Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

634–637

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gathercole, Simon J.

Titel/Untertitel:

Where is Boasting? Early Jewish Soteriology and Paul's Response in Romans 1-5.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2002. XII, 311 S. gr.8. Kart. US$ 32,00. ISBN 0-8028-3991-6.

Rezensent:

Friedrich Wilhelm Horn

Diese Studie ist eine kritische Auseinandersetzung mit der sog. new perspective on Paul, speziell mit der Thematik des Rühmens auf Grund von Gehorsam und Werken und der auf sie bezogenen endgültigen Rechtfertigung in frühjüdischer und paulinischer Theologie. Die letzte monographische Behandlung dieses Komplexes durch J. Sanchez-Bosch aus dem Jahr 1970 liegt mittlerweile weit zurück und stand noch vor der durch die new perspective vermittelten "reevaluation of everything that we knew ... about Judaism and Pauline theology in the past" (IX). Die forschungsgeschichtlich orientierte Einführung dokumentiert kundig diesen Wandel und markiert die Differenz etwa zu Bultmanns Auslegung: "So, for the New Perspective, Israel's boast is less in relation to God [...] than in relation to the gentiles. This will be a key issue to be analyzed: in what sense Israel's boast is defined ethnically, and in what sense it is theological" (8).

James D. J. Dunn, einer der Väter der new perspective und zugleich der Doktorvater dieser Untersuchung, muss erleben, dass G. kräftige Anfragen an die neue Paulusdeutung richtet. Sie vernachlässige sowohl in ihrer Analyse frühjüdischer Texte als auch in der Exegese der paulinischen Theologie die Eschatologie zu Gunsten von Erwählungs- bzw. Partizipationskonzepten, und sie missachte die Bedeutung des Gehorsams und der Werke im Blick auf die zukünftige Rechtfertigung. Allerdings, um keine falschen Alternativen aufkommen zu lassen: "This does not permit a return tout simple to Lutheran theology, but neither is the New Perspective's interpretation adequate" (264). Oder: "it is vital that Pauline scholarship does not get stuck in a Bultmann versus New Perspective dichotomy" (215). Also werden überkommene Begriffe wie Selbstrechtfertigung oder Werkgerechtigkeit a limine zurückgewiesen (30). Für das Frühjudentum allerdings sei die Existenz von individuellem und kollektivem Rühmen vor Gott und gegenüber den Heiden nicht nur im Blick auf die Erwählung, sondern auch mit Bezug auf den Gesetzesgehorsam unbestreitbar. Beides jeweils im Blick zu behalten, fordert G. mit Recht ein. Strukturell lehne Paulus sich an die Zuordnung von Gehorsam und endgültiger Rechtfertigung an, unterscheide aber eine anfängliche Rechtfertigung des Gottlosen von einer ihr notwendig folgenden endgültigen Rechtfertigung auf Grund von Gesetzesgehorsam. Die Schlussbemerkungen räumen freilich ein, dass hier noch erheblicher weiterer Klärungsbedarf besteht (265). M. E. hat diese These einer doppelten Rechtfertigung keine Grundlage in den paulinischen Briefen. Die von G. vorgetragene Gesamtabrechnung mit lutherischer, reformierter und neuer Paulusdeutung (133 f.) vom Kriterium der Bedeutung der Werke im Kontext der Eschatologie her ist überzogen. Wenden wir uns also dem eigentlichen Anliegen des Buches zu, das den Kontext des Rühmens im Frühjudentum und bei Paulus zu bestimmen sucht.

G. behandelt zunächst umfangreich das Verhältnis von Gehorsam und endgültiger Rechtfertigung (obedience and final vindication) im Frühjudentum (37-194). Das Ergebnis lautet: "it is an important concern to demonstrate that the pattern of final salvation according to works occurs before 70 C. E." (25) Methodisch sucht G. den Nachweis durch eine multiple attestation in solchen Texten, die vor 70 n. Chr. zu datieren sind, wobei hinsichtlich der Herkunft den Texten des palästinischen Judentums gegen Sanders kein Vorrang vor Texten des hellenistischen Judentums eingeräumt wird (24-29). Philo von Alexandrien wird nicht in die Betrachtung aufgenommen, dieses Übergehen wird nicht weiter begründet (29). Ein erster größerer Abschnitt bezieht sich auf die Apokryphen und Pseudepigraphen vor 70 n. Chr. G. breitet einen Flickenteppich aus, der sich aus Einzeltexten zusammensetzt (37-90) und zu der These führt: "All these different portrayals highlight the fact that God is portrayed as saving his people at the eschaton on the basis of their obedience, as well as on the basis of his election of them" (90). Hierbei wird nicht übersehen, dass in einem Teil der Texte eben nicht ewiges Leben, sondern Leben im Sinne von Wohlstand der Lohn des Gehorsams ist. Primäre Zeugen der vorgestellten These sind unter anderem: PsSal 3,11 f.; LAB 64,7; SapSal 5,15 f.; 6,18, TestHiob 4,9 f.; ApokZeph 3,6 f.

