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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

637–640

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hofrichter, Peter Leander [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Für und wider die Priorität des Johannesevangeliums. Symposion in Salzburg am 10. März 2000. Mit Beiträgen v. P. N. Anderson, K. Berger, J. H. Charlesworth, A. Fuchs, J. Hainz, M. Hasitschka, P. L. Hofrichter, M. A. Matson, R. Morgan, B. Shellard, Th. Söding u. F. G. Untergaßmair.

Verlag:

Hildesheim-Zürich-New York: Olms 2002. 320 S. gr.8 = Theologische Texte und Studien, 9. Kart. Euro 39,80. ISBN 3-487-11692-8.

Rezensent:

Ingo Broer

Der Band gibt die Referate und Diskussionen eines vom Herausgeber am 10. März 2002 organisierten Symposions wieder, vermehrt um einen bereits publizierten Beitrag von B. Shellard. Die Rezension beschränkt sich auf die Symposion-Vorträge.

P. Andersons Beitrag "Interfluential, Formative and Dialectical - A Theory of John's Relation to the Synoptics" gibt einen Überblick über eine Reihe von Auslegungsproblemen des JohEvs und verweist dabei vielfältig auf andere Arbeiten desselben Vf.s, in denen die Beweise für die Darlegungen zu finden sind. Der Hauptakzent liegt auf der Frage der Verbindungen zwischen MkEv und JohEv, die nicht nur durch Beziehungen auf der Ebene der jeweiligen vorevangeliaren Tradition erklärt werden, sondern auch durch direkten Zugriff des Autors der ersten Ausgabe des JohEvs auf das MkEv. Was das Verhältnis von LkEv und JohEv angeht, so kannte Lukas jedenfalls nicht das schriftliche JohEv; die Beziehungen zwischen Q und MtEv auf der einen und dem JohEv auf der anderen Seite sind dialektisch zu denken.

Die von K. Berger in seinem Beitrag "Neue Argumente für die Frühdatierung des Johannesevangeliums" vorgestellten Gründe bestehen zunächst in der Destruktion der Bedeutung der Aussagen der Alten Kirche, sodann in dem Nachweis, dass es hohe Christologie auch bereits in der frühen Kirche gegeben hat und dass Polemik gegen Juden kein spätes Phänomen sein muss. Bei einigen verwandten Stellen vor allem bei Mt und Joh ("Zwischen Mt 5,37 [euer Ersatzschwur laute ja, ja] und dem doppelten Amen in johanneischen Jesusworten besteht eine enge Beziehung.") ist gemeinsame Tradition anzunehmen, die Frage nach dem höheren Alter lässt sich nicht immer sicher beantworten. Das JohEv enthält aber eine Reihe von einzigartigen Erinnerungen; so spiegelt der Plural in 3,11 "die Erinnerung an eine Phase des Wirkens Jesu, in der er noch wie der Täufer tauft". Die Krise des Jüngerkreises in Joh 6 ist "historisch vorstellbar. Irgendwann könnte Jesus begriffen haben, dass er nichts Drittes neben sich oder außerhalb seiner zu verkünden hat, sondern sich selbst. Er ist ein Stück Himmel in Person." (67) Eine christologische Höherentwicklung gegenüber den Synoptikern liegt im JohEv übrigens nicht vor: "die markinischen Erzählungen vom Menschensohn, der Sünden vergibt, vom Reittier Jesu, von der Verfluchung des Feigenbaums und von der Salbung, deren Aufwendung man nicht ersatzweise den Armen geben soll, ferner das gesamte Matthäus-Evangelium - sie enthalten eine Christologie, deren faktischer Anspruch so monströs ist, dass man um eine unmittelbare Gegenwart des Schöpfergottes in Jesus gar nicht herumkommt." (68) Auch eine größere Ursprünglichkeit der Einzellogien in Mk und Q gegenüber den Reden im JohEv ist nicht beweisbar.

Allerdings sind dem Rez. nicht alle Sätze dieses Beitrags verständlich geworden, ein Beispiel: "Doch ähnlich wie bei Paulus - und so wie nur noch dort - gilt für den vorösterlichen Jesus im JohEv und für den nachösterlichen Jesus bei Paulus die denkbar enge Bindung des Heiligen Geistes an Jesus Christus [...]" (67).

