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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

551 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Peters, Christian, Brecht, Martin, u. Rüdiger Bremme [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zwischen Spener und Volkening. Pietismus in Minden-Ravensberg im 18. und frühen 19. Jahrhundert.

Verlag:

Bielefeld: Luther-Verlag 2002. 277 S. m. Abb. gr.8 = Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 23. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-7858-0444-X.

Rezensent:

Peter Schicketanz

Wer die Erwartung hat, über die beiden im Titel genannten Personen etwas zu erfahren, wird enttäuscht. Das Wort "zwischen" ist ernst gemeint. Sachgemäßer ist der Untertitel. Genauer: Es werden drei biographisch orientierte Darstellungen geboten. Christian Peters schreibt über Israel Clauder (9-127); Martin Brecht über Friedrich August Weihe (129-200) und Rüdiger Bremme über Johann Heinrich Broyer (201-261). Ein Orts- und Personenregister beschließt den Band.

Alle drei Darstellungen beruhen auf gedruckten und ungedruckten Quellen, die in der bisherigen Forschung zu wenig oder gar nicht berücksichtigt worden sind. Insofern liegt eine wertvolle Ergänzung über die Entwicklung des Pietismus in Minden-Ravensburg vor, der zuletzt in der Geschichte des Pietismus in Westfalen, Band II, 358-371, von Christian Peters dargestellt wurde. Alle Beiträge sind durch ausführlich zitierte Quellen gekennzeichnet, so dass sich der Leser auch ein eigenes Urteil bilden kann bzw. die Interpretation der Autoren überprüfen kann.

Die Biographie Israel Clauders (1670-1721) ist von einer sehr breiten Kenntnis aller bisher bekannten Quellen gekennzeichnet. Sie dürfte ohne neue Quellenfunde als nicht zu überbieten anzusehen sein. Die einzelnen Stationen von Clauders abwechslungsreichem Lebenslauf werden detailliert beschrieben: Leipzig, Gießen, Berlin, Riga, Berlin, Halle, Halberstadt, Darmstadt (1698-1706), Derenburg, Halberstadt und Bielefeld (1718-1721). Auf der Rückreise von Riga geriet er in Seenot und dichtete das Vertrauenslied: Mein Gott du weißt am allerbesten; 13 Strophen sind hier nachzulesen (28 f.). Durch die gleichmäßige Berücksichtigung aller Lebensstationen von Clauder ist der Beitrag keinesfalls nur für den Pietismus in Bielefeld wichtig, wo Clauder nur die letzten drei Jahre war. Die Ergebnisse für die ostwestfälische Kirchengeschichte werden kurz und übersichtlich (125-127) zusammengefasst.

Martin Brecht "hat nicht die Absicht, erneut einen möglichst kompletten Lebensabriß Weihes (1721-1771) zu bieten" (132). Stattdessen wird seine Theologie und seine Rolle im ostwestfälischen Pietismus herausgearbeitet. Leitfaden ist dabei aber trotzdem der Lebenslauf. Das Ineinander von Biographie und Theologie wird aus den Unterüberschriften besonders deutlich: "Hintergrund und Persönliches; die Herrnhuter; Beziehungen zur Aufklärungstheologie; die pietistischen Feldprediger; Krankheiten als Testfall; der Brand des Pfarrhauses und die Kollektenreise; das Netzwerk der Briefe; die Ordnung des Heils; die Theologie der Krippe; Geistliche Dichtung; Weihes Pietismus und Erweckungsbewegung; der Pietismus in Ostwestfalen nach Weihes Tod; die Ravensburger Partikulargesellschaft der Deutschen Christentumsgemeinschaft." Grundlage der Darstellung ist in der Hauptsache die vom Sohn Karl Gustav Friedrich Weihe ( 1829) 1774 und 1776 herausgegebene "Sammlung erbaulicher Briefe". Die nach Brecht ebenfalls vom Sohn 1780 anonym herausgegebene Biographie wird nur ganz selten herangezogen. Das ist anders im dritten Beitrag, wo Bremme diese Biographie mehrfach zitiert, ohne die Anonymität zu lüften (205 f.). Von allgemeinerer Bedeutung ist der Bericht Brechts über eine Veröffentlichung des Sohnes, der in einer kleinen Biographie über Gotthold Ehrenhold Hartog einige Fragen zum Pietismus beantwortet. Pietisten sind nach Weihe Christen, die die Religion "ins würkliche Leben einführen" wollen. Pietismus gäbe es nicht erst seit Spener, sondern seit Abel. "Sie seyen das Salz der Erde." (190 f.)

Der dritte Beitrag über Broyer (1743-1820) ist untertitelt: "Vom Leben eines armen, in Gott reichen Dorfschulmeisters in Falkendiek." Broyer war fast zehn Jahre Soldat und bewarb sich 1774 um die kleine, sehr schlecht bestellte Dorflehrerstelle in Falkendiek (30 Reichstaler pro Jahr), obwohl er keinerlei Ausbildung für dieses Amt hatte. Diese Stelle hatte er bis 1818 inne. Bremmes Hauptquelle ist die "Acta wegen des Schuldienstes zu Falkendiek" im STA Münster, Konsistorium Minden-Ravensberg. Die Akte ist insofern sehr aussagefähig, weil es von der Bestallung 1774 an dauernde Schwierigkeiten gab. Der für Falkendiek zuständige Pfarrer Friedrich Wilhelm von Laer war gegen Broyers Berufung, anscheinend auch weil Broyer als Stundenhalter galt. Der Streit zwischen diesen beiden dauerte Jahr- zehnte. Der bedauernswerte Zustand des Schulgebäudes führte zu weiteren Auseinandersetzungen. Broyers fehlende pädagogische Fähigkeiten führten ebenfalls zu Klagen. Der zur Klärung der Vorwürfe vom Konsistorium berufene Pfarrer von Mennighüffen Karl Justus Friedrich Weihe hat in sehr verantwortlicher Weise in Falkendiek recherchiert und beeindruckende Berichte geschrieben, so dass auch das Konsistorium Broyer in Falkendiek belassen hat. - Die kümmerlichen Lebensbedingungen eines wirklich armen Dorfschulmeisters und auf der anderen Seite ein Mann, der seinen Glauben als Existenzgrundlage ansieht und festhält trotz aller Schwierigkeiten - das liest sich auch heute noch beeindruckend. Etwas störend ist der Exkurs über den Pietismus im Allgemeinen, 211-214.

Die Auswirkungen des Hallischen Pietismus in Minden-Ravensberg sind in den Beiträgen verdeutlicht worden. "Weitere geduldige Einzelforschung wird möglicherweise sogar die direkten Beziehungen [zwischen Hallischem Pietismus und der Erweckungsbewegung] aufdecken können." (Brecht, 200)