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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

640–644

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kremendahl, Dieter

Titel/Untertitel:

Die Botschaft der Form. Zum Verhältnis von antiker Epistolographie und Rhetorik im Galaterbrief.

Verlag:

Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. XI, 323 S. gr.8 = Novum Testamentum et Orbis Antiquus, 46. Lw. Euro 61,85. ISBN 3-7278-1296-6 (Universitätsverlag); 3-525-53946-0 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Ingo Broer

Ziel dieser bei W. Harnisch in Marburg erarbeiteten Dissertation ist eine Verbindung von rhetorischer und epistolographischer Methodik am Beispiel des Galaterbriefes, wobei letzterer der Vorrang gebührt. Beide Fragestellungen sollen für die Exegese des Briefes fruchtbar gemacht werden und die Sicherheit der Ergebnisse gerade durch die Konvergenz der Resultate erhöht werden. Kap. 0 gibt einen kurzen Überblick über die Forschungsgeschichte und geht auf methodologische Fragen ein, Kap. 1 behandelt das epistolographische Formular des Galaterbriefs, Kap. 2 seine Gattung. Das sehr umfangreiche Kap. 3 buchstabiert den gesamten Galaterbrief rhetorisch durch. Kap. 4 fasst die Ergebnisse zusammen und gibt einen Ausblick. Ein Textanhang, ein Stellenregister sowie ein Register der epistolographischen und rhetorischen Termini runden das Buch ab.

In einem kurzen Überblick über die neuere Forschung zeigt der Vf., dass eine befriedigende Verhältnisbestimmung rhetorischer und epistolographischer Fragen an die Paulusbriefe bislang nicht gelungen ist. Den Briefcharakter ernst zu nehmen, kann nicht bedeuten, von einem brieflichen Rahmen und einem rhetorischen Mittelteil auszugehen. Die Paulusbriefe weisen trotz der bekannten Vorbehalte des Apostels gegen seine Redekunst (u. a. in 2Kor 11,6 und 1Kor 2,1 ff.) Berührungspunkte mit allen drei damals bekannten Rhetorik-Modellen auf (Sophistik, Platon, Aristoteles). Paulus kann mit der Rhetorik entweder in Tarsus oder auch in Jerusalem bekannt geworden sein - eine Entscheidung für einen frühen oder späten Umzug nach Jerusalem muss mit dieser Frage nicht verbunden werden.

