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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

647–649

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kieling, Michal

Titel/Untertitel:

Terrena non amare sed coelestia. Theologie der Welt in Alkuins Commentaria super Ecclesiasten.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2002. XII, 289 S. 8 = Europäische Hochschulschriften. Reihe 23, 732. Kart. Euro 45,50. ISBN 3-631-38017-8.

Rezensent:

Hanns-Christoph Picker

Dünn gesät sind neuere monographische Untersuchungen über Alkuin. Deshalb ist es zu begrüßen, dass sich Michal Kieling in seiner katholisch-theologischen Dissertation eine umfassende Untersuchung von Alkuins Prediger-Kommentar vorgenommen hat.

Unter der Überschrift "Überlieferung, Quellen, Methoden" sammelt K. zunächst allgemeine Bemerkungen zur Geschichte der Bibliotheken und Skriptorien in Tours (5-9), biographische Notizen (9-25) und Hinweise zur Entstehung des Prediger-Kommentars (25-27). Die überzeugende Datierung in die Jahre 801/802 - und damit in die Phase des Rückzugs Alkuins vom Hof Karls des Großen nach Tours - übernimmt K. von Ernst Dümmler (25). Eine Zusammenstellung der Drucke und Handschriften (27-33) - leider ohne Angaben der Provenienz - unterbricht die zeitgeschichtliche Einordnung (27-33). Anschließend werden im Rahmen der Untersuchung des Widmungsbriefes (33-40) die Alkuin-Schüler Wizo und Fridugisus als Adressaten identifiziert - wiederum in Anlehnung an Dümmler. Die Identität des an erster Stelle der Adressaten genannten "sacerdos Onias" bleibt im Dunkeln. Dass auch Erzbischof Arn von Salzburg ein Exemplar des Prediger-Kommentars erhielt, lässt sich bei K. nur indirekt erschließen (38, Anm. 183). Auf die Lebensumstände der Adressaten geht K. kaum ein. So bleibt es bei der trivialen Feststellung, Alkuin hätte seinen Kommentar aus Sorge um die "weltlichen Tätigkeiten" und die "innere Entwicklung" seiner Adressaten verfasst (25), um sie zu einem "positiven Weltverständnis" zu führen (39). Alkuin wird fälschlich als "karolingischer Mönch" bezeichnet (38.218). Der von Karl dem Großen mit enormen Reichtümern ausgestattete Diakon Alkuin hat nie ein monastisches Gelübde abgelegt.

Auf methodisch unsicherer Grundlage steht K.s Vergleich des Alkuin-Kommentars mit seiner Hauptquelle: dem Prediger-Kommentar des Hieronymus. Mangels einer kritischen Edition des Alkuin-Kommentars legt K. die unedierte Handschrift London, British Library, Harley 213, zu Grunde - jedoch ohne dass er diese Entscheidung begründet (45-77). Da die Handschrift zudem nur auszugsweise zitiert wird, lassen sich die Textunterschiede nicht präzise nachvollziehen. K.s generelles Fazit leuchtet trotzdem ein: Alkuin hat "in weiten Teilen von Hieronymus abgeschrieben" - und doch ist sein Kommentar auf Grund der Abweichungen als "eigenständige Leistung" einzuschätzen (44). K. bemerkt, dass Alkuin die spirituelle Auslegung stärker gewichtet als Hieronymus (81) und dessen Überlegungen zum Literalsinn nur teilweise übernimmt (45). Diese Feststellung überrascht nicht. Textkritische und philologische Erwägungen treten bei Alkuin schon deshalb zurück, weil ihm das Instrumentarium des Hieronymus nicht mehr zur Verfügung steht: die Hexapla des Origenes als Textgrundlage sowie solide griechische und hebräische Sprachkenntnisse. Als weitere Besonderheit bemerkt K. Alkuins christologische Auslegungsweise (86- 89). "Unverwechselbar" (86) wird sein Kommentar dadurch jedoch kaum. Schon bei Hieronymus spielen christologische Motive eine zentrale Rolle. Die von K. als Kapitelüberschrift gewählte Wendung "Ecclesiastes noster Christus est" (86) übernimmt Alkuin von Hieronymus (In Ecclesiasten I,1,49, CChr SL 72, 251). Und gelegentlich distanziert sich Alkuin sogar von christologischen Deutungsversuchen der Tradition (MPL 100, Sp. 677AB). Wichtiger sind Differenzen im Detail: Alkuins Drängen auf ethische Verantwortung gegenüber den Armen (55), sexualmoralische Akzente (52.57.60.70) oder die Betonung des Gerichtsgedankens (74).

