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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

613–615

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Veltri, Giuseppe

Titel/Untertitel:

Gegenwart der Tradition. Studien zur jüdischen Literatur und Kulturgeschichte.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2002. XXVII, 319 S. gr.8 = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 69. Lw. Euro 103,00. ISBN 90-04-11686-9.

Rezensent:

Martin Stöhr

Veltri ist Inhaber des Lehrstuhls für Judaistik/Jüdische Studien an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Direktor des Leopold-Zunz-Zentrums zur Erforschung des europäischen Judentums. Er legt mit diesem keineswegs nur additiv angelegten Sammelband eine Hermeneutik vor, die in der Kohärenz ihrer grundsätzlichen Überlegungen und ihrer 15 Einzelstudien beeindruckt.

Erst in der jüngeren Gegenwart taucht jüdische Hermeneutik in den Debatten der Religionswissenschaften und der christlichen Theologie als ein eigenständiger Gesprächspartner auf. Nicht zuletzt die Ansätze zu einer Erneuerung der jüdisch-christlichen Beziehungen, deren Kern in der Überwindung christlicher, bis ins Neue Testament zurückgeführter Antijudaismen besteht, hat zu einer neuen Aufmerksamkeit auch für die Arbeit jener jüdischen Wissenschaftler geführt, die sich nicht explizit zu "christlich-theologischen" Themen äußern.

Das Buch von V. ist ein gutes Beispiel dafür, dass aus einem doppelten Grund diese Arbeiten über den Kreis der Judaisten hinaus breite Beachtung verdienen. Einmal geht es um den Bezug zur gemeinsamen Heiligen Schrift der Hebräischen Bibel und ihre jeweils innerhalb des Judentums wie innerhalb des Christentums unterschiedlichen Auslegungen und Überlieferungen. Deren variantenreiche inhaltliche Verständnisse und methodische Zugänge verbieten die traditionell dogmatische Figur, die aus dem Judentum biblischer und nachbiblischer Zeiten eine bloße Vorgeschichte des Christentums macht, das man zu kennen und/oder vernachlässigen zu können meint.

Zum anderen ist die zweifache Fortsetzungsgeschichte dieser Heiligen Schrift in der rabbinischen Literatur und im nachbiblischen Judentum sowie im Neuen Testament und im Christentum eine Einladung zu einem Diskurs, der die Existenz des einen Zweiges nicht als einzige Erfüllung des gemeinsamen Erbes auf Kosten des anderen Zweiges begreifen darf. Hier gewinnen die Arbeiten beispielsweise zur Kanonfrage, zur Übersetzungsproblematik der LXX, zu den Eingriffen christlich-staatlicher Macht unter Justinian in die synagogale Liturgie oder zur Bewertung "heidnischer" Philosophie und Ethik babylonischer, ägyptischer oder griechischer Provenienz über ihre detailliert informierenden Einblicke in die innerjüdische Debatte hinaus eine exemplarische und aktuelle Bedeutung. An ihr kann weder exegetische noch historische noch systematische theologische Arbeit vorübergehen, zumal die Studien in einem breiteren kultur- und geisteswissenschaftlichen Horizont angelegt sind.

Der vorliegende Band macht deutlich, dass die Asymmetrie in den Beziehungen zwischen Judentum und Christentum nicht nur in einem christlichen Monopolanspruch, über die einzig richtige Deutung des Alten Testamentes zu verfügen, bestand, sondern auch in den unterschiedlichen Existenz- und Entfaltungsmöglichkeiten einer machtförmigen Christenheit und einer bedrängten, jüdischen Minderheit, die in ihrer Umgebung ständig wissenschaftliche und alltägliche Urteile über sich selbst hören (und erleiden!) musste, die mit ihren eigenen, ungehört bleibenden Selbstverständnissen keineswegs übereinstimmten.

