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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

563–566

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ade, Edouard

Titel/Untertitel:

Le temps de l'Église. Esquisse d'une théologie de l'histoire selon Hans Urs von Balthasar.

Verlag:

Rom: Editrice Pontificia Università Gregoriana 2002. 357 S. gr.8 = Tesi Gregoriana. Serie Teologia, 79. Kart. Euro 30,00. ISBN 88-7652-907-1.

Rezensent:

Barbara Hallensleben

2005 jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag des Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar. Es ist zu erwarten, dass dieses Jubiläumsjahr eine neue Phase der Aufarbeitung des immensen Lebenswerkes Balthasars einleiten wird. Dass noch viel zu tun bleibt, zeigt die hier vorgelegte Doktorarbeit, die 2001 an der Gregoriana in Rom angenommen wurde.

Der Vf. (*1960) ist Priester der Erzdiözese Cotonou/Benin und erhielt nach einem Doktorat in Soziologie an der Sorbonne seine Ausbildung u. a. in der "Casa Balthasar" in Rom. Er ist als Dozent und Leiter des "Centre d'inculturation du Sillon noir" in seinem Heimatland tätig. So sehr er mit der Theologie Balthasars verbunden ist, so sehr betont er die "distance de génération" wie die "distance culturelle" (16) gegenüber seinem Autor. Darin zeigt sich die veränderte Ausgangslage: Stand bislang die theologische Arbeit weitgehend unter dem Eindruck der ehrfurchtgebietenden Persönlichkeit Balthasars ( 1988), so wird jetzt dessen Werk in seiner theologischen Struktur zum Bezugspunkt. Außerdem ist eine Zwischenbilanz der Rezeption Balthasarscher Theologie zu ziehen, die in Übersetzungen und Sekundärliteratur eine beachtliche Ausbreitung erfährt. Auffällig ist, dass im Unterschied zu anderen bedeutenden Theologen des 20. Jh.s eine ernsthafte kritische Analyse seines Denkens bislang fehlt. Eher scheint Balthasar auf katholischer Seite in den Rang eines "kirchlich approbierten" Theologen aufgerückt zu sein, in dem man eine nicht zu schleifende Bastion gegen den Verfall von Glaube und Theologie zu erkennen meint.

A. gelangt zu einer (einzigen) kritischen Frage an Balthasars Theologie der Geschichte - einer Frage, die er allerdings von außen an seinen Autor heranträgt und die folgerichtig an dessen Theologie abprallt: Er vermisst eine explizite Theologie der Inkulturation, denn nach Balthasar verlieren angesichts der Kirche Christi "die Völker und ihre verschiedenen Kulturen die Dignität von theologischen Personen im Theodrama" (zit. 324 f.). Doch es fällt nicht schwer zu verstehen und zu verzeihen: Balthasars Kritik am "anonymen Christentum" (vgl. 325 f.), an einer Folklorisierung oder Nationalisierung des Christentums (vgl. 327) habe ihn gehindert, explizit den missverständlichen Begriff Inkulturation zu verwenden, während implizit seine ganze Theologie von der wahren Inkulturation spreche (vgl. 326). Die Dissertation gibt Anlass, die Tragfähigkeit dieser Apologie kritisch zu überprüfen, die Frage erneut von innen an Balthasars Theologie zu stellen und eher zu verschärfen als zurückzunehmen.

A. identifiziert sich recht weitgehend mit Balthasar. Seine Rechenschaft über die Methodik beschränkt sich auf den Hinweis, es gehe nicht um eine theologiegeschichtliche Einordnung, nicht um die Situierung der Geschichtstheologie in Balthasars Werk, "mais plus spécifiquement à repérer la voie d'accès à cette théologie de l'histoire" (9). Dieser Zugang wird schlicht erhofft von einer Interpretation "le plus près du texte" (14). Die Ergebnisse lassen sich anhand der dramatis personae zusammenfassen: 1. Zeit und Geschichte haben eine christologische, besser: trinitarische Mitte: Wie nach Thomas von Aquin die Sendung des Sohnes und des Heiligen Geistes die heilsökonomische Form ihres Hervorgangs aus dem Vater darstellen (vgl. STh I,43), so geht die Zeit hervor, indem sich der Sohn antwortend aus der Selbstmitteilung des Vaters empfängt und der Geist in dieser Beziehung das Innerste des göttlichen Wesens als Liebe offenbart. 2. Nur durch Maria erhält der ewige Sohn Zugang zum adamitisch-biologischen wie zum geistlichen Erbe der Menschheit. Die Beziehung Christi zu Maria als Braut und Mutter wird zum "tiefsten Herzen" der Theologie der Geschichte (vgl. Theologie der Geschichte, 56; zit. 82). Die einzigartige Subjektivität Marias ist zugänglich für die Gemeinschaft der Heiligen, ja potentiell für die ganze Menschheit, als "marianisches Prinzip", das sich in der anima ecclesiastica verwirklicht durch "expropriation de soi et une ecclésialisation de sa conscience singulière" (139). 3. Der Heilige Geist universalisiert die Zeit Christi: auf personale Weise in Jesus nach seiner Auferstehung sowie in den "vocations ecclésiales et personnelles" (70) der Zeit der Kirche, auf apersonale Weise ("apparemment impersonnel", 70) in den Sakramenten und Strukturen der Kirche.

