Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

632–634

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Diefenbach, Manfred

Titel/Untertitel:

Der Konflikt Jesu mit den "Juden". Ein Versuch zur Lösung der johanneischen Antijudaismus-Diskussion mit Hilfe des antiken Handlungsverständnisses.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2002. VIII, 360 S. gr.8 = Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, 41. Kart. Euro 47,00. ISBN 3-402-04789-6.

Rezensent:

Manfred Lang

Kaum eine andere Schrift des Neuen Testamentes ist im methodischen Zugang umstrittener als das Johannesevangelium; kaum eine andere neutestamentliche Schrift ist mit emotionsgeladeneren Analysen, Exegesen und hermeneutischen Reflexionen bedacht als das Thema Die Juden im Johannesevangelium. Vor beiden Problemen steht der Vf. der in Innsbruck angenommenen Habilitationsschrift. Er geht daher auch dem zuletzt genannten, sehr sensiblen Problemkreis in einer "Hinführung zum Thema" (1-11) nach und entwickelt bereits hier sein eigenes Vorgehen (9 f.): "Mein Forschungsanliegen ist es nun, das pauschale Verwenden der Bezeichnung Die Juden im vierten Evangelium mit Hilfe des antiken Handlungsverständnisses zu (er-)klären, um so neue wissenschaftliche Ergebnisse für das wahre johanneische Interpretieren des vom Verfasser dargestellten - fälschlicherweise als negativ gedeuteten - Bildes die Juden vorzulegen und so eine schon längst fällige Korrektur verheerender Missdeutungen in der johanneischen Bibelforschung vorzunehmen." Dabei stehen dem Vf. methodisch besonders der russische Dramentheoretiker Vladimir J. Propp und die Variationen von Algirdas Julien Greimas zur Seite, die er in besonderer Weise mit den antiken Texten aus Aristoteles' Poetik und Horaz' Ars poetica mittels der Personenkonfiguration und -konstellation interpretiert. Dies bildet jeweils den Horizont dafür, ob diachron oder synchron gearbeitet werden soll.

Das zweite Kapitel eröffnet der Vf. mit besagter Analyse der antiken dramentheoretischen Voraussetzungen, wie sie sich besonders anhand der genannten antiken Autoren ergeben. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass nicht die Personen per se, sondern diese immer nur in ihrem Beziehungsgeflecht zu anderen Personen ihr Wesen mitteilen, mithin sich demnach im Handeln selbst das Wesen des Menschen kundtue. Es müsse jedoch beachtet werden (46): "Besonders im Unterschied zum heutigen Verständnis der Person als Individuum verkörperte die handelnde Person im antiken Drama eine Handlung, so dass ein beliebiges Agieren seitens einer handelnden Person aufgrund des Primats der Handlung undenkbar war." Den Haftpunkt, der das Johannesevangelium mit jenem Programm verband, sieht der Vf. nicht in literarischen Abhängigkeiten, sondern in einem gemeinsamen Bildungsmilieu, das sich aus der paideia ergebe (53 f.). Dieser Hinweis wird durch einen Blick in die Forschung konkretisiert, der "[d]ramentheoretische Anspielungen in der Literatur zur Johannesforschung" (51 [51-61]) nachzeichnet. Daraus ergeben sich die "Konsequenzen für die nachfolgende Textanalyse" (65 [65 f.]): Der antik-handlungstheoretische Ansatz wird in der Frage nach der Personenkonstellation und Personenkonfiguration durch das Einbeziehen des Sprechens wie des Tuns für die Exegese des Johannesevangeliums anwendbar. Dies erfolgt durch die der Exegese zu Grunde gelegte Struktur: Einordnung in den Kontext und Analyse der Textstruktur; Einordnung in den antiken Horizont jeweils im Mikrokontext (Ort, Zeit des Geschehens; agierende Personen[gruppen]; Formen der Rede und der Konfliktstruktur; Zuordnung der Handlungsverben und deren semantische Struktur); Analyse der gewonnenen Ergebnisse im makrokontextuellen Zusammenhang (Darstellung des plots; Intention des Autors; das Ziel der Darstellung; Textpragmatik). D. h. (61): "Besondere Aufmerksamkeit kommt bei dieser Studie dem Primat der Handlung seitens der antiken Dichtungs- und Tragödientheoretiker zu, zumal der antike johanneische Schrifttext oftmals bewusst mit Hilfe der altgriechischen Syntax die Handlung vor die (der) handelnden Person(engruppe) stellt. Unter Beachtung dieses Kriteriums ist im Anschluss hieran die durch Gott auferweckte Hauptperson Jesus (Christus) zu seinen Lebzeiten bis zu seiner Auferstehung mit seinen Beziehungen und Begegnungen der ihm zugeordneten Kontrahenten (hoi Iudaioi, hoi Pharisaioi etc.) zu erschließen."

Daraufhin erfolgt die Exegese aller Texte im dritten Kapitel (67-266), ehe im vierten Kapitel (267-278) weiterführende "Folgerungen für die johanneische Theologie und Rezeptionsgeschichte" (267) gezogen werden, die in "Zusammenfassung und Ausblick" (279 [279-281]) gebündelt werden. Ein aufgegliedertes Literaturverzeichnis (283-327) sowie ein Stellen-, Personen-, Sachregister und ein Register ausgewählter griechischer Worte (329-360) beschließen eine formal sehr sorgfältig gestaltete Arbeit.

