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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

627–629

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rapp, Ursula

Titel/Untertitel:

Mirjam. Eine feministisch-rhetorische Lektüre der Mirjamtexte in der hebräischen Bibel.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. XVI, 434 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 317. Lw. Euro 108,00. ISBN 3-11-017384-0.

Rezensent:

Gerlinde Baumann

Die von Irmtraud Fischer (Bonn) betreute und in Graz bei Johannes Marböck eingereichte Dissertation nähert sich dem komplexen Thema der alttestamentlichen Mirjamgestalt mit der Methode der "rhetorischen Kritik" und unter feministisch-theologischer Fragestellung. Die Arbeit umfasst mehr als 400 Textseiten und ist mit mehreren Registern versehen. Ein achtseitiges Inhaltsverzeichnis orientiert die Lesenden umfassend; zahlreiche Tabellen und einige Graphiken veranschaulichen das Gesagte. Prägend für die Arbeit ist - im Anschluss an Elisabeth Schuessler Fiorenza - eine doppelte Perspektive: Die Vfn. fragt nach der literarischen Konstruktion der Mirjamfigur. Im Anschluss wird eine historische Rekonstruktion der Motive dieser Darstellung versucht.

Das bisherige Interesse alttestamentlicher Forschung an Mirjam (1.5.) zentriert sich um zwei Perspektiven. Die historische Kritik hat bei Mirjam einerseits überlieferungs- und religionsgeschichtlich gefragt und in den Texten u. a. Stränge von "Familienkonflikten" ausgemacht. Die Mirjamtexte werden dabei meist anderen Pentateuchquellen zugeordnet als die Mosetexte. Andererseits stehen traditions- oder literargeschichtliche Fragen nach der Prophetin oder Priesterin im Vordergrund. Das feministisch-theologische Interesse an der Figur der Mirjam wird auf vielfältige Weise artikuliert. Hier stehen Fragen nach der historischen Rolle Mirjams als Frau und Prophetin und mögliche Impulse für heutige Befreiungsversuche von Frauen im Vordergrund.

Methodisch positioniert sich die Arbeit (1.2.-1.4.) als "feministisch-rhetorische Analyse der Mirjamtraditionen". Die Vfn. gewinnt ihre wichtigsten Erkenntnisse aus der rhetorischen Analyse der Texte. Unter Aufnahme von Elementen der klassischen Rhetorik untersucht sie die dispositio (Gliederung, Ordnung) sowie die elocutio (Bebilderung, Ausstattung) der längeren Bibeltexte. Doch nicht nur das: "Die Rhetorik der Mirjamtraditionen zu analysieren heißt dann, danach zu suchen, für welche Interessen sie im Text steht, also nicht nur welche sozio-politischen und theologischen Interessen die sozialgeschichtlich mehr oder weniger gut eruierbare Gruppe hinter Mirjam vertritt, sondern auch, welchen Zielen des Erzählers die Erwähnung Mirjams dient." (9) Die Suche nach Textstrategien steht im Mittelpunkt der Textanalyse. Dazu wird das analytische Instrumentarium - je nach Textgattung - z. B. um das Instrumentarium der Narratologie (M. Bal) oder um Aspekte der Sprechakttheorie (u. a. A. Wagner) erweitert.

Der exegetische Hauptteil "Mirjam in den Texten" (2.) umfasst mehr als drei Viertel des Buchumfangs. Da sich die untersuchten Bibeltexte (Num 12,1-15; Dtn 24,8 f.; Ex 15,19-21; Num 20, 1-13; Mi 6,4[1-8] sowie Num 26,59/1Chr 5,29) nach Länge und Gattung beträchtlich voneinander unterscheiden, erhält jeder Unterabschnitt eine eigene Gliederung. Meist folgen der literaturwissenschaftlichen Untersuchung der Texte und ihrer Textstrategien eine Darstellung von Forschungsergebnissen der historischen Kritik einschließlich einer Auseinandersetzung mit ihren wichtigsten Thesen sowie Ausführungen zur rhetorischen Situation. Hier finden sich Vergleiche mit Texten, die ähnliche Themen behandeln, sowie Ausführungen zur Einbettung in die historische Situation der vermutlichen Abfassungszeit.

Der Erzähltext Num 12,1-15 über Mirjams und Aarons Autoritätskonflikt mit Mose eröffnet die Textuntersuchungen. Die Verse 1 und 2 sieht die Vfn. - anders als die meisten Literarkritiker - als Einheit: Mit der "Kuschitin" (als Zippora identifiziert) wird die midianitische Tradition angedeutet, die Ursprungsort für "demokratischere" Ämterteilungen in Israel ist. Auch auf die Mischehenproblematik der nachexilischen Zeit wird dadurch angespielt. Der Erzähler des Abschnitts verunklart in seiner Darstellung Mirjams Position (fehlende Adressaten in V. 1) und passiviert die Figur in den folgenden Versen zusehends. Sie wird mit Aussatz gestraft, der als soziale Stigmatisierung angesehen wird. Begünstigt vom Erzähler wird dagegen Mose mit Hilfe "metakommunikativer" Akte (V. 3). Anhand der Figur Aaron wird den Lesenden vor Augen geführt, wie sie sich verhalten sollen: Idealerweise wechseln sie zur Position, die Moses überlegene Autorität in allen Fragen der Prophetie, Toraauslegung etc. akzeptiert. Der Vfn. gelingt es so, Mirjam in Num 12 als eine auf unterschiedlichste erzählerische Weisen marginalisierte Gestalt herauszuarbeiten.