Kern des Beitrages von J. H. Charlesworth "The Priority of John? Reflections on the Essenes and the First Edition of John" ist die Diskussion von acht Fragen, die jeweils in einer "discovery" endet. Diese Fragen stehen nicht alle in einem engen Bezug zur Datierungsfrage. Was Letztere angeht, können die Gründe für die Spätdatierung heute nicht mehr überzeugen, und zwischen 60 und 100 sind alle Datierungen des jetzigen JohEvs möglich. Die "erste Ausgabe" des JohEvs freilich, die mit 1,6-8 begann und mit 20,30 f. endete, kann vor 70 abgefasst worden sein; wahrscheinlich hat die Flucht der Essener aus dem 68 zerstörten Qumran nach Jerusalem "someone" in der johanneischen Gemeinschaft veranlasst, die erste Ausgabe des JohEvs zu verfassen.

A. Fuchs äußert sich in seinem Beitrag "Das Verhältnis der synoptischen agreements zur johanneischen Tradition, untersucht anhand der messianischen Perikope Mk 6,32-44 par" zunächst detailliert zur Frage des innersynoptischen Vergleichs von Mk 6,32-44 und bedauert die Blindheit der Mehrheits-Exegese gegenüber den minor agreements und dem reichen theologischen Schatz des Dt-Mk. "Es wirft ein bezeichnendes Licht auf den Stand der gegenwärtigen ntl Wissenschaft, dass sie auch nach 30 Jahren Deuteromarkus-Forschung zum allergrößten Teil noch immer nichts von der aufgezeigten Entwicklung bemerken will und der consensus patrum viel wichtiger ist als der Text!" (126) Das Ergebnis der Analyse der Brotvermehrungsgeschichte ist kompliziert: Dt-Mk, also die weiter entwickelte Fassung des MkEvs, die Mt und Lk als Vorlage diente, ist in dieser Perikope vom alten johanneischen Bericht beeinflusst, der Grundtext der Erzählung des JohEvs seinerseits aber beruht auf der Vorlage des Mk und ist dann von der johanneischen Redaktion entsprechend bearbeitet worden. Eine Beeinflussung durch Dt-Mk, Mt oder Lk ist nicht erkennbar.

J. Hainz bricht in seinem Beitrag "Das Johannesevangelium in der Sicht der neueren Redaktionskritik unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu den Synoptikern" gemäß dem Richterschen Drei-Stufen-Modell von Grundschrift, Evangelium und redaktioneller Überarbeitung eine Lanze für die Literarkritik. Die johanneische Grundschrift weist durchaus synoptikernahe Traditionen auf, eine Abhängigkeit von den Synoptikern ist aber nicht nachzuweisen, erst mit der Redaktion, der die Tätigkeit des Evangelisten an der Grundschrift vorausgeht, setzt eine Resynoptisierung ein, die auf der Kenntnis der drei Synoptiker basiert.

M. Hasitschka spürt in "Beobachtungen zu Chronologie und Topographie der Passionsgeschichte nach Johannes" der johanneischen Passionschronologie nach und findet keine Indizien, dass diese sich einer Passalamm-Typologie des JohEvs verdankt. Die Angabe des Joh vom Rüsttag auf Passa als Todestag Jesu hat "nicht geringeren historischen Wert als die Angabe bei den Synoptikern" vom 15. Nisan als Todestag Jesu.

P. Hofrichter fasst in seinem Beitrag "Zur Komposition des Markusevangeliums auf der Grundlage des Hellenistenbuches" seine bereits veröffentlichten "Vor"-Arbeiten zusammen. Er ist sich der Abhängigkeit des MkEvs von einer Vorstufe des JohEvs, von denen er mehrere unterscheidet, so sicher, dass er den Weg vom vorjohanneischen Evangelium (von H. Hellenistenbuch genannt) zum MkEv nicht mehr begründen, sondern nur noch beschreiben muss. Ein Beispiel: "Eine ganz offensichtliche Erweiterung des Markus ist in diesem Zusammenhang die Verwunderung und umständliche Erkundigung des Pilatus, ob Jesus denn schon gestorben sei (Mk 5,44). Sie ersetzt den im Hellenistenbuch berichteten, von Markus aber ausgelassenen Lanzenstich ... Die Lanzenstichperikope konnte Markus aber nicht brauchen" (174).

