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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

560–562

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nientied, Mariele

Titel/Untertitel:

Kierkegaard und Wittgenstein. "Hineintäuschen in das Wahre".

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. XII, 406 S. gr.8 = Kierkegaard Studies. Monograph Series 7. Lw. Euro 98,00. ISBN 3-11-017567-3.

Rezensent:

Tilman Beyrich

"Gezielte Umwegigkeit" verspricht uns Mariele Nientied in ihrer Dissertation, die sie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) im Rahmen des Graduiertenkollegs "Repräsentation Rhetorik Wissen" angefertigt hat: von Kierkegaard zu Wittgenstein und wieder zu Kierkegaard. Kierkegaards Schriften im Horizont der Sprachphilosophie Wittgensteins und Wittgenstein im Horizont von Kierkegaards Theologie: ein schwieriges Terrain. Aber die Autorin erweist sich als äußerst souveräne Grenzgängerin.

I. Ausgangspunkt ist Kierkegaards These über die Unumgänglichkeit von indirekter Mitteilung für die Kommunikation existentiell relevanter Wahrheit. In einem kenntnisreichen Durchgang durch das Gesamtwerk Kierkegaards zielt die Arbeit darauf, die textuellen Strategien dieser Programmatik herauszustellen und auf ihre theologische und sprachphilosophische Problematik hin zu befragen. Dies geschieht, indem Kierkegaards missverständliche Rede vom Indirekten an Wittgensteins Untersuchungen über das Funktionieren von Sprache gemessen wird. Will man so etwas wie ein Ergebnis konstatieren, dann könnte man sagen: Kierkegaard nimmt Wittgensteins Einsichten über die zeigende - im Gegensatz zur sagenden - Qualität von Sprache vorweg. Aber Kierkegaards Programm krankt an seinem strikten Insistieren auf der Unkenntlichkeit des Religiösen nach außen: Von Wittgenstein könne man lernen, dass sich- wie jedes andere Fürwahrhalten - auch Religion nur zeigt in einer Lebensform. Doch N.s Arbeit ist vor allem reich an Details.

II. Das Buch gliedert sich in fünf Teile: Der erste widmet sich Kierkegaards Theorie und Praxis indirekter Mitteilung. N. bezieht sich darin zunächst auf die einschlägigen Äußerungen Johannes Climacus', auf das Buch Vorworte und auf die Textpragmatik der Erbaulichen Reden. Auf verschiedene Weise zielen Kierkegaards Texte stets darauf, eine eindeutige Lektüre zu verunsichern und damit den Leser selbst zur Autorität seiner Sinnfindung zu machen. Kierkegaards Schriften widerrufen sich selbst, denn sie wollen lediglich aufmerksam machen auf etwas, das sich der Sagbarkeit entzieht.

Der zweite Teil reinterpretiert daher Kierkegaards Theorie im Kontext der Wittgensteinschen Unterscheidung von Sagen und Zeigen. Im Rückgriff auf den Tractatus und auf die Philosophischen Untersuchungen und auf die Semiotik Peirces arbeitet N. die semiotischen Implikationen zeigender Modi von Sprache heraus. Das deiktische Moment der Sprache ermöglicht sehr wohl "sinnvolles Sprechen", allerdings lasse sich dieses eben nicht "dauerhaft kontrollieren und garantieren" (89).

Der dritte Teil enthält wieder minutiöse Kierkegaard-Lektüren, diesmal vornehmlich zu Der Begriff Angst. In dem Versuch, die Sünde zum Thema zu machen, werde - so N.s originelle Lesart - nachgetragen, "was die Situation, die indirekte Mitteilung nötig macht, heraufbeschworen hat und nachhaltig zeichnet" (9). Denn Sündigkeit und Sprachlichkeit sind Folgen desselben "Falls". Das Scheitern der Sprache ist für Kierkegaard Kennzeichen des postlapsarischen Menschen. N. gelingt es in diesem Zusammenhang, nicht nur Kierkegaards Hegel-Polemik (150 ff.), sondern auch die altkirchliche Pelagianismus-Debatte (166 ff.) und die biblische Genesiserzählung (181 ff.) in eine neue Perspektive zu rücken.

Der vierte Teil rekonstruiert ausführlich die epistemologischen Konsequenzen von Wittgensteins Sprachverständnis. Anhand von dessen Untersuchungen zum Aspektwechsel und zum Status von Glauben in Über Gewißheit erörtert N. die religiöse Brisanz von Wittgensteins Semiotik. Trotz ihrer disparaten Anliegen kämen Wittgenstein und Kierkegaard zu einer ähnlichen Bewertung des Glaubens. "Er ermöglicht Fürwahrhalten von Gewißheiten und lebenspraktische Bewältigung trotz des theoretisch nicht zu überwindenden Skeptizismus bei beiden." (11)

Der letzte Teil schließlich thematisiert noch einmal die Aporie von Kierkegaards indirekter Mitteilung: Kierkegaards Botschaften würden letztlich "der Indifferenz eines sich durchweg enthaltenden, selbst zunichtemachenden Autors [preisgegeben]. Kierkegaard droht zu verspielen, was die spielerische Freisetzung von Bedeutung motiviert hat, nämlich die ernsthafte und verbindliche Aneignung mit lebensprägender Relevanz" (12). N. führt daher anhand mehrerer Beispieltexte vor, wie sich das religiöse Anliegen Kierkegaards textuell doch zu zeigen versucht und immer mehr zu vereindeutigenden Maßnahmen führt: schon in den pseudonymen Schriften (311 ff.); dann in Kierkegaards Selbstabgrenzungsversuchen von seinem "alter ego Adler" (357 ff.); in seiner Selbststilisierung in den Schriften über sich selbst und schließlich in der Kennzeichnung seiner Schriftstellerei als imitatio Christi gemäß der Christologie der Einübung (369 ff.).

