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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

579–581

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Friedrich

Titel/Untertitel:

Pädagogik und Religion. Eine Einführung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 221 S. kl.8 = Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft, 19. Kart. Euro 17,00. ISBN 3-17-016963-7.

Rezensent:

Günter R. Schmidt

"In der zeitgenössischen erziehungswissenschaftlichen Literatur finden sich nur selten Forschungsbeiträge oder theoretische Erörterungen zu Religion oder zum Zusammenhang von Pädagogik und Religion." Für diese "religiöse Abstinenz der modernen Erziehungswissenschaft" nennt Schweitzer drei Motive, ein historisches, ein kulturdiagnostisches und ein wissenschaftstheoretisches: (1) die Geschichte der Pädagogik als Geschichte der Selbstbefreiung von "religiösen und kirchlichen Bindungen", (2) die Säkularisierungsthese, nach der Religion ständig an Bedeutung, also auch an pädagogischer Bedeutung, verliert, (3) das "Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft als einer säkularen, nur den Ansprüchen von Wissenschaft selbst unterworfenen Disziplin". Er zeigt die Bedeutung des Nachdenkens über Religion zunächst an pädagogischen Klassikern von Comenius bis W. Flitner auf. Es folgen "empirische Zugänge". Sie verdeutlichen, dass von einer fortschreitenden Säkularisierung im Sinne des allmählichen Verschwindens von Religion kaum die Rede sein kann, wenn sich auch die institutionellen Bindungen lockern und die Religionsgemeinschaften "einer zunehmenden inneren und äußeren Pluralisierung" ausgesetzt sind. "Systematische Verhältnisbestimmungen zwischen Pädagogik und Religion" bilden den wichtigsten Teil des Buches (103-184).

Die pädagogische Theoriebildung kann nicht davon absehen, dass sich Aufwachsenden die Fragen nach "Sinn", nach "Gerechtigkeit", nach der eigenen "Identität", nach Orientierung angesichts der Religion des "anderen" und nach "Gott" stellen und dass in ihrem gesellschaftlichen Umfeld auch Religionsgemeinschaften existieren. Bei der Thematisierung von Erziehungs- und Bildungszielen sieht sie sich selbst "vor umfassende Sinnfragen bzw. vor Fragen von Anthropologie und Ethik" (125) gestellt, denen sie nicht in die "weltanschauliche Neutralität einer professionellen oder wissenschaftlichen Pädagogik" (162) entkommen kann, weil auch in eine solche Welt- und Menschenbilder immer schon "eingeflossen sind bzw. noch immer einfließen". Will allgemeine Pädagogik mehr sein als nur deskriptive Erziehungswissenschaft oder auf einen engeren Geltungsbereich beschränkte Erziehungslehre, dann bedarf sie allgemeingültiger Werte und Moralbegründungen oberhalb des pluralen Dissenses. So erklärt sich, warum Habermas sich mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns und seiner diskursethischen Begründung der Menschenrechte besonders in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft solcher Beliebtheit erfreut. Sch. zeigt indessen vier "Aporien einer universalistischen Normen- und Identitätsbegründung" auf: die Unreduzierbarkeit von Religion auf Moral, die Angewiesenheit auf "Sinnerfahrungen, aus denen Handlungsbindungen und -motive erst erwachsen können", die Abstraktheit so gefundener Normen und die Angewiesenheit von Erziehung auf "konkrete Lebensformen". Gegenüber konkreter Religion vertritt die Pädagogik das "Wohl des Kindes" (176). Daraus folgen pädagogische Kriterien, denen auch religiöse Erziehung zu entsprechen hat: Es ist ihr verboten, "irreversible Einschränkungen eigenständiger Lebensentscheidungen" aufzuzwingen und Ängste zu erzeugen. Sie soll "eine angemessene Wertorientierung" begründen, ein "Sinnangebot" machen sowie "Phantasie und Kreativität in der Persönlichkeitsentwicklung" (178) unterstützen. Der Erziehungswissenschaftler nimmt als solcher konkrete Religion aus der "Außenperspektive" wahr, denn er kann sich nicht "auf das Selbstverständnis einer Religion verpflichten lassen" (181). Er kann allerdings religiös begründete Erziehungsbestrebungen und -praktiken nur verstehen, wenn er sich mindestens "probeweise" (184) auch auf die "Innenperspektive" einlässt. U.a. hier gewinnt Theologie für ihn Bedeutung.

Das Buch zeigt nicht nur, warum allgemeine Pädagogik die religiöse Thematik nicht einfach ausklammern und der Religionspädagogik überlassen kann, sondern nennt auch konkrete Forschungsdesiderate. Man würde wünschen, dass es schon eher erschienen und in akademischen und schulischen pädagogischen Milieus Wirkungen gezeitigt hätte. Seine gut durchstrukturierte und stringente Argumentation bietet dem Kritiker kaum Angriffsmöglichkeiten. Nur eine Frage sei abschließend erlaubt: Religion wehrt sich nachdrücklich dagegen, nach Kriterien beurteilt zu werden, die ihr nicht selbst entnommen sind. Dem Christentum gegenüber sind allgemeinpädagogische Evaluationsansprüche nur deshalb unproblematisch, weil es bei Kriterien wie "Wohl des Kindes" auf seine eigenen Säkularisate trifft. Welche Chancen haben sie aber gegenüber dem Islam, auf dessen pädagogische Integrierbarkeit Sch. zu hoffen scheint?