M. Matson stellt in seinem Beitrag "The Influence of John on Luke's Passion: Toward a Theory of Intergospel Dialogue" die Ähnlichkeiten zwischen Lk und Joh bei der Verhandlung vor Pilatus heraus. Direkter Einfluss des Lk auf Joh ist nicht feststellbar, u. a. da die klare Dreier-Struktur des lukanischen Berichts bei Joh zerstört ist. Eine Abhängigkeit des JohEvs vom LkEv vermag die Frage nicht zu beantworten, warum Lk den Mk-Bericht verändert hat. Statt zwischen Lk und Joh (in welcher Richtung auch immer) verschiedene Zwischenstufen anzunehmen, ist es einfacher und vorteilhafter, von einem Einfluss des JohEvs auf das LkEv auszugehen, dessen Autor gelegentlich unter Einfluss des JohEvs vom MkEv abwich. Dass das Prätorium des JohEvs im LkEv keine Rolle spielt, hängt damit zusammen, dass Lk die Unschuldserklärung dazu benutzt, die jüdische Verantwortung deutlicher herauszustellen als Mk.

R. Morgan befasst sich in seinem Überblicksartikel "The Priority of John over Luke" mit zahlreichen Facetten neutestamentlicher Exegese und Exegesegeschichte und schließt sich B. Shellard an, dass Lk, der das MkEv als Basis benutzte, das JohEv in seiner Endgestalt kannte und für sein Werk benutzte. Das dritte Evangelium ist also das jüngste Evangelium im Kanon. Deswegen muss das JohEv aber nicht vor den 90er Jahren des 1. Jh.s geschrieben worden sein, da das LkEv durchaus noch später verfasst sein kann. Dass Lk einige Paulusbriefe gekannt hat, gilt heute auch als wahrscheinlicher als früher angenommen, dasselbe gilt für die Kenntnis des MtEvs.

T. Söding referiert in seinem Beitrag "Johanneische Fragen: Einleitungswissenschaft - Traditionsgeschichte - Theologie" die Spät-, Früh- und Mitteldatierung des JohEvs und benennt deren jeweilige Probleme. Als Eckpunkte eines eigenen Diskussionsvorschlages nennt er den Wachstumsprozess des vierten Evangeliums selbst, der eine längere Zeit gebraucht hat und dessen Anfang bereits eine längere Geschichte johanneischer Traditionsbildung vorausgegangen sein muss. Der Presbyter als Verfasser der drei Johannesbriefe ist vermutlich auch der letztverantwortliche Editor des JohEvs gewesen. Das JohEv setzt eine breite Kenntnis synoptischer Stoffe voraus und repräsentiert in den meisten Fällen den traditionsgeschichtlich jüngeren Typ. So ist die (von Hofrichter als ältestes Stadium bezeichnete) johanneische Fassung der Salbungsgeschichte nach Söding jünger als die synoptische, ebenso einige Züge des Kreuzigungsberichtes, der dennoch manches historisch zuverlässiger überliefert als Mk. In Joh 4,46-54 ist allerdings eine ältere Überlieferungsvariante als die von Q erhalten. Schon die Form des Evangeliums spricht für eine Kenntnis des MkEvs, eine Kenntnis von Mt und Lk kann nicht mit der gewünschten Sicherheit entschieden werden. Eine Kenntnis des LkEvs ist aber wahrscheinlich. Auch das ein Indiz gegen die Frühdatierung! S. will im Übrigen an der Abfassung des JohEvs durch einen Christen, der zusammen mit anderen seine Heimat in Palästina verlassen hat und nach Ephesus gegangen ist, festhalten.

F. G. Untergaßmair versucht in seinem Beitrag "Das Verhältnis des Evangelium Veritatis zum Johannesevangelium - ein Indiz gegen eine kanonisch-johanneische Priorität?", die Frage des Verhältnisses der Namens-Theologie im Ev. ver. und im JohEv für die Frage der Datierung fruchtbar zu machen, und findet vor allem in der Nähe des 17. Kap. des JohEvs zum Ev. ver. "eine ernstzunehmende Hürde für das Postulat einer Johannespriorität gegenüber den Synoptikern".

Obwohl der Sammelband bei weitem noch nicht alle Sichtweisen des JohEvs wiedergibt, ist er ein deutliches Abbild der postmodernen Vielfalt des heutigen exegetischen Betriebes.