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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

618–620

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Crüsemann, Frank

Titel/Untertitel:

Maßstab: Tora. Israels Weisung und christliche Ethik.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2003. 300. S. 8. Kart. Euro 29,80. ISBN 3-579-05197-0.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

In diesem neuen Buch versammelt Crüsemann 20 Beiträge, von denen drei erstmals veröffentlicht werden, zur Bedeutung der alttestamentlichen Ethik für eine christliche. Auf Grund der von ihm notierten "wachsende[n] Einsicht in die Unmöglichkeit, mit traditioneller christlicher Ethik den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen" (9), will C. das Lösungspotential der Tora darlegen. Entscheidende Grundvoraussetzung dabei ist ein geändertes Verständnis christlicher Ethik, das sich nicht von der ethischen Tradition des Alten Testaments löst, sondern sich auf sie bezieht. C. stellt sich einer antijüdischen Interpretation des Evangeliums mit einer tiefgreifenden Trennung von christlichem Glauben und praktizierter Liebe entgegen. Die Virulenz dieser Trennung wird aufgezeigt am Versagen der Bekennenden Kirche im Dritten Reich gegenüber den Entrechteten, den Juden, Roma, Kommunisten und Homosexellen. Infolge des Antijudaismus verstand sich die Kirche als neues Israel und bezog die alttestamentlichen Verheißungen nicht mehr auf Israel, sondern auf sich. Das heißt, das Alte Testament wurde als Verheißung und nicht mehr als Tora gelesen. Dies hat die Konsequenz in der Verkürzung wesentlicher ethischer Inhalte, wie sie sich etwa an der Bewertung des Staates, der Sozialkritik der Propheten oder auch teilweise an der Rechtstradition aufzeigen lassen. An diesen Punkten tritt "die Frage nach der Geltung zentraler alttestamentlicher Traditionen für den christlichen Glauben und die christliche Kirche" (15) in den Blick. C. will die ethische Tradition des Alten Testaments nicht als Gesetz verstehen, um es damit theologisch für irrelevant erklären zu können. Deswegen will er der weit verbreiteten Anpassung von faktischem kirchlichen Verhalten und bürgerlichen Normen die diesen Konsens sprengende biblische Tradition entgegensetzen. Statt der Trennung von Glauben und Handeln will er beide im biblischen Sinn wieder aufeinander beziehen. Dies bedeutet für das Verständnis der Tora nicht die vorschnelle Konnotation von "Gesetz, Unfreiheit, Last, Joch, [...] [sondern ihre Sicht] als Weisung Gottes zum Leben" (17). Von hier aus lässt sich der Staat nicht als Ordnung Gottes verstehen, ebensowenig, wie die neuzeitliche Individualisierung und Verinnerlichung des Glaubens biblisch hingenommen werden können. Damit ist die Perspektive bezeichnet, aus der C. die Tora als Weisung Gottes für die christliche Ethik wiedergewinnen will. Dazu ordnet er seine Beiträge in die sechs Kapitel: Gott - Gewalt - Recht - Soziale Gerechtigkeit - Fremdenschutz - Menschheit, die wesentliche Themen der Ethik in ausgewählten Aspekten abhandeln.

