren Sinne, sondern für jede kulturwissenschaftliche Beschäftigung wichtige Edition kaum ins Gewicht, deren folgende Bände man mit Spannung erwartet.