Im 1. Kap. wendet sich der Vf. dem epistolographischen Formular des Paulus und den Besonderheiten des Galaterbriefes auf diesem Hintergrund zu. Außer den bekannten Auslassungen von Danksagung, Besuchsankündigung und Grüßen geht der Vf. auch von einem ursprünglichen Fehlen der abschließenden charis-Formel im Brief des Apostels aus, da Gal 6,18 wegen des "Amen" und des Vokativs "Brüder" - ein solcher Vokativ findet sich in Verbindung mit dem Schlussgruß in den Papyrusbriefen erst an der Wende vom ersten zum zweiten Jh. n. Chr.! - als redaktionelle Zutat eines nachpaulinischen Redaktors anzusehen ist, der den Galaterbrief durch Hinzufügung der Charis-Formel den übrigen paulinischen Briefschlüssen anpassen wollte. Dabei ist der Verzicht auf bestimmte Briefoptionen und das Fehlen eines korrekten Briefabschlusses von unterschiedlichem Gewicht, beides aber stört die Erwartungshaltung der Galater, mit der diese an einen solchen Brief herangehen. Diese Störung ist vom Apostel beabsichtigt, soll sie doch die inhaltliche Aussage des Briefes auch formal absichern. Daraus ergeben sich die folgenden Analyseschritte dieses Kapitels. Der Vf. setzt sich zunächst intensiv mit dem autographischen Schluss auseinander. Dieser unterscheidet sich von anderen autographischen Schlüssen in der antiken Literatur durch Umfang und Inhalt. Letzteres insofern, als 6,11-18 in der Literatur häufig als Zusammenfassung des ganzen Briefes verstanden wird, während in den Papyrusbriefen das Postskript im Briefcorpus gerade bislang Vergessenes nachträgt. Deswegen erinnert Gal 6,11-18 eher an die subscriptio eines Vertrages, die durch Eigenhändigkeit, Namensnennung und Inhaltsrekapitulation gekennzeichnet ist, wovon in Gal 6,11-18 freilich die Namensnennung fehlt. Diesen Mangel der subscriptio versucht der Vf. durch den Nachweis abzumildern, dass Gal 5,2-6 nicht nur parallel zu 6,11-18 aufgebaut ist, sondern ebenfalls die drei Merkmale der subscriptio erfüllt, wenn auch der Hinweis auf die in 5,2 beginnende und erst in 6,11 ausdrücklich erwähnte Eigenhändigkeit in dem úÂ von 5,2 "versteckt" ist. So wird Gal 5,2-6 als erste subscriptio verstanden, die Gal 1,1-5,1 zusammenfasst, und 6,11-15 als zweite subscriptio, die sich im Wesentlichen auf 5,7-6,10 bezieht. Sie ist ein Zitat der ersten subscriptio. Die Verse 6,16- 18 sind dann als Postskript anzusehen. Mit 5,6 hatte der Apostel bereits inhaltlich und formal einen ersten Schlusspunkt erreicht und sein primäres Anliegen zu einem (ersten) Abschluss gebracht, aber Paulus hat diesem ersten Inhalt nun mit 5,7-6,17 noch ein ausführliches, eigenhändiges post scriptum hinzugefügt, da ihm der Brief bei der Durchsicht unvollständig erschien. Solche post scripta finden sich auch in den Papyrusbriefen, Analogien auch bei Cicero und Seneca. Diese können bis zu einem Drittel des Briefumfanges ausmachen. Das dem juristischen Vertrag entnommene Element der subscriptio passt zu einigen weiteren juristischen Formmerkmalen (Schwurformel 1,20; Signalement 6,17; Strafandrohung 1,8 f.; Zitat eines Dokuments 2,7 f.) sowie zur partiellen Dominanz rechtlicher Termini im Galaterbrief, die Paulus freilich theologisch interpretiert. Paulus spielt hier also mit dem Briefformular.

Im brieflichen Rahmen bereiten die Besonderheiten des Präskriptes spätere Briefthemen vor; die das Briefkorpus eröffnende Formel in 1,6 hat zahlreiche Parallelen in den Papyrusbriefen und ist ein deutliches Signal des Briefschreibers für seine Unzufriedenheit mit den Adressaten.

Das Ergebnis der epistolographischen Untersuchung ergibt einen Widerspruch: Der Galaterbrief weist deutlich briefliche Elemente auf, es fehlen aber auch wichtige Elemente des Briefformulars. Neben den eindeutig überwiegenden brieflichen Elementen stehen Bestandteile juristischer Formulare, mit denen der Verfasser möglicherweise spielt, "um so durch äußere Amtlichkeit den Anspruch höherer Verbindlichkeit zu unterstreichen." (114)

Nachdem der Vf. wie auch schon einige andere Autoren vor ihm sich von der jegliche Zuweisung an eine der antiken Briefgattungen sprengenden Paränese als Bestandteil des Briefes insofern verabschiedet hat, als er diese einem post scriptum zugewiesen und damit als für die Gattungsbestimmung unwesent- lich deklariert hat, setzt er sich im 2. Kap. mit den gegen die von Betz vorgetragene These vom Galaterbrief als apologetischem Brief vorgetragenen Argumenten auseinander und entkräftet diese, u. a. indem er sieben Entsprechungen zwischen dem Galaterbrief und dem Muster eines apologetischen Briefes in der Sammlung des Pseudo-Demetrius erhebt, zwei weitere antike Briefe der Gattung des apologetischen Briefes zuweist und Übereinstimmungen (und Differenzen) zwischen ihnen und dem Galaterbrief feststellt. "Wenn wir also im folgenden vom Galaterbrief als Apologie sprechen, dann meinen wir damit nur den ursprünglich konzipierten Brief inklusive der ersten subscriptio (1,1 bis 5,6)." (147) Allerdings ist die forensische Engführung des Briefes durch Betz aufzugeben. Die gelegentlich auf Grund der brieflichen Paränese in der Literatur vertretene Zuweisung des Briefes an das genus deliberativum/symbuleuticum kommt nicht in Frage, weil die antike Rhetorik deutlich zwischen paränetischem und symbuleutischem Brief unterschieden hat.

