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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

558–560

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Koritensky, Andreas

Titel/Untertitel:

Wittgensteins Phänomenologie der Religion. Zur Rehabilitierung religiöser Ausdrucksformen im Zeitalter der wissenschaftlichen Weltanschauung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2002. 320 S. gr.8 = Münchener philosophische Studien. Neue Folge, 20. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-17-017270-0.

Rezensent:

Michael Wladika

Koritensky hat den Versuch einer neuen Interpretation der gesamten religionsphilosophisch relevanten Momente des Denkens Wittgensteins unternommen. Man kann hier viel lernen und auch etliches kritisieren. Ich möchte in einem ersten Abschnitt die hauptsächlichen Themen und Interpretationsmotive, in einem zweiten einige problematische Punkte besprechen.

1. Hauptlinien: a) Entwicklungsgeschichte: Der Autor schreibt eine Entwicklungsgeschichte; es ist nach ihm eindeutig, dass in Wittgensteins Denken in religionsphilosophischer Hinsicht Fortschritte zu verbuchen sind. Diese bestehen in einer Revolution und mehreren folgenden Reformationen. Die Revolution findet nach Erscheinen des Tractatus statt: K. zweifelt zu Recht an der religionsphilosophischen Relevanz des Tractatus: In diesem ist nur von Transzendenz die Rede, "aber Transzendenz ist noch nicht gleichzusetzen mit Religion" (122). Transzendenz bleibt wichtig, aber sie wird sukzessiv - dies wird mit einer Fülle von Belegen dargestellt - "immer lebensnäher, personaler (Gott) und daher zugleich tiefer gefasst" (28). Diese Dinge sind schön dargestellt und sowohl hinsichtlich des Bruchs zwischen dem Tractatus und der Lecture on Ethics sowie den Bemerkungen zu Frazers Golden Bough I wie auch in der Nachzeichnung der folgenden Etappen überzeugend.

b) Existentielle Problematik: Dass Wittgenstein erst nach dem Tractatus zum Religionsphilosophen geworden ist, bedeutet nicht, dass sich durchhaltende religionsphilosophisch relevante Momente fehlen. Sehr stark wird das existentielle Motiv akzentuiert, die Lebenssinn-Frage. Ein solches Motiv generiert nicht automatisch Religionsphilosophie, lässt aber die Tendenz zu dieser und damit den Umbruch in Wittgensteins Denken verständlich erscheinen. Denn dem frühen Wittgenstein fehlt "die Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks der existentiellen Problematik und damit letztlich der Religion" (16). Das "damit" zeigt, inwiefern "Wittgensteins Phänomenologie der Religion" (Titel) "zur Rehabilitierung religiöser Ausdrucksformen im Zeitalter der wissenschaftlichen Weltanschauung" (Untertitel) dienen soll: Die Bedeutung philosophisch relativ ungeschützter religiöser Rede wird betont.

c) Religiöse Sprache und ihre philosophische Betrachtung: Wittgensteins Sprachauffassung ändert sich. "Die entscheidende Veränderung ... ist die Einsicht, dass nicht die Oberflächengrammatik der Sätze, sondern ihre Funktion festlegt, was einen Satz sinnvoll macht" (75). Ihre Funktion aber haben Sätze im Rahmen einer Lebensform; es ergibt sich, dass religiöse Sprache als sinnvoll betrachtet werden kann. Darüber hinaus - darauf pocht K. zu Recht - ist wegen der von Wittgenstein behaupteten mythischen Struktur der Alltagssprache (und der Nähe zwischen Mythos und Religion) Religion nicht auf eine Provinz der Weltanschauung beschränkt. Sie ist nicht ein Sprachspiel, eine Lebensform, ein Weltbild (drei Worte Wittgensteins, die bis zu einem gewissen Grad Worte für Gott sind), von dem man sich emanzipieren könnte.

