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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

603–605

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Waldenfels, Hans [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion. Entstehung - Funktion - Wesen.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 2003. 250 S. 8 = Grenzfragen, 28. Geb. Euro 20,00. ISBN 3-495-48069-2.

Rezensent:

Horst Bürkle

Der Band vereinigt acht Vorträge des Symposions, das das Institut der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung im Rahmen seiner 44. Jahrestagung vom 25.-29. August 2000 in Feldafing durchgeführt hat. Der Herausgeber weist in seiner Einleitung unter Berufung auf Stimmen der Gegenwart auf "eine weltweite Renaissance der Religion" (Der Spiegel 52 [2000], 112) zu Beginn des 21. Jh.s hin. Von besonderer Bedeutung erscheint dabei in Bezug auf die Religion "die Ausbreitung des gesellschaftlichen Relativismus ... Längst leben wir in einer Zeit, in der neben dem Bekenntnis zu dem einen Gott ein wie immer gearteter neuer Polytheismus sein Haupt erhebt (vgl. dazu mit weiteren Hinweisen Waldenfels 1997 b, 87-107)" (= Gott. Auf der Suche nach dem Lebensgrund, Leipzig 1997).

Die Frage der Wahrheit in der Religion (Hinweis auf die Enzyklika Fides et ratio Papst Johannes Pauls II.) - ihretwegen "war aber die Geschichte der Religionen bis in die Gegenwart hinein auf weiten Strecken auch eine Geschichte von Glaubens- und Religionskriegen, von Verurteilungen, Ausschlüssen und Trennungen" (15) - lässt "die Frage der Gewalt in Verbindung mit Religionen heute erneut (als) ein schwerwiegendes Problem" erscheinen (Hinweise auf R. Girard, G. Baudler, H. Küng). "Aus der Feststellung der Eckdaten" ergeben sich drei unterschiedliche "Einstellungen" zur Religion: Abwehr, Dialog, Indifferenz. Drei Themenkreise sind es, die sich auf Grund der Situationserhebung zur Behandlung des Themas anbieten: Entstehung der Religion, ihre Funktion und ihr Wesen.

Zum ersten Themenkreis gehören die Vorträge des Münsteraner Ur- und Frühgeschichtlers K. Narr "Frühe Religion" (27-70 mit einem siebenseitigen Litaturverzeichnis) sowie des systematischen Theologen U. Lüke (TH Aachen) über "Der Mensch - Das religiöse Wesen. Aus ethologischer, paläanthropologischer und theologischer Perspektive". Narrs Beitrag gibt einen ausführlichen Überblick über die bisherigen Grabungsergebnisse und den derzeitigen Forschungsstand, muss aber im Blick auf die Fragestellung abschließend feststellen: "Es bleiben mancherlei Rätsel. Wie immer man die Befunde interpretiert als Anzeichen für Religion oder anderes, eine anthropologische - auch ideologische oder religiöse - Voreinstellung spielt durchweg mit; dies zu leugnen wäre nichts anderes als Selbsttäuschung" (65).

Lüke leitet nach einem prähistorischen Längsschnitt über die "phylogenetische Betrachtung der Hominiden" über zu einer Gewichtung gegenwärtiger theologischer Seelenlehren (insbesondere bei J. Card. Ratzinger und K. Rahner). Ergebnis: "Im Grenzgebiet von Theologie und Biologie liegt eine große bedauernswerte und -bedürftige Brache. Es ist weiter Raum und höchste Zeit, sie mit einem ernsthaften und lernbereiten interdisziplinären Dialog zu bestellen" (91). Diese Forderung wird von D. Meschedes Thema unterstrichen: "Wieso haben sich Religion und Naturwissenschaft so wenig zu sagen?" Seine Versuche einer Beantwortung dieser Frage bleiben im Allgemeinen: Naturwissenschaftlicher "Fortschritt verursacht Fragen an die Religion", den Naturwissenschaften "steht eine gewisse Demut an", "Herausforderungen als Anknüpfungspunkte nutzen". Die Dokumentation der anschließenden Diskussion spiegelt dieses Dilemma in aufeinander nicht bezogenen Einzeläußerungen. Bedenkenswert: Pöltner: "Wird Religion nicht auf Ethik reduziert?", Schockenhoff: "die Theologie ist häufig auf ihre existentielle Bedeutsamkeit für den Menschen reduziert", Honnefelder: "Die Theologie droht auf existentielle Bedeutungsreste zu schrumpfen".

