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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

576 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Pithan, A., G. Adam, u. R. Kollmann[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch Integrative Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002. 638 S. gr.8 = Eine Veröffentlichung des Comenius-Instituts. Geb. Euro 34,95. ISBN 3-579-03288-7.

Rezensent:

Martina Plieth

Das Handbuch Integrative Religionspädagogik - ein buntes und abwechslungsreiches Buch, nicht nur vom Einband, sondern vor allen Dingen auch vom Inhalt her. Ganz so wie der Untertitel es avisiert, werden mit seiner Hilfe Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde vermittelt. Leben mit Behinderungen steht dabei im Zentrum, und der Grundsatz Eine Gesellschaft ohne Behinderte ist eine behinderte Gesellschaft wird auf vielfältige Weise anschaulich gemacht.

Nach einer informativen Einführung, die einen guten Überblick über Aufbau und Struktur der voluminösen Textsammlung (605 Seiten plus Anhang) verschafft, wird in insgesamt neun Unterkapiteln das Thema Integration statt Segregation verhandelt.

Die ersten Artikel eröffnen Zugänge zu Erlebenswelten und Erlebensweisen von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen. Dabei kommen begriffliche Klärungen (Was ist Gesundheit? Was ist Krankheit? Was macht Behindertsein aus? Was ist Normalität?) ebenso zum Tragen wie konkrete Alltagserfahrungen im Kontext von Behinderung körperlicher, psychisch-seelischer und gesellschaftlicher Art. Und auch ein Blick auf die historische Entwicklung integrativer Religionspädagogik wird ermöglicht.

In dem Abschnitt Gesellschaftliche Perspektiven werden Bewegungen skizziert, die in der Diskussionslandschaft unserer Gegenwart zu Recht für (hoffentlich heilsame) Unruhe sorgen: Bioethischen Fragestellungen im Umfeld von Biowissenschaften und Biotechnologien wird kritisch nachgegangen; die Rechte behinderter Kinder kommen ebenso zur Sprache wie das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderungen ganz allgemein, und ein diakonisch-integratives Konzept (Aktion Menschenstadt) erhält Konturen bzw. vermittelt konkrete Bilder des Zusammenlebens von behinderten und nicht-behinderten (normal-behinderten?) Menschen.

Das umfangreiche dritte Kapitel des Handbuches Integrative Religionspädagogik beschäftigt sich mit themaspezifischen theologischen Positionen, die den Bereichen exegetisch-systematische und pastoraltheologische Grundsatzfragen zuzuordnen sind. Begriffe mit breitem Bedeutungsspektrum und intensiver Wirkungsgeschichte finden hier Berücksichtigung; es geht um die Rede von der Gottesebenbildlichkeit beschädigten Lebens, um Heilungswunder und um Schuld, aber auch um Ideologien und Ganzheitszwänge. Die Bedeutung von Achtsamkeit und Barmherzigkeit wird herausgestellt, und auch das komplexe Thema Menschenwürde bleibt nicht ausgespart. Besonders positiv ist die Verkoppelung von römisch-katholisch und protestantisch geprägten Positionen zu vermerken; und auch der Blick hin zum Islam und zum Judentum weitet den Horizont in angemessener Form. Schade nur, dass diesbezüglich nicht noch mehr, insbesondere unter religionswissenschaftlichen Gesichtspunkten interessantes Material gesichtet und gesammelt werden konnte. Aber das ist natürlich nicht den Herausgebern anzulasten.

Wenn es um integrative Religionspädagogik geht, dürfen genuin pädagogische Betrachtungen selbstverständlich nicht fehlen. Von daher ist es folgerichtig und begrüßenswert, dass im vierten Kapitel des Handbuches Modelle und Konzepte schulischer Integration vorgestellt und die Bedingungen integrativer Didaktik gesondert bedacht werden. Weiterführend ist gewiss auch der abschließende Blick auf die Geragogik, der vor einer all- zu starren Fixierung auf das Kindes- und Jugendalter bzw. die Schulsituation bewahrt und einmal mehr deutlich macht, dass integrative Arbeit auf alle Lebensalter und -stufen zu beziehen ist.

Mit der Gefahr einer Überindividualisierung der Integrationsfrage beschäftigen sich die Beiträge unter der Oberüberschrift Integration als institutionelle Herausforderung (Kapitel 5), die Leitlinien konkreter Integrationsansätze vorstellen und deren Anwendung (z. B. in integrativen Schulen, vollstationären Einrichtungen und Heimen) nachzeichnen. Hier kommen sogar österreichische Perspektiven zum Tragen, und die binnendeutschen Grenzen werden überschritten.

Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich auf praktische Integrationsbemühungen im schulischen Lehr-Lern-Bereich (Kapitel 6) und unterschiedliche Formen konkreten integrativen Arbeitens (Kapitel 7). Sie sind äußerst kreativ ausgerichtet und zeigen die Dynamik und den Variantenreichtum religionspädagogischer Integration. Die Themen Freiarbeit, Bewegung und Tanz, Musik, Kindertheater, Symbollernen und Religiöse Gebärden werden behandelt, und so entsteht nicht nur ein plastischer Eindruck von dem, was andere mit und für behinderte Menschen gestalten, sondern auch ein Impulspool, der Ideen für eigene Vorgehensweisen bereithält.

Das vorletzte Kapitel Praxisfeld Gemeinde weist kirchliche Wirklichkeit als bildungsrelevante Größe mit integrativer Perspektive bzw. der Notwendigkeit, immer mehr und immer deutlicher integrative Perspektive zu entwickeln, aus. In ihm werden Möglichkeiten und Grenzen gemeindlicher Integrationsarbeit nüchtern in den Blick genommen und erfreulich klar, ohne Verschleierungstendenzen benannt.

Mit den Schlussbemerkungen zum Thema Aus- und Fortbildung (u. a. bezogen auf Sonderschul- und Regelschullehrer und -lehrerinnen sowie Facherzieher und -erzieherinnen) wird am Ende des Handbuches ein richtungsweisender Akzent gesetzt, der für integrative Arbeit zukünftig Notwendiges aufzeigt und so deren Marge für die kommenden Jahre bestimmt.

Wer das ganze Handbuch von vorn bis hinten durchgearbeitet hat, verfügt anschließend über eine Vielzahl von Fakten und vor allen Dingen über eine Art Orientierungs-Landkarte zum Thema Integrative Religionspädagogik. Man gewinnt Überblick über ein komplexes Denk- und Handlungsfeld, das täglich neu zu beackern ist, und kann davon ausgehen, eine tragfähige Basis für die Beurteilung fremder Konzeptionen und Modelle sowie eigener Theorie und Praxis gewonnen zu haben.

Die Lektüre (und sei es auch nur die auszugsweise) dieses bunten und abwechslungsreichen Buches ist deshalb unbedingt zu empfehlen.