Die Analyse des Verhältnisses von Werken und zukünftiger Rechtfertigung in Qumran erkennt eine Bestätigung des in den Apokryphen und Pseudepigraphen eruierten pattern: "a period in the presence of obedience to the Torah, obedience that is rewarded at the judgement with eternal joy and glory" (108). Zwar nimmt auch G. die Wendung Werke des Gesetzes in 4QMMT "as concrete deeds done in obedience to the totality of the Law" (95 f.) auf und kann M. Bachmanns ähnlich lautenden Übersetzungs- und Interpretationsvorschlag ohne jede Kritik akzeptieren (96). Jedoch sei damit nicht eine wesentliche Stütze der new perspective, der zufolge dieser Ausdruck in 4QMMT eben nicht verdienstliche Werke vor Gott, sondern halachische Regelungen anvisiert, zu übernehmen. Vielmehr zeige der Blick auf das Schrifttum insgesamt, dass eine nationale und eine individuelle Eschatologie in Qumran nebeneinander bestehen. Die Reduktion auf die nationale Ebene der Erwählung (im Sinne der Diktion E. P. Sanders': "getting in" bzw. "staying in") sei verkürzt. Die von M. Abegg im Anschluss an die Interpretation von 4QMMT vorgetragene These, Paulus argumentiere nicht gegen ein Judentum, welches die endzeitliche Rettung durch Gesetzeswerke verdiene, sei mithin unzutreffend (111).

Das folgende Kapitel über Jewish Soteriology in the New Testament trägt wiederum Einzelaussagen für die positive Bedeutung der Werke im Endgericht zusammen (Mt 16,24-27; Joh 5,28 f.; 6,26-29; Jak 2; Offb 20,11-15 u. a.). Die Werke seien nicht eine Folge der vorausgehenden Gnade, sondern geben, so G., eine eigene Wertung im Endgericht an (135). Diese neutestamentlichen Belege stellen ein externes Zeugnis für den Zusammenhang von Gesetzesgehorsam und Rechtfertigung im Judentum dar und belegen zugleich, dass im frühen Christentum in manchen Schriften in dieser Hinsicht eine Kontinuität zum Judentum besteht. Das hervorragendste Zeugnis für diese Koinzidenz von Werken und Gericht in jüdischer und christlicher Theologie ist für G. die Position des jüdischen Gesprächspartners in Röm 2,2 und die nach G. positive Aufnahme seiner Position durch Paulus (124). Auf das sich anschließende Kapitel über den Zusammenhang von Gesetzesgehorsam und Rechtfertigung im Judentum nach 70 n. Chr. verweise ich. Nachdem G. als Zwischenergebnis festhalten kann, dass nach seiner Sicht der Quellen das jüdische Heilsverständnis sich sowohl auf die Erwählung als auch auf den Gesetzesgehorsam bezieht und gleichzeitig von nationalem und individuellem Vertrauen in beides bestimmt ist, unternimmt er eine Sichtung, ob der sich hieraus ergebende Ruhm als primär national gegenüber den Heiden (so die new perspective) oder eben auch eschatologisch gegenüber Gott ausgerichtet sei. Das Ergebnis ergibt sich abermals aus einem Flickenteppich vielfältiger, aber differenziert gesichteter Belege: "Obedience, as well as election, is the basis of Israel's confidence before God. This confidence is directed toward both God and the gentiles" (194). Es mag sein, dass sich das methodische Vorgehen des Sammelns von Aussagen zu Gesetzesgehorsam und dem sich darauf beziehenden Ruhm in der frühjüdischen Literatur sich den Vorwurf des Eklektizismus gefallen lassen muss, der die literarischen, sozialen und theologischen Kontexte nicht hinreichend würdigt. Dennoch demonstriert dieses erste große Kapitel eindrücklich, dass innerhalb der frühjüdischen Theologie viele Stimmen zu hören sind, die eben nicht mit dem Stichwort des Bundesnomismus im Anschluss an Sanders vollständig zu erfassen sind.