Die Textanalyse in Abschnitt 3.1 (69-213) geschieht umsichtig und verläuft innerhalb der 14 Unterabschnitte nach folgendem Muster: kurze Vorbemerkung; die literarische Struktur; die Personenkonfiguration; Zwischenresultat. Besonderes Augenmerk erhält beispielsweise die Exegese von Joh 7,1-8,59 (112- 140), die herausstellt, dass die Elemente Sabbatschändung und Anleitung zur Sabbatschändung sowie Irreführen des Volkes der Anlass des Hohen Rates zum Einschreiten gewesen seien. Seine bündelnden Konsequenzen erfährt dieser Abschnitt in 3.2 (213-262), der die "Personenkonstellation der Juden in der Makrostruktur des vierten Evangeliums" untersucht. Dabei wird deutlich, dass der Rückgriff auf die Ergebnisse der Personenkonfiguration vor allem nach den Maßstäben Sympathie/ Antipathie bzw. Befürworter/Gegner und pro/contra gewählt worden ist. Eine Übersicht über die dramatis personae und deren Auftrittsfolge thematisiert diese Struktur anhand: die Juden, Pharisäer, Gerichtsdiener, Volk, römische Soldaten, Jünger Jesu bzw. Nikodemus, Pontius Pilatus, Hannas, Kaiphas, Barabbas, Kaiser (224 f.234 f.).

Angesichts der zahlreichen und sehr großen Felder (johanneische Kreuzestheologie, Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Synoptikern etc.) kann es nicht ausbleiben, Lücken im Literaturverzeichnis hinzunehmen. Es ist dabei wohl nicht nur der Thematik, sondern auch der lectio continua geschuldet, dass Doppelungen und Wiederholungen unvermeidlich sind.

Kritische Anmerkungen: 1) Es wirkt unvorbereitet, wenn der Vf. in der Zwischenbilanz plötzlich die kritische Auseinandersetzung mit dem nach-aufklärerischen Dramen- und Personen-Verständnis beschreibt und darauf rekurriert, nur nach modernem Verständnis sei der Mensch als handelnde Person ein in Selbständigkeit und Freiheit zu bestimmendes Wesen, antiken Bestimmungen hingegen entspreche eine solche Einschätzung nicht. 2) Es ist auffällig und verwundert sehr, dass antikes Material - abgesehen vom 2. Kapitel - kaum Verwendung findet, wo doch der Vf. geradezu programmatisch auf die Verortung des Johannesevangeliums in eben diesem Horizont insistiert (z. B. zu Joh 1,19-28 Priester, Leviten und Pharisäer [72-74] wird auf die Nennung etwa der einschlägigen Josephus-Texte verzichtet). 3) Die Ergebnisse der Exegesen lassen erfahrungsgemäß Spielraum für Rückfragen: etwa in Joh 2,13-25, wo von "Hausherren" die Rede ist, die Jesus durch die Tempelaktion erzürnt habe. Ist dies überzeugend, wenn seit König Davids Zeiten klar war, dass einzig der König selbst als Hausherr galt?! Ferner: Zu 4,(22.)42 liest man lediglich zwei deutende Zeilen, um das semantische Feld und die theologische Relevanz dieses für das Verständnis der Thematik so außerordentlich wichtigen Textes zu erheben: Diese Relevanz ergibt sich hinsichtlich der johanneischen Theologie schon deshalb, weil die Samaritanerin jenes von den Juden kommende Heil an die Bezeichnung Jesu als des soter tu kosmu knüpft. Von daher wäre von Joh 4,42 auf 4,22 zurückzublicken und die positive Perspektive etwa auch für Joh 18,33.39; 19,3. 19f.21 zu erheben. Aus dieser Polyvalenz ergibt sich eine grundsätzliche Anfrage: Die Beschränkung auf diejenigen, die sich als Kontrahenten Jesu bezeichnen lassen, zeigt die Problematik: Nikodemus zählt zunächst zu den Oberen, ohne dass ihm eine Gegnerschaft unterstellt werden kann. Erst im weiteren Verlauf wird hier eine Wandlung erkennbar. Sosehr dieser ein Iudaios ist, der in seinem Handeln und Reden seine Einstellung zu Jesus kundtut, sosehr ist hier auch die Analyse des Iudaios Lieblingsjünger oder auch Petrus zu erwarten. Schließlich spielt sich im Verhältnis beider zueinander quasi en miniature ab, was sich etwa zwischen dem glaubenden und noch-nicht-glaubenden Volk nachzeichnen lässt: Der Erkennende weist den Noch-nicht-Erkennenden ein. 4) Angesichts beispielsweise der Exegese von Joh 7,1-8,59 bleibt beim Rez. der Eindruck, dass der Vf. die Zeit des Evangelisten bewusst ausklammert. Dieser Eindruck wird immer wieder dadurch gestützt, dass historische Erklärungen eingefügt werden, die allesamt die Zeit um den irdischen Jesus betreffen, wie er im Johannesevangelium beschrieben wird (vgl. 169 [zu 11,47-53]). Damit droht zumindest der Evangelist als absichtsvoll gestaltender Schriftsteller aus dem Blickfeld zu verschwinden.

Es ist dem Vf. zuzustimmen, auf die heikle Frage, wer sich hinter "den Juden" verberge, die Antwort mit dem antiken Handlungsverständnis zu suchen. Ob die These, wonach der Evangelist zwischen den nicht an Jesus glaubenden Aristokraten und dem jüdischen Volk einerseits, und den an Jesus glaubenden Nikodemus, Joseph von Arimathäa sowie Teilen des jüdischen Volkes andererseits unterscheidet, in dieser soziologischen Sicht überzeugend ist, müssen weitergehende Studien zeigen, wozu der Vf. Anlass gibt.