Religiöse Sprache ist mehr als sinnvoll. Wie ist sie philosophisch legitimiert abzuhandeln? "Es ist nicht mehr der ganze sprachlogische Apparat des Tractatus nötig, sondern es reicht der Hinweis auf Erfahrungen, die die (meisten) Menschen teilen." (135) Wir greifen eben, so scheint es, irgendwie zu. Das Phänomen rückt in den Vordergrund, auf beschreibende und vergleichende Weise wird es vorgenommen. "Die religiöse Sprache enthält [im Verhältnis zu den sog. Wissenschaften] ... die umfassendere, tiefere Phänomenologie der Welt." (60) Ohne Zweifel. Die Frage ist nur, ob wir uns mit Beschreibungen zufrieden geben, zugegeben: mit gewisser Absicherung durch Reflexionen zu Funktion und Weltbildhaftigkeit sprachlicher Formen. K. ist Wittgenstein gegenüber zu zuvorkommend.

d) Phänomenologisches: Wittgenstein wendet sich sukzessiv stärker Phänomenen religiöser Redeweise zu. Solche Phänomene müssen Grundstrukturen der Sprache deutlich machen und so (auf dem Umweg über die Lebensform) die Sinnfrage zumindest "spiegeln" (61). Beantworten scheint sie sich hier nicht zu lassen. Denn "Wittgensteins Grundbegriff" ist der der "Problemhaftigkeit des Lebens" (25). Diese ist etwas Vages, Wittgenstein geht es um Bodenständiges. Aus der Veränderung der Sprachauffassung folgt, dass das Absolute "sich nun [beim späten Wittgenstein] am Konkreten (Situationen, Gegenständen, Handlungen) offenbaren" (279) kann, ja muss. Ansonsten könnte es nicht beschrieben werden, wie hinzuzufügen ist; es soll dies nicht eine Deduktion der Notwendigkeit der Menschwerdung sein. Hier sind erhebliche Einsichten, ohne philosophisch legitimierenden Unterbau allerdings.

2. Problematisches: Der Autor gibt eine freundliche Interpretation Wittgensteins. Damit gibt er die Hälfte; weder das philosophisch Unzureichende der Begründungen noch das bleibend Irrationalistische darf man verschweigen. Ich führe weniges an, das bei K. gerade eben an die Oberfläche kommt:

a) Im Zentrum Anthropologie: Zu wessen Gunsten hat Wittgenstein rein logische Überlegungen verlassen? "Aus den logischen Prinzipien ist ein Stil geworden. ... Jeder Stil hat als Ziel Befriedigung." (166) Dies ist eine anthropologische Größe. So wird der "Intellekt" zu einer "anthropologischen Grundkonstante" (110) und eine "anthropologische Verortung des Religiösen" (180) vorgenommen. K. konstatiert dies nur; Irrationalismus aber ist religionsphilosophisch von Belang.

b) Subjektivismus: Bewusstsein der Problemhaftigkeit ist "das Grunddatum der Wittgensteinschen Religionsphilosophie" (274). Es kommt hinzu, dass in Wittgensteins Bemerkungen oft von Religion und Glaube, selten von Gott die Rede ist. Da zeigt sich Einseitigkeit. Das subjektive Moment ohne objektive Rede von Gott ist defizitär. Dies müsste bemerkt werden. Aber es soll nicht bemerkt werden. Denn K. hält die dargestellte subjektivistische Form für zur Rehabilitierung religiöser Ausdrucksformen geeignet; er stellt Wittgenstein nicht nur dar, sondern sekundiert ihm. Es zeigt sich mitunter umstandslose Identifikation auch mit unqualifizierten Ansichten.

c) Metaphysik: Erfreulicherweise versucht K. vielfach, Wittgensteins Werk vom Positivismus abzugrenzen. Was die Metaphysik betrifft, ist seine Redeweise (wie die Wittgensteins) positivistisch. Das geht nicht zusammen, auch abgesehen davon, dass Wittgenstein selbst weitgehend unmittelbar metaphysisch spricht. Auch hier gilt, dass die Neigung des Autors für seinen Gegenstand den Blick trübt.

Wir wollen die Grundthese als belegt und durchgeführt bezeichnen: Wittgensteins Rede von der Religion wird zunehmend konkreter, bestimmter. Nur: Diese Bestimmtheit hat zum einen bedenkliche methodische Versetzungsschritte zur Voraussetzung. Und zum anderen bleibt sie auch so noch abstrakt genug. K. hat ein anregendes Buch geschrieben, auf der einen Seite zu lang, auf der anderen wieder zu kurz, aber immanent, in Bezug auf Verbindungslinien im Werk Wittgensteins, sehr klärend.