Setzt Paulus sich in Römer 1-5 mit einem jüdischen Rühmen auseinander, das sich auf Gesetzesgehorsam und eine auf ihn bezogene endgültige Rechtfertigung gründet? Der Aufbau der Untersuchung tendiert, wie der Untertitel anzeigt, in diese Richtung. Folglich werden wesentliche Aussagen zum Thema Ruhm/Rühmen aus der Korintherkorrespondenz, die eben nicht im Kontext der Gesetzesthematik stehen, nicht bedacht, und sie sind im Register nicht einmal verzeichnet (ich vermisse: 1Kor 3,21; 4,7; 5,6; 15,31; 2Kor 5,12; 7,4.14; 8,24; 9,2 f.; 10,8.13.15-17; 11,10.12.16 f.18.30; 12,1.5 f.9; außerdem 1Thess 2,19; Gal 6,4.13 f.; vgl. aber die knappe Problemanzeige 265). Der einzige Hinweis auf 2Kor 10-13 bezieht sich auf einen Literaturtitel (1, Anm. 1). Methodisch ist der von G. eingeschlagene Weg problematisch, da Paulus in der Korintherkorrespondenz erstmals und vorgängig zum Römerbrief in deutlicher Breite Ruhm/Rühmen als anthropologisches Thema anschlägt und im Sinne einer sozialen Identität und des damit verbundenen Status entfaltet. Ebenso will es nicht einleuchten, dass die Bedeutung der Wendung ohne Werke des Gesetzes auf der Ebene des Römerbriefs nicht mit Blick auf ihre erstmalige Erwähnung in Gal 2,16 (Replik aus dem antiochenischen Konflikt) gefunden werden darf (265), nur weil in Röm 3,28 ein jüdischer, in Gal 2,16 aber ein judenchristlicher Gesprächspartner Paulus gegenüberstehe. Es ist überzeugender, auch für Röm4 einen fiktiven judenchristlichen Gesprächspartner anzunehmen. Leitend ist für G. jedoch der Grundsatz, dass der eine Dialogpartner des Paulus in Röm 2,1-4,8 eine jüdische Rechtfertigungstheologie auf der Grundlage der Gesetzeswerke vertrete.

G. analysiert in drei Schritten a) die Bewertung des jüdischen Rühmens in Röm 1,18-3,20, b) die Neubewertung von Torah, Abraham und David in Röm 3,27-4,8 und schließlich c) die Auferstehung des Rühmens in Röm 5,1-11. Wenige Bemerkungen ad a): Der jüdische Gesprächspartner in Röm 2 repräsentiere Gesamtisrael. Die ihm von Paulus vorgehaltene Kritik beziehe sich sowohl auf den Ruhm, der sich auf nationale Privilegien gründet (so die new perspective), aber eben auch auf das Vertrauen in den Gesetzesgehorsam. Es ist bezeichnend für den von G. eingeschlagenen Weg, stets beides, die Anfragen aus der new perspective wie auch die klassische Paulusdeutung, im Blick zu behalten. Deutlicher hätte aber doch wohl herausgestellt werden müssen, dass Paulus in Röm 2 den jüdischen Gesprächspartner angreift, weil er davon ausgeht, dass die mit der Gabe der Tora zum Ausdruck kommende Erwählung die faktischen Übertretungen kompensiert. Es geht hingegen in Röm 2 nicht um eine Kritik an der vermeintlichen Möglichkeit einer Rechtfertigung durch Gesetzesgehorsam (so aber 214). Ad b): Paulus beziehe sich in Röm 3,27 (und im folgenden Abrahambeispiel in Röm 4) auf ein jüdisches Rühmen, "that God would vindicate Israel on the basis of both election and obedience, and that he would vindicate them both before and over against the gentiles" (226). Was leistet das Abraham-Beispiel? Nach sorgsamer Exegese und der Befragung jüdischer Abraham-Bilder kommt G. zu dem Ergebnis: "The issue is not works as national boundary markers, but works defined as the comprehensive obedience to God that is required for justification" (240). In Röm 4 könne durch ein mirror-reading die jüdische Position erschlossen werden. Dass Paulus die Rechtfertigung aus Glauben (auch) im Gegenüber zu einem vorausgehenden jüdischen Modell der Rechtfertigung auf Grund von Gesetzesgehorsam dargelegt habe, scheint mir durch die Exegese des Abrahambeispiels in Röm 4 nicht nachgewiesen zu sein.