Die kurze Notiz über Mirjams Aussatz in Dtn 24,8 f. wird in der Linie von Num 12 als eine soziale Stigmatisierung gedeutet. Ex 15,19-21 mit Mirjams Siegeslied ist kein Beleg für eine Feier für die Sieger durch deren Frauen. Mirjam "singt" hier mit einer Gruppe von Frauen der gesellschaftlichen Elite ein Lied auf JHWH. "Mirjam tritt als Deuterin der Geschichte auf und spricht ebenso klare Worte wie Mose." (231) Der Text ist - entgegen der geläufigen Meinung - vermutlich erst in der Perserzeit entstanden und gehört deshalb nicht zum Urgestein israelitischer Überlieferung.

Num 20,1-13 überliefert nicht nur den Tod Mirjams in Kadesch, sondern verknüpft den Tod Mirjams mit der Todesbedrohung des Volkes und einem Vertrauensverlust gegenüber dem verbliebenen Führungspersonal: "Der Text macht ... sichtbar, daß Mose und Aaron der Gefährdung, die das Volk durch den Tod Mirjams und das Fehlen des Wassers erfährt, nicht entsprechen können." (315) So kann Num 20,1-13 mit der Parteinahme für Mirjam und der Kritik an Mose und Aaron als "Gegentext" zu Num 12,1-15 erscheinen. In ähnlich positiver Weise wie Num 20 - und Num 12 entgegengesetzt - stellt sich Mi 6,4 zu Mirjam. "Mirjam gehört zu JHWHs rettendem Handeln dazu, wie die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten und die Sendung Moses und Aarons. Darin zeigt sich eine Tendenz, die auch in den Stammbäumen aufgenommen wurde. Mirjam wird in Num 26,59 und 1Chr 5,29 als Schwester Moses und Aarons ihnen gleichwertig zur Führungselite Israels [gestellt] und ist Teil des gesellschaftlichen Ideals ihrer AutorInnen. Mirjam enthält in Num 26,58b-61 sogar einen weiblichen Stammbaum, der bis zur Frau Levis zurück geht." (387)

Im kurzen Schlussteil (3) fasst die Vfn. zusammen, dass es zwei Traditionen von Mirjamtexten gibt: Die einen stehen Mirjam kritisch gegenüber, verschleiern ihre Autorität usw. zu Gunsten des alleinigen mosaischen Führungsanspruchs (Num 12,1-15; Dtn 24,8 f.), während die anderen Mirjam als JHWH-Prophetin (Ex 15,19-21; Mi 6,4), als Sprachrohr des Volkes (Num 20) sowie als Mitglied der Führungselite Israels (Mi 6,4; Num 26, 59/1Chr 5,29) gelten lassen.

Auf dem Hintergrund der methodischen Prämissen der Vfn. - die Texte über Mirjam als einheitliche zu verstehen - ergibt die Nachzeichnung der literarischen Mirjam ein konsistentes Bild. Dazu zählt ebenso die Einbettung in den perserzeitlichen Streit (im Anschluss an die Spätdatierung der Texte) um die alleinige Durchsetzung der Gola-Gruppe unter Berufung auf die Moseautorität, die Konzepte der verteilten Macht (Aaron und Mirjam) ins Hintertreffen geraten lassen, wie die Verweise auf die Mischehenproblematik. Deutlich wird, dass es die eine Mirjam nicht gibt. Vorhanden sind unterschiedliche Darstellungen, die in ihrer Zeit und in ihrem jeweils eigenen literarischen Kontext Sinn machen. Bei der Herausarbeitung dieser These handhabt die Vfn. ihr methodisches Instrumentarium souverän. Neben den rhetorischen Analysen greift sie immer wieder auf Untersuchungen zu einzelnen Begriffen oder Sachverhalten zurück und bettet sie schlüssig in die Argumentation ein. Selten wird Exegese zudem in einer so interessanten und zum Lesen einladenden Form präsentiert wie in diesem Werk.

Mit "Mirjam" liegt ein Neuansatz vor, der dazu ermutigt, biblische Texte mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu erschließen. Sollten Monenda formuliert werden, so wären es diese: Die Gliederung hätte stärker systematisiert werden können. Einige Themen werden an einer ganzen Reihe von Stellen verhandelt, ohne dass es Querverweise gäbe. Zusammenfassungen am Abschluss der einzelnen Abschnitte wären hier hilfreich gewesen. Der zukünftigen Forschung ist es durch die Arbeit von U. Rapp aufgetragen, Konsequenzen aus der überzeugenden rhetorischen Analyse für die historisch-kritische Exegese (Pentateuch-Redaktion!) zu formulieren.