K. Gabriel bestimmt unter Auswertung neuerer Analysen den Standort der "[post]moderne[n] Religiosität zwischen Säkularisierung, Individualisierung und Deprivatisierung". Auf Grund der im soziologischen Fachjargon vermittelten Einsichten werden "alternative Konsequenzen" benannt: zunehmende gesellschaftliche wie individuelle "Abkehr von der Religion", "innere Säkularisierung der kirchlichen Organisationsstrukturen", "Entprivatisierung der Religion, verbunden mit einem die religiöse Mobilisierung stärkenden Pluralismus und mit einer zivilgesellschaftlichen und intermediären Stellung der Glaubensgemeinschaften", "durch ethnische und politische Konflikte gespeiste Verteidigung religiöser Bestände" (129). Der Münchner Dermatologe M. Volkenandt (promovierter Theologe) spricht unter dem Thema "Grenzen heutigen Gesundheitsverständnisses" die falschen Überhöhungen und Vereinseitigungen gegenüber den Leistungen der Medizin im Horizont unserer Gesellschaft an ("Hauptsache gesund!", Ideologisierung des Leibes, "der zynische Traum einer leidfreien Gesellschaft und die Chance, sich Leid und Tod zu stellen"). Das Ganze ist (unter Behandlung neuester Fachliteratur) ein Plädoyer für ein integrales Medizinverständnis, berechtigterweise verstanden als ein "Beitrag zur Befähigung zu ganzheitlicher Gesundung, zu gelungenem Leben und somit auch zur Realisierung geistig-seelischer und geistlich-religiöser Wirklichkeiten" (145).

M. Lutz-Bachmann, Frankfurt, ("Religion nach der Religionskritik") vertritt die These, dass die Religionskritik nach Hegel zu ihrem Ende gekommen sei. Er stützt seine These mit einem begriffsgeschichtlichen Überblick beginnend mit Cicero sowie einer Zusammenfassung neuzeitlicher Religionsphilosophie von Locke bis Nietzsche. Die "kopernikanische Wende" im Verhältnis von philosophischer Vernunftkritik und Religion sieht er seit der "Dialektik der Aufklärung" (Horkheimer, Adorno) darin, dass Philosophie nicht mehr den Anspruch erhebt, den alleinigen Maßstab für den Wahrheitsgehalt der Religion abzugeben.

Das Verhältnis von "Toleranz und Wahrheit in pluralistischer Zeit" behandelt der Münchner systematische Theologe Peter Neuner. Dem dient eine explizite Darlegung des Begriffs "Pluralismus" im heutigen gesellschaftlichen und religiösen Kontext. Die mit den Namen Hick, Knitter, Swidler u. a. verbundenen pluralistischen Religionstheorien werden ausführlich erörtert. Ihnen wird entgegengehalten, dass von ihnen gegenüber anderen Positionen "keineswegs die Toleranz praktiziert wird", die "der Pluralismus theoretisch begründen und legitimieren will" (205). Dem wird eine christliche Grundlegung der Toleranz gegenübergestellt, wie sie im Zweiten Vatikanischen Konzil im Recht auf religiöse Freiheit und in der Würde der Person begründet und "durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird" (209). Dasselbe Thema nimmt G. Pöltner, Wien, ("Wahrheitsanspruch in pluralistischer Gesellschaft") nochmals auf und bestimmt "Wahrheit als an uns gerichteten Anspruch". Darum gilt: "Eine pluralistische Gesellschaft lebt nicht vom Verzicht, sondern von der Anerkennung und der institutionalisierten Ermöglichung des Wahrheitsanspruchs in seinen sowohl theoretischen als auch lebenspraktischen Erscheinungsformen" (235).

Die einzelnen Beiträge dieses Symposions decken in je eigenen, fachspezifischen Themenschwerpunkten das Spektrum ab, in dem heute Religion in Erscheinung tritt. Darin versuchen sie dem weit gesteckten Rahmen unter Berücksichtigung ihrer "Entstehung", ihrer "Funktion" und ihres "Wesens" gerecht zu werden und bieten informative Ein- und Überblicke. Der Band zeigt aber auch die Grenzen, die der Behandlung einer dermaßen weit gefassten Thematik im Rahmen eines Symposions gesetzt sind.