Als Beispiel für die Bedeutung der Tora als Weisung Gottes für die Christen sei auf C.s Reflexion des Naturrechtes hingewiesen. C. widerspricht der Vorstellung eines Wissens vom Guten, das im Herzen der Menschen angesiedelt ist. Er weist nach, dass diese Vorstellung eine verdeckte Übernahme von Jer 31,33 ist, wobei aber die alttestamentliche eschatologische Aussage zudem präsentisch-eschatologisch umgedeutet worden ist. Damit wird die Zusage einer gerechten Welt fälschlich in diese Zeit transponiert. "Der Messias soll eine gerechte Welt bringen, in der alle Kinder leben dürfen (Jes 65,29) und alle Tränen abgewischt werden (25,8) - in einer solchen Welt leben wir eindeutig nicht. Wir hoffen mit den Juden und nicht anders als sie, dass Gott so handeln wird. In Christus haben wir nur einen Anfang" (32). Damit ist der einflussreiche philosophische Gedanke des Naturrechts in der Ethik, den die katholische Ethik weitgehend geprägt hat und der auch für viele Ansätze evangelischer Ethik wichtig war, zu Gunsten des Verständnisses der Tora als exklusive Weisung Gottes an die Juden zurückgewiesen: "Was Gott den Menschen nach der biblischen Darstellung zu sagen hat, ist nicht schon von Schöpfung und Geburt her in ihren Herzen zu finden. Es ist uns eben mitgeteilt, gesagt, was gut ist" (31). Auch wichtige neutestamentliche Stellen (wie Mt 5,17 ff.) weisen auf die ganze Tora als Weisung Gottes, die allen Christen gilt. Rechtfertigung heißt dann - in Auslegung von Röm 3 - "der Glaube macht Menschen gerecht, weil glauben heißt, anzufangen gerecht zu leben" (84). Der effektive Anfang dazu kommt aus dem Glauben, der den Menschen "auf die Spur der Tora [setzt], dreht einen in Richtung auf die Gebote" (85), womit C. durch die Relation von Glauben, Rechtfertigung und Tora die traditionelle protestantische Rechtfertigungslehre in der Nachfolge Luthers korrigiert sieht.

In den weltbezogenen Themenbereichen von Gewalt, Recht, sozialer Gerechtigkeit, Fremdenschutz und Menschheit konkretisiert C. seine biblisch gewonnenen Einsichten an heute relevanten Problemen. Den Sachverhalt der Kontextbezogenheit der alttestamentlichen Gesetze löst C. durch deren Zeitenthobenheit: "Indem sie [die Gesetze] aber Teil des einen göttlichen Rechtsbuches werden, bleiben sie - wenn auch auf veränderte Weise - auch dann als Anspruch Gottes und seiner Gerechtigkeit in Geltung, wenn diese Konstellationen nicht mehr gegeben sind" (186). Diese Auffassung konkretisiert sich in dem Wirken Gottes als Anwalt der Schwachen, wobei er und seine Anhänger deren Recht praktizieren und durchsetzen.

Mit diesem Buch will C. nicht nur die alttestamentlichen Grundlagen für eine christliche Ethik herausstellen, sondern sucht zugleich deren gegenwärtige Relevanz auszusagen. Dies geschieht methodisch so, dass zum Beispiel eine heutige Problemlage skizziert wird, etwa am Beispiel von Asylsuchenden und Flüchtlingen. Durch die sich daran anschließende Darstellung entsprechender biblischer Sachverhalte soll sich deren Bedeutung für die heutige Situation nahe legen. Eine Berücksichtigung dessen, was Lessing den garstigen Graben nannte, fehlt also ebenso wie eine sozialwissenschaftliche Reflexion unserer Gegenwart und deren Probleme, wie auch eine Antwort auf die zu stellende Frage nach der Kompatibilität christlicher mit nichtchristlicher Ethik. Außerdem erreichen C.s Hinweise auf die antijüdische Reflexion des Alten Testaments und dessen Verwerfung zu Gunsten des Evangeliums nicht die Komplexität des hiermit angesprochenen Themas Gesetz und Evangelium. Daneben darf nicht übersehen werden, dass C. zu Recht auf die Bezogenheit christlich-ethischer Vorstellungen auf das Alte Testament hinweist und damit die Berechtigung herausarbeitet, das Alte Testament als für das Neue Testament maßgebliche Tora zu verstehen. So ist zugleich dem unreflektierten Gebrauch dogmatischer Deutungsschemata widersprochen. Darüber hinaus aber stellt sich die hier nicht zu beantwortende Frage nach der Gestalt einer zeitgemäßen christlichen Ethik. Ist sie nur in der Weise C.s bibelfundiert zu gewinnen, oder bedingen die Probleme der Gegenwart nicht auch die Berücksichtigung weiterer Denkmodelle?