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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

575 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Löhr, Gebhard

Titel/Untertitel:

Verherrlichung Gottes durch Philosophie. Der hermetische Traktat II im Rahmen der antiken Philosophie- und Religionsgeschichte.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. XI, 402 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 97. Lw. DM 228,-. ISBN 3-16-146616-0.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Der Vf. befaßt sich in dieser Arbeit, die 1994 als Habilitationsschrift für das Fach Allgemeine Religionsgeschichte in Göttingen angenommen wurde, mit dem "vergleichsweise unbedeutenden zweiten Traktat des Corpus Hermeticum" (= CH II). Es fällt schon auf, wenn ein Vf. den Gegenstand seiner Forschung so bezeichnet. Was er aber vorlegt, erscheint als nicht unbedeutend, vielmehr legt er zusammen mit einer deutschen Übersetzung einen soliden und umfassenden Kommentar von CH II vor. Er meint, der Traktat will "durch Verarbeitung philosophischer Traditionen ... den gebildeten Leser bei seinen Vorkenntnissen ,abholen’ und an die hermetische Sicht heranführen" (VII).

Nach einer Einleitung, die auch einen forschungsgeschichtlichen Überblick enthält (3-20), folgt die Übersetzung (23-37), leider ohne Parallelabdruck des Urtextes, dann den Vorschlag einer Gliederung (38-43) und schließlich die ausführliche Kommentierung Satz für Satz (44-215); in dem Kommentar sind fünf Exkurse eingefügt. Das Buch endet mit einer ,Auswertung’: Reflexionen zur ,Theoloie’ von CH II (255-262), Angaben über den Dialogpartner (263-274), schließlich fügt der Vf. eine Einbettung von CH II in den historischen Kontext bei. Literaturverzeichnis, Stellen- und Sachregister sowie ein Register antiker Eigennamen sind beigegeben. Doch dieses enthält keine Namen von Autoren, wenn diese im Stellenregister aufgeführt sind. Die Kommentierung selbst ist außerordentlich, ja zu behutsam. Der Vf. ist sehr vorsichtig in seiner Argumentation und Autorenzuweisung. Das Buch ist über weite Strecken im Konjunktiv verfaßt, häufig leitet der Vf. Sätze mit "vielleicht" ein. Auch wenn die hermetischen Schriften in okkult-esoterischen Gruppen ein hohes Ansehen genießen und als Dokumente einer auf Magie, Astrologie und Alchemie beruhenden mysterienhaften Religion gelten, so sind sie der Wissenschaft vor allem in religionsgeschichtlich-philosophischer Hinsicht von Interesse. Heute wird die Hermetik zumeist "nicht mehr als ein gnosisartiges oder gnosisverwandtes Phänomen verstanden". Auch CH II ist "kein gnostischer Traktat", selbst wenn er einige Motive enthält, "die vielleicht dem Einfluß gnostischer Gruppen zu verdanken sind" (9, 12). Die Hermetik scheint sich aus der ägyptischen Priesterreligion entwickelt und mit der zeitgenössischen (mittelplatonischen) Philosophie vermischt zu haben (19, 45). Der Vf. ist der Meinung, daß ein Kommentar die Grundüberzeugung der modernen Hermetik-Forschung bestätigt, daß die Widersprüchlichkeit innerhalb der Traktate gewollt ist und kein Anlaß zu literarkritischen Scheidungen besteht (17).

Die Übersetzung des kurzen Traktats scheint gelungen zu sein, seine Gliederung könnte auch anders, als der Vf. es vorschlägt, vorgenommen werden. Im Kommentar betont er, daß der Traktat zwar von einem Lehrsatz der aristotelischen Naturphilosophie ausgeht, doch ganz stark vom Mittel- (und Neu-) Platonismus geprägt ist (44 f.). Der Traktat verfolgt die Absicht, "den überlegenen Stellenwert des ... Nus und schließlich des noch darüberstehenden Gottes herauszudestillieren" (57). Die Bezeichnung "göttlich" wird "eindeutig als eine Eigenschaft verwendet, die der Bezeichnung ,Gott’ untergeordnet ist", der Gottheit, die die Welt beherrscht, wird "noch eine unsichtbare, unsagbare, prinzipiell überlegene Instanz übergeordnet" (60). Der Nus wird als Weltseele angesehen. Der darüberstehende Gott ist "das Gute", über jeder Substanz stehend (73, vgl. 201). Eine Identität des Nus mit Gott wird völlig ausgeschlossen (192). So kenn CH II einen ersten und einen zweiten Gott. Die übrigen Götter werden aber nicht abgelehnt. Der (erste) Gott selbst erscheint als unbewegt und unveränderlich (159). Auch er ist für den Menschen Denkgegenstand (76). Und der Mensch kann zum Himmel aufsteigen (Seelenflug, 108). Zu diesen Gedanken hat der Vf. von CH II "verschiedene damals gängige naturphilosophische Theorien herangezogen und diese platonisch gedeutet (168). Dazu gehört auch die Bezeichnung "Vater" für den (ersten) Gott (177). Es fällt auf, daß der Traktat Gott bzw. dem Nus Eigenschaften zuerkennt, die die christliche Theologie Gott bzw. Christus zuerkennt (208).

Der Traktat erweckt den Eindruck, "mittelplatonische Durchschnittsphilosophie" zu enthalten (253). Seine deutliche Absicht ist es, Gott zu verherrlichen. Die Annahme eines höchsten Gottes über dem Weltschöpfer soll den obersten Gott von jeder Berührung mit der Materie freihalten (257). Das ist zweifellos ein durch und durch nichtchristlicher Gedanke, schließt er doch die Inkarnation aus. Nur der zweite Gott, der Schöpfergott, ist der Welt zugewandt. Das Corpus Hermeticum kulminiert "im mystischen Erleben der Vergottung", doch "der intellektuelle Weg zu Gott, wie er in CH II dargestellt wird, kann in keiner Weise mit der mystischen Erfahrung der Gottesschau und Vergottung konkurrieren" (301 f.). Hier erkennt der Rez. einen gewissen Widerspruch.

Der Vf. sieht CH II als ein im durch und durch griechisch-hellenistischen Geist verfaßtes und original in griechischer Sprache geschriebenes Werk (277 f.). Leider enthält der Kommentar keinen Ausblick auf die Wirkungsgeschichte (Andeutungen dazu finden sich 280 und 283). Man wüßte gern, wo CH II später zitiert worden ist. Vor allem im Spätmittelalter hat das CH große Bedeutung gehabt; Nikolaus von Kues beruft sich häufig auf das Corpus Hermeticum. Steht seine Bezeichnung des Menschen als "zweiten Gott", jedoch als geschaffener Gott, trotz deutlicher Unterschiede zur Hermetik, nicht in einem Zusammenhang mit ihr?

Trotz der vergleichsweise geringen Bedeutung von CH II ist dem Vf. ein einsichtiger Kommentar gelungen.