Abgeschlossen wird der erste Teil mit einem Überblick über die christliche Auslegungsgeschichte des Predigerbuches bis in die Karolingerzeit (90-105). Interessant erscheinen zwei anonyme karolingische Handschriften (99-105), die K. im Anhang seiner Arbeit ediert (240-287). Beide Texte sind sowohl untereinander als auch mit den Kommentaren Alkuins und des Hieronymus verwandt. Leider verzichtet K. auf eine Lokalisierung und genaue Datierung der beiden Handschriften. Offenbar geht er davon aus, dass sie nach Alkuins Kommentar entstanden sind (99). Die genauen überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhänge lässt K. jedoch im Unklaren.

Im zweiten Teil stellt K. die nahe liegende Frage nach dem von Alkuin verwendeten Bibeltext. Denn Alkuin spielt im Zusammenhang der Bibelrevisionen zur Zeit Karls des Großen eine wichtige Rolle (107-121). K. vergleicht in drei Spalten den Bibeltext im Kommentar des Hieronymus, die kritische, römische Edition der Vulgata und den Text in Alkuins Kommentar (125-168). Hieronymus verfasste seinen Prediger-Kommentar, bevor er mit seiner Neuübersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen die Grundlagen der Vulgata legte. So versteht es sich von selbst, dass K. zwischen dem Hieronymus-Kommentar und der Vulgata beträchtliche Differenzen feststellt (169). Dagegen bestehen zwischen Alkuin und dem kritischen Vulgata-Text weitgehende Übereinstimmungen (124). Alkuin löst sich vom Text des Hieronymus-Kommentars. Mit K.s Methode lässt sich allerdings kaum belegen, dass Alkuin in seinem Kommentar bereits seine eigene Vulgata-Revision benutzt oder dass er gleichzeitig auf einen italo-insularen und auf einen spanischen Vulgata-Text zurückgreift (169). Um Alkuins Predigerkommentar für die Textgeschichte der Vulgata fruchtbar zu machen, bedürfte es detaillierter Vergleiche mit den einzelnen relevanten Bibelhandschriften - nicht mit dem rekonstruierten Text einer Edition.

Im dritten Teil sucht K. nach theologischen Grundlinien in Alkuins Prediger-Kommentar und stellt diese in den Zusammenhang anderer Alkuin-Texte. Für den Prediger-Kommentar legt K. den Text der Patrologia Latina zu Grunde. Die im ersten Teil getroffene Entscheidung für die Handschrift London, British Library, Harley 213, wird nicht durchgehalten. Auch die herausgearbeiteten Unterschiede zwischen Alkuin und Hieronymus treten in den Hintergrund; denn K. unterscheidet methodisch nicht konsequent zwischen Alkuins eigenen Formulierungen und Hieronymus-Zitaten. Als erstes theologisches Motiv nennt K. den Gedanken der Nichtigkeit der Welt (171- 186), wobei Alkuin besonders vor dem Streben nach Reichtum warnt und die Vergänglichkeit alles Irdischen betont (177). Leider stellt K. nicht die Frage, wie sich diese Position zu Alkuins exponierter öffentlicher Wirksamkeit und zu seinem persönlichen Reichtum verhält. Zweites Motiv ist die spirituelle Ausrichtung auf die jenseitige Welt (186-199). Als drittes Motiv bestimmt K. den hohen Stellenwert der Buße (200-209). Ob hier - jenseits von Gemeinplätzen - ein besonderes theologisches Profil Alkuins erkennbar werden kann, muss offen bleiben. K.s Arbeit lässt ein solches nur erahnen. Immerhin deutet sich an, dass Alkuin auch als Exeget mehr ist als ein unkritischer Kompilator patristischer Texte.