Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

554–556

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hennigfeld, Jochem, u. Jon Stewart [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kierkegaard undSchelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. VIII, 262 S. gr.8 = Kierkegaard Studies. Monograph Series, 8. Lw. Euro 78,00. ISBN 3-11-017499-5.

Rezensent:

Christian Danz

Die Untersuchungen zu dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard und dessen Rezeption der Philosophie Schellings sind nicht sehr zahlreich. Kierkegaard reiste bekanntlich 1841 eigens nach Berlin, um die Vorlesungen des gerade erst an die Berliner Universität berufenen Schelling über Philosophie der Offenbarung zu hören. Der Niederschlag dieser Vorlesungen liegt in der von Kierkegaard angefertigten Mitschrift dieser Vorlesung vor, die seit 1962 auch in deutscher Sprache einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich ist (A. M. Koktanek, Schellings Seinslehre und Kierkegaard, München 1962). Im ersten Drittel der 40er Jahre des 19. Jh.s nimmt Kierkegaard in seinen Schriften durchgängig Bezug auf das Werk Schellings sowie auf die in dessen Spätphilosophie ausgeführte Kritik an der Philosophie Hegels. Aber nicht nur die Hegel-Kritik verbindet beide Denker, sondern ebenso zentrale Begriffe, die im Kontext des Freiheitsgedankens stehen. Schellings 1809 publizierte Abhandlung Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit gilt in der einschlägigen Forschung neben Kants Religionsschrift geradezu als Referenztext zu Kierkegaards Schrift Der Begriff Angst. Vor diesem Hintergrund überrascht es etwas, dass erst in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts das Verhältnis Kierkegaards zu Schelling verstärkt in den Fokus des wissenschaftlichen Forschungsinteresses trat. In diesen forschungsgeschichtlichen Kontext gehört auch der von dem Søren-Kierkegaard-Forschungszentrum im August 2000 veranstaltete Schelling-Kierkegaard Workshop. Die Beiträge dieses Workshops liegen nun in dem von Jochem Hennigfeld und Jon Stewart herausgegebenen Band Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit vor.

Die acht Beiträge dieses Sammelbandes thematisieren aus unterschiedlichen Perspektiven zentrale Aspekte und Problemstellungen des Werkes von Schelling und Kierkegaard. Mit den Stichworten "Freiheit", "Angst" und "Wirklichkeit" werden systematische Schlüsselbegriffe des Werkes von Schelling und Kierkegaard auf einem breiten problemgeschichtlichen Hintergrund, der die zeitgenössischen Debattenlagen einbezieht, einer eingehenden Untersuchung unterzogen.

Der Band wird eröffnet mit einer fulminanten historischen Einführung in Kierkegaards Schelling (1-102). In einer minutiösen historischen Untersuchung arbeitet Tonny Aagaard Olesen die zeitgenössische dänische Schellingrezeption (H. Steffens, A. Oehlschläger, H. L. Martensen u. a.), die Quellenlage und die Forschungsgeschichte zu dem Verhältnis beider Philosophen auf. Im Resultat bestätigt Olesen die bereits von Emanuel Hirsch vorgetragene These, dass Kierkegaards Quelle für die Philosophie Schellings vermutlich nicht so sehr ein eigenes Studium der Werke Schellings gewesen sei, sondern eher das einflussreiche Buch von Karl Rosenkranz Schelling (Danzig 1843). Kierkegaards Kenntnis der Philosophie Schellings geht so einerseits auf die von ihm gehörte und mitgeschriebene Vorlesung von 1841/42 zurück und andererseits auf die weitverzweigte zeitgenössische Diskussion der Schellingschen Spätphilosophie, wie sie insbesondere in den Werken von Rosenkranz, aber auch bei Marheineke und Michelet vorlag. Dies gelte, so Olesen, auch für die Freiheitsschrift, welche in der Forschung als Subtext zu Kierkegaards Der Begriff Angst gedeutet wird (67.72 u. ö.). In allem, so Olesen, "was Kierkegaard geschrieben hat", findet man "nur ein einziges Zitat von Schelling, während man im Übrigen keine sicheren äußeren Spuren findet, die darauf hindeuten, daß Kierkegaard Schellings Werke gelesen hat, auch nicht im Falle der Freiheitsschrift" (81).