III. In all dem erweist sich N. als eine sehr genaue und originelle Leserin. Besonders anregend fand ich z. B. N.s Interpretation von Notabenes Frau in den Vorworten (49 ff.): Diese in der Literatur fast gänzlich unbedachte Frauengestalt wird bei N. zur Verkörperung jener Quasi-Transzendenz, die von Männern wie Notabene - resp. von herkömmlichen (wissenschaftlichen) Texten - nicht verstanden werden kann. Ihr gerecht zu werden macht alles Schreiben zu einer "vorworthaften Tätigkeit".

Überraschend ist auch N.s Lektüre der Erbaulichen Reden (61 ff.): Auch wenn Kierkegaard sie unter seinem Namen veröffentlicht, redeten sie auf keinen Fall weniger indirekt als die pseudonymen Schriften. Denn ihr wenig innovativer, biblizistisch-konventioneller Stil lasse den Autor viel gründlicher verschwinden als die Pseudonyme. Die von Kierkegaard beschworene Unkenntlichkeit der religiösen Existenz erreiche in ihnen ihren Höhepunkt.

Erhellend ist auch die Interpretation des Anfangs der Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins mit seinem Einstieg bei Augustin (108 ff.). N. gelingt es dort, die Problematik des Buches sofort in einen theologischen Kontext zu stellen, wie es ansonsten in Wittgensteinkommentaren eher unüblich ist. So wie auch andernorts immer wieder die souveräne Grenzüberschreitung zwischen Sprachphilosophie angelsächsicher Prägung, Theologie à la Kierkegaard und dekonstruktiver Lust am Text außerordentlich fruchtbar ist.

IV. Ist man am Ende des Buches angekommen, hat man vor allem gelernt, ein Schlusskapitel - das es nicht gibt - auch nicht zu vermissen. In ihrer Einleitung bezeichnet N. selbst die einzelnen Kapitel lediglich als verschiedene "Anläufe". Mit anderen Worten: abspringen, d. h. Schlussfolgerungen ziehen, muss der Leser oder die Leserin schon selbst. Allerdings: Die "Verzahnung" von Kierkegaard und Wittgenstein ist in manchen Kapiteln auch recht locker. So scheinen sich die weit ausholenden Wittgenstein-Darstellungen des Öfteren zu verselbständigen. Der große sprachtheoretische Apparat schlägt sich nur begrenzt in den Kierkegaardlektüren nieder. Und auch diese folgen ihren eigenen kierkegaardimmanenten Fragestellungen, oft ohne zu Wittgenstein zurückzufinden.

So einleuchtend etwa die Kennzeichnung des Kierkegaardschen Verfahrens als "grammatikalische Klärung" auch sein mag: Es wäre dann interessant, eine solche Klärung einmal inhaltlich zu probieren. Welcher Grammatik folgen die Begriffe Sünde oder Geist usw. bei Kierkegaard? Oder was folgt aus den angedeuteten Konvergenzen zwischen Kierkegaard und Wittgenstein in der Auffassung des Glaubens? Merkwürdigerweise wehrt sich N. in der Einleitung ausdrücklich gegen eine "instrumentelle Indienstnahme Wittgensteinscher Sprachphilosophie" für Kierkegaards Themen (5). Aber gerade dies schiene mir die Einlösung des Vorsatzes, "weniger über Kierkegaard und Wittgenstein als viel mehr mit ihnen [zu] arbeiten" (6).

Noch ein Wort zum Untertitel: "Hineintäuschen in das Wahre". Die Formulierung ruft ein ethisches Problem auf den Plan: Darf man denn das?

N. geht dem in einem sehr schönen Abschnitt über Furcht und Zittern nach (vgl. 327 ff.). Sie kommt - im Geleise Adornos und Levinas' und anders als Derrida - zu dem Schluss, dass Kierkegaards Theorie der Mitteilung letztlich von einer "Ignoranz dem Sozialen gegenüber" (337) geprägt ist: Kierkegaards angestrengtes Gottesverhältnis entwerte das Verhältnis zum Nächsten. Darauf möchte ich Folgendes einwenden: Kierkegaards Ethik ist tatsächlich provokant. Denn das Entscheidende, was ein Mensch für einen anderen tun soll, ist für ihn: diesem anderen bei seiner Gottesliebe behilflich zu sein. Dies ist uns modernen Lesern zu wenig für eine Sozialethik. Wir wollen dabei nicht stehen bleiben. Aber für Kierkegaard müssten wir erst einmal dahin kommen. Schließlich handelt es sich bei der Gottesliebe um das höchste (!) Gut des Menschen. Und dass solch eine andere Gewichtung der Güter sehr wohl auch dem Sozialen zugute kommt: dazu hat Kierkegaard zumindest indirekt einiges zu zeigen versucht.