Das 3., der rhetorischen Disposition gewidmete Kapitel findet die den gesamten Brief motivierende Frage darin: "Hat Paulus den Galatern das wahre Evangelium verkündigt?" Den rhetorischen Status des Briefes bestimmt der Vf. als status translationis: Paulus bestreitet seinen Gegnern die Kompetenz der Anklage und den Galatern die Kompetenz des Urteils; d. h. nicht mehr und nicht weniger, als dass Paulus die Rechtmäßigkeit des Prozesses als solche in Frage stellt. Da aber Paulus sich dann doch auf die Sache einlässt und die Unmittelbarkeit seines Evangeliums zu Gott darlegt, ohne einen status definitionis zu schaffen, erweisen sich die genannten rhetorischen Kategorien als unzureichend.

Im schwierigen Beginn erhebt der Vf. 1,6-12 als exordium, obwohl hinsichtlich der Verse 11 f. "eine kleine Unsicherheit" zurückbleibt. Paulus hebt das konkrete Problem in Galatien sogleich auf eine grundsätzliche Ebene, nämlich die des wahren Evangeliums. Seinen Gegnern unterstellt er eine weltliche Rhetorik, während er selbst mit apostolischer Vollmacht das Evangelium verkündet. Das Leitthema der immer parteiischen narratio (1,13-2,21) ist das Verhältnis des Paulus zu Jerusalem und seinen Autoritäten; 2,7 f. sind freies Zitat aus dem Jerusalemer Schlusskommunique. Die Bezeichnung der Jerusalemer Autoritäten als Säulen drückt "ironische Distanz" aus.

Die 2. Pers. Pl. in 2,5 zeigt an, dass zwischen dem Widerstand des Paulus auf dem Apostelkonzil und dem gegen die gegenwärtige Gefahr in Galatien ein Zusammenhang besteht. Das Gleiche gilt für die Rede an Petrus; auch sie zielt (auch) auf die Galater. 2,14-21 sind innerhalb der Rede an die Galater eine klassisch aufgebaute Rede in der Rede. In 2,17 gilt das me genoito nur dem letzten Halbsatz; 2,17ab besagen nur, dass alle Menschen sich im Christusgeschehen als Sünder erweisen. Übergeordneter Leitgedanke der argumentatio (3,1-5,1), die ebenso wie eine eigene Rede aufgebaut ist, ist die paulinische Selbstthematisierung, der alle anderen Gedanken (Abrahamverheißung, Gesetz und Erbschaft der Verheißung) untergeordnet sind. Das Abraham-Thema ist Paulus von seinen Gegnern vorgegeben, die die Teilnahme an der Verheißung an die Beschneidung binden. 3,15-4,7 sind Erläuterung von 3,6-14; 4,8-20 als Zielpunkt der argumentatio und haben in 4,13 f. ihr Zentrum: Die Schwäche des Verkündigers fällt mit der Schwäche des Verkündigten zusammen, die zugleich seine wahre Stärke ausmacht. Die Sara-Hagar-Exegese mit dem Wort vom jetzigen Jerusalem zielt nicht nur auf die Juden, sondern auch auf die Gegner des Paulus vor Ort und deren Hintermänner in Jerusalem. Die Aussagen von 5,4 innerhalb des rhetorisch als peroratio, epistolographisch als subscriptio dienenden Abschnitts 5,2-6 beziehen sich vor allem auf die Gegner. Hinter 5,6 erwartet man nach dem briefinternen Duktus eigentlich nichts mehr. Hier beginnt die zweite Rede des Galaterbriefes, und das zweite exordium (5,7-12) knüpft an das erste an, die Sympathiegewinnung steht deutlich im Vordergrund. Paulus antizipiert in diesem Teil des Briefes bereits den erhofften Erfolg. Im Gegensatz zum Tadel im ersten exordium überwiegt hier die Zuversicht des Apostels. Allerdings erfahren die Angriffe auf die Gegner in dieser zweiten Rede eine Wendung ins Persönliche.