Umso eindrucksvoller sind die in allen Beiträgen dargelegten Beispiele nicht nur einer notwendigen jüdischen Apologetik, sondern vor allem auch die einer innerjüdischen scharfen Debatte mit innovativen, die Tradition auch überholenden Aussagen, die bis zu einer "historisch-kritischen" Arbeitsweise (279 f.) gelangen, obwohl "auf der anderen Seite die christliche Gelehrsamkeit wie ein Schakal darauf wartete, dass Juden die eigenen Traditionen in Frage stellen würden". Dieser "bittere Nebeneffekt" einer "Ausnützung durch die im Mittelalter sehr beliebte christliche antijüdische Literatur" hat ein Gespräch zwischen den Partnern auf Augenhöhe lange, zu lange verhindert.

War in der christlichen Theologie bisher das Verhältnis von "Tradent" und "Traditum" (Veltri) allzu eng und allzu häufig an den Fragestellungen der unterschiedlichen evangelisch-katholischen Schrift- und Lehrverständnisse orientiert oder an der Überlieferungsgeschichte der Bibel bearbeitet worden, so bietet V. eine erhebliche Erweiterung des Arbeitshorizontes und der Fragestellungen an. Darüber hinaus ermöglicht eine Fülle von unterschiedlichen Fallstudien nicht nur die Überprüfung seiner Grundthesen. Er breitet auch ein reichhaltiges Material aus verschiedenen Epochen und Gattungen der jüdischen Literatur sowie der jüdischen Kultur- und Religionsgeschichte aus.

Drei Schwerpunkte der hier vorgelegten Forschungen sind zu benennen: Einmal das Problemfeld "Bibel und Bibelübersetzungen". Eindrucksvolle Beispiele wie der Kommentar zur hermeneutischen Regel und die Übersetzung zum notwendigen Korrelat des Textes werden z. B. an den Papyri Graecae Magicae und an Texten aus der Kairoer Geniza und am zweiten Themenschwerpunkt der "Jüdisch-hellenistischen Literatur" ausgearbeitet, aber weiter auch in kulturgeschichtlichen Untersuchungen zur "Jüdischen Magie", jener "ungeliebten Tochter der Wissenschaft". In allen Themenfeldern geht es darum, "den Herausforderungen der Gegenwart mit Hilfe der Tradition zu begegnen sowie die überlieferten Texte und Konzepte mit neuer Bedeutung zu füllen und auf diese Weise die Vergangenheit zu aktualisieren". Alle Beispiele zeichnen sich durch subtile Textanalysen und eine umfangreiche Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur aus.

Eingeleitet wird der Band durch prinzipielle Überlegungen zu "Hermeneutik und Methode", die sowohl auf die rabbinischen Verständnisse von Überlieferung und Übersetzung eingehen wie auf philosophisch-hermeneutische Probleme der Antike und der Gegenwart.

An 15 Beispielen wird gezeigt, was "Tradition als Gegenwart" in verschiedenen Situationen und Zeiten heißt. Es ist ein "literarisch-schulorientiertes Mittel, das das tradere, das Überliefern, zu einem perpetuum hermeneuticum macht, zu einem Kreis also, der spiralartig stets nach oben wächst, trotzdem immer die gleiche Gestalt beibehält. Die Tradition vergegenwärtigt sich, indem der Tradent sich des traditums kreativ bewusst wird und es als traditio entwickelt, nach einigen Regeln, die schon einen wesentlichen Teil des Überlieferten darstellen."

Jene kreative und innovative Verlebendigung und Vergegenwärtigung der Vergangenheit und der Tradition ist eine Alternative zur Absicherung der überlieferten Wahrheiten durch ein Lehramt oder durch einen Biblizismus, die beide Mühe haben, sich gegen fundamentalistische Folgerungen ihrer Vertreter zu sichern.

Auf eine wissenschaftlich hier gut begründete Aktualität, die nicht das vordergründig leitende Erkenntnisinteresse, wohl aber ein wichtiges Ergebnis der Untersuchungen ist, sei hier noch besonders hingewiesen. Es ist die vielfach belegte "Wiederentdeckung der Vergangenheit als Werteträgerin" mit ihrem innovativen Potential - jenseits allen puren Konservatismus sowie Historismus und jenseits aller religiösen Nostalgie.