Die systematischen Aspekte des Verhältnisses von Schelling und Kierkegaard diskutieren die weiteren Beiträge des Bandes. Im Ausgang von Schellings Freiheitsschrift untersuchen Jochem Hennigfeld (103-115) und Axel Hutter (117-132) die systematischen Implikationen und Konsequenzen des Freiheitsbegriffs bei Kierkegaard und Schelling. Während Hennigfeld Differenzen und Übereinstimmungen hinsichtlich des Freiheitsbegriffs bei Kierkegaard und Schelling herausarbeitet, geht es Hutter um den Nachweis, dass der sowohl bei Schelling als auch bei Kierkegaard vorliegende systematische Zusammenhang zwischen Freiheit und Angst nur dann angemessen zu würdigen sei, "wenn man sich an Schellings grundlegendem Begriff des Unvordenklichen orientiert, der den neuen begrifflichen Zusammenhang überhaupt erst eröffnet, in dem sich der wechselseitige Bezug von Freiheit und Angst zu erkennen gibt" (117). Dass Kierkegaards Interesse an Schelling auch ein nicht folgenloses und unproblematisches Interesse an dessen Hegelkritik beinhaltet, diskutiert Lore Hühn in ihrem Beitrag Sprung im Übergang. Kierkegaards Kritik an Hegel im Ausgang von der Spätphilosophie Schellings (133-183). Hühn rekonstruiert einerseits überzeugend Kierkegaards Auseinandersetzung mit Hegels Wissenschaft der Logik, welche auf den Grundton einer "beispiellosen spekulativen Selbstüberforderung des Logischen" (136) gestimmt ist, und macht andererseits deutlich, dass Kierkegaards Kritik an Hegel nicht nur im "Horizont jener Fundamentaldifferenz Schellings gedacht" sei, so dass es "bisweilen schwerfällt zu sehen, worin der Däne in der eigenen Hegel-Kritik gegenüber der Schellings etwas substantiell Neues zu bieten hat" (170), sondern ebenso wie die einschlägige Kritik Schellings dem Hegelschen Programm äußerlich bleibt (vgl. bes. 176 ff.).

Mit der Hegelkritik des späten Schelling ist nicht nur eine Kritik an der Systemform verbunden, sondern auch eine Rehabilitierung von Jacobis Kritik an der Einbeziehung der theologischen Gegenstände in das System der Wissenschaft. Diese Facetten der Werke von Schelling und Kierkegaard beleuchten am Leitfaden der Christologie Hartmut Rosenau (185-208) und im Hinblick auf die Jacobirezeption Anders Moe Rasmussen (209-222). Rasmussen erblickt in der für die Spätphilosophie Schellings konstitutiven Unterscheidung zwischen einer positiven und einer negativen Philosophie eine Reformulierung von Jacobis "distinction between two distinctly different kinds of practicing philosophy, by way of explanation or by way of illumination" (217). Eben jene Unterscheidung deutet Rosenau als Schellings Eingeständnis einer "systemischen Ohnmacht der Vernunft" (191), welche mit einer Rehabilitierung der Christologie in dessen Spätphilosophie verbunden sei. In der Philosophie der Offenbarung konzipiere Schelling eine konstitutive Christologie, die ähnlich wie dann Kierkegaard die freiwillige "Selbsterniedrigung Gottes in Jesus Christus" in den Mittelpunkt rückt, "und nicht, wie theologisch üblich, Kreuzestod und Auferstehung Christi" (192 f.). Ob jedoch die Behauptung zu weit greift, dass der "Tod Christi als solcher" in Schellings Christologie "keine Besonderheit gegenüber dem Tod eines jeden anderen Menschen" (193) habe, wird man fragen können. Zumindest verbindet Schelling die geschichtliche Konstitution des freien Bewusstseins mit dem Tod Christi. Dieser Aspekt und die hieraus folgende Bedeutung des Todes sowie der Auferstehung Christi für die Gesamtkonzeption der Philosophie der Offenbarung wird von Steen Brock in seinem Beitrag Self-Liberation, Reason and Will (222-234) völlig zu Recht hervorgehoben (vgl. 229). Brock analysiert die unterschiedlichen Konzeptionen von "self-liberation" bei Schelling und Kierkegaard und versucht diese in einen konstruktiven systematischen Zusammenhang zu bringen (bes. 232 ff.). Kierkegaards Fassung des Wirklichkeitsbegriffs geht Michelle Kosch (235-251) auf dem Hintergrund von Schellings später Kritik an dem ontologischen Argument nach. Kosch zeichnet die verschiedenen Verwendungsweisen und -nuancen von Wirklichkeit im Werk Kierkegaards nach und versucht diese problemgeschichtlich zu verorten.

Insgesamt bietet der Band eine präzise, informative und gut zu lesende Zusammenfassung des gegenwärtigen Forschungsstands zum Verhältnis der beiden höchst unterschiedlichen Denkergestalten Schelling und Kierkegaard.