Die Verse 5,13-6,10 sind Paränese. Leitbegriff von 5,13-26 ist die Liebe als Manifestation der in Christus gewonnenen Freiheit, 6,1-10 werden durch eine besondere Betonung des Einzelnen zusammengehalten. Die zweite peroratio in 6,11-18 hat rekapitulierende Funktion, 6,11-15 in Bezug auf die zweite Rede. 6,16 ff. schließen den Bogen zum Anfang des Briefes. Rhetorische Kategorien reichen hier aber nicht aus.

Im Ausblick des 4. Kap. behandelt der Vf. die Stellen des Galaterbriefes, in denen Paulus eine gewisse Selbstidentifikation mit dem leidenden Christus ausspricht, sich als wahren Repräsentanten des Gekreuzigten bezeichnet und an die Stelle des von seinen Gegnern in die Mitte der Verkündigung gestellten erhöhten eschatologischen Richters den Gekreuzigten stellt. Der Konflikt mit den Gegnern in Galatien geht letztlich um den soteriologischen Stellenwert des Todes Jesu.

Dieses Erstlingswerk ist eindrucksvoll und lässt sich, wenn man von einigen modischen neologischen, wenn auch bereits übernommenen Wortungetümen und zahlreichen Tipp- und anderen Fehlern absieht, wirklich gut lesen. Der Vf. argumentiert häufig originell und stets mit dem Hinweis auf analoge Phänomene in den Briefen oder in der Rhetorik; er berücksichtigt auch breit die Literatur aus dem 19. und frühen 20. Jh. Gerade das ständige Bestreben, das exegetisch im Galaterbrief Erkannte durch Analogien abzusichern, verdient Anerkennung, ebenso die breite Belesenheit in den griechischen Briefen und sonstigen in Frage kommenden Texten sowie die neuen Hinweise zu der Gattung der apologetischen Briefe. Die Argumentation ist weithin geschlossen und basiert hinsichtlich des Gesetzes fest auf der (ja nicht unbestrittenen) Basis der soteriologischen Bedeutungslosigkeit jeglicher Toraobservanz bei Paulus. Auch findet sich eine Fülle von weiterführenden Beobachtungen.

Eine gerechte Würdigung wird die Schwierigkeiten, die alle Auslegungen mit dem paränetischen Schlussabschnitt haben, nicht verkennen dürfen. Gleichwohl seien einige Einwände gegen die Hauptthese, in Gal 5 liege sozusagen ein zweiter Anlauf des Paulus vor, und gegen 6,18 als sekundär angefügten Schluss formuliert, ohne auf weitere Einzelfragen einzugehen. Ist es angesichts der vom Vf. angenommenen gründlichen Planung des Briefes durch Paulus, der intensiven Stilisierung des Briefes und der in 4,21-31 angewandten und vom Leser aufzulösenden Raffinesse wirklich plausibel, dass Paulus in 5,7 noch einmal neu ansetzt und der ersten Rede eine zweite folgen lässt? Ist man hier nicht zu einer Entscheidung gezwungen, entweder für eine genaue Planung und Stilisierung oder für das Faktum eines Nachtrags? Hätte Paulus in der schwierigen Situation in Galatien in seinem geplanten Brief gegen seine sonstige Gewohnheit auf jegliche Paränese verzichtet? Was 6,18 betrifft, so muss man natürlich auch die Gegenthese zur sekundären Hinzufügung aus Gründen der Vereinheitlichung der Briefschlüsse erwägen - wenn alle echten Paulinen mit einer Charis-Formel enden, welcher triftige Grund lässt sich dann dafür anführen, dass Paulus im Brief nach Galatien darauf verzichtet? Das vom Vf. angebotene Argument, Paulus sei am Ende dieses Schreibens nicht bereit, ihnen die charis zuzusprechen, gerät in die Nähe einer petitio principii, da Paulus ja, wie auch der Vf. weiß, am Anfang in 1,3 genau das tut. Die Frage wird dadurch sogar noch schärfer, dass der Vf. die maßlose Enttäuschung des Paulus über das Verhalten der Galater in 1,6 schön herausgearbeitet und zugleich darauf hingewiesen hat, dass Paulus in Gal 5 und 6 die Adressaten viel milder beurteilt als in der ersten Rede.