Diese höchste Berufung von Zeit und Geschichte gerät unter Verdacht: Wenn die Zeit Christi die Erfüllung und das Ende der Zeit ist, gibt es dann überhaupt einen Platz für die Zeit der Kirche? Hat Jesus Christus selbst einen solchen Platz vorgesehen? Kann nach Christus noch wesentlich Neues und Bedeutsames in der Geschichte geschehen? Trotz aller Bemühungen A.s, mit Balthasar eine bejahende Antwort zu geben, bleibt die Bilanz negativ. Weshalb? Weil Balthasars Geschichtsverständnis in einer Subjekt-Objekt-Dialektik formuliert ist (vgl. 294 f.), die unweigerlich die personale Dimension auf ein subjektives Bewusstseinsgeschehen einschränkt, die Geschichte hingegen auf das objektive Material subjektiver Gestaltung reduziert. Indizien - von A. unbemerkt - lassen sich zur Genüge anführen: 1. Die "eigentliche" Heilsgeschichte ist überhistorisch (vgl. 243). Die Kirche nimmt die Geschichte der Welt "comme élément matériel subordonné" an, spielt aber darin "aucun rôle déterminant" (242). Ja, paradoxerweise ist die Kirche gerade, insofern sie Struktur und Institution ist, "relativement non-historique" (298) und ohne Einfluss auf die Geschichte (vgl. 295). 2. Eine radikale Abwertung der geschichtlichen Zeit ist die Folge. Außerhalb der bewussten Anerkennung Christi ist sie "irréel, perdu et déchu" (29.56). Selbst im Heilsgeschehen verblasst sie: Das Pfingstereignis etwa "ist historische Gegenwärtigsetzung eines Überhistorisch-Ewigen innerhalb der Geschichte. Der historische Anfang ist mehr eine Art Konzession des erhöhten Herrn an die zeitlichen Menschen ..." (Das Ganze im Fragment, 139; vgl. 244.254). 3. Die Sakramente stehen für Balthasar auf der Seite des "objektiven Geistes" und werden zusammen mit den kirchlichen Strukturen als apersonal gekennzeichnet (70.137.152. 225.237 f.261.264.295). Sie sind pure Mittel zum Zweck, um die personalen, d. h. rein subjektiven Berufungen zu verwirklichen: "seul leur but est appelé à rayonner au dehors" (295). 4. Durch den mit dem Gottesbewusstsein eins gewordenen Heiligen - wohlgemerkt als männliche Subjektivität (vgl. 138) - handelt Christus selbst "au-dessus de toute altérité" (229). In der geheiligten weiblichen Subjektivität handelt er durch "expropriation" (139; s. o.): "rien n'est peut-être plus incompréhensible et plus surnaturel que ceci: que la Mère ne soit morte ensemble avec le Fils" (211). 5. Die Aufhebung der "altérité" Christi gegenüber der Geschichte schlägt paradoxerweise um in die absolute Normativität des objektivierten historischen Materials - von der konkreten Heilsgeschichte bis zu den Gehorsam fordernden Strukturen der Kirche und den persönlichen Sendungen ihrer Heiligen. 6. Nicht mehr verwunderlich ist das Fehlen jeglicher Subjekthaftigkeit der Nationen und Kulturen im Heilsgeschehen. 7. Scharf fällt auch die Abgrenzung vom Alten Bund aus, der nur unter dem Aspekt des verweigerten Ja zu Christus in den Blick kommen kann und damit auf die Seite der unwirklichen, verlorenen und verfallenen Zeit gerät.

Auf die kühne Frage nach dem Subjekt der Geschichte gibt der A. abschließend die Antwort: "Ce sujet est le Christ et l'Église, et, à travers eux, intégrés en eux, aussi bien la conscience totale de l'humanité en une époque donnée ... que la conscience personnelle de l'individu" (338). Diese friedliche Aneinanderreihung wird durch die Arbeit selbst widerlegt: Christus ist der einzige, der das "l'Église, c'est moi" sprechen kann (141) - wie steht es um das Ich der Braut? Nur reale Einzelsubjekte können das bräutliche Gegenüber zu Christus verwirklichen, und aus diesen Einzelpersonen entsteht nach Balthasar keine personale Qualität der Kirche als Ganzer (vgl. 145) - in welchem Verhältnis steht also Maria zu allen anderen bräutlichen Subjekten? Bezieht sich der postulierte Subjektcharakter auf die überhistorische Heilsgeschichte - inwiefern auch auf das objektive historische Material außerhalb des Christusbewusstseins? Die personale Qualität der Kirche als Sakrament des Heils gemäß dem II. Vatikanischen Konzil kann unter Balthasars idealistischen Denkvoraussetzungen nicht in den Blick kommen, denn Person und Sakrament entziehen sich der Aufspaltung in Subjekt und Objekt. Nicht zufällig betont A., dass seine Untersuchung mit der konkreten Kirchengeschichte nichts zu tun habe (10). Kaum etwas in der Arbeit deutet darauf hin, wo in Raum und Zeit diese Theologie der Geschichte situiert sein könnte. So bleibt zu hoffen, dass nach der Theologie der Geschichte bald auch die (Un-)Geschichtlichkeit der Theologie Balthasars eine gründliche Untersuchung findet.