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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

548–551

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Graf, Michael

Titel/Untertitel:

Liberaler Katholik - Reformkatholik - Modernist? Franz Xaver Kraus (1840-1901) zwischen Kulturkampf und Modernismuskrise.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2003. 366 S. gr.8 = Vergessene Theologen, 2. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-8258-6481-2.

Rezensent:

Otto Weiß

Vorliegende Arbeit erfüllt leider - sagen wir es offen - die in sie gesetzten Erwartungen nicht. Auch wenn man an eine Dissertation als Erstlingswerk nicht allzu strenge Maßstäbe anlegen soll, so gilt doch: Einem Mann wie Franz Xaver Kraus, von dem der gelehrte Münchner Benediktiner Odilo Rottmanner äußerte, er selbst sei im Vergleich zu seinem Freund Kraus nur ein kleiner Hügel gegenüber einem Gebirge, wären vielleicht nur Autoren wie die Verfasser der Monographien über Eric Peterson oder den Kraus-Schüler Joseph Sauer gewachsen gewesen, oder auch ein Mann wie Paolo Marangon, der in seinem Werk über Antonio Fogazzaro auf zwei Seiten mehr über das wahre Wesen von Kraus, diesem "prete di idee molto larghe" (Fogazzaro über Kraus), zu sagen weiß als der Vf. auf vielen Seiten.

Dieser ist immerhin angetreten, nach den Verzeichnungen, die Kraus in der Forschung erfahren hat, das wahre Bild eines "solitären" Theologen zu zeichnen, der weder ein liberaler Katholik noch ein Reformkatholik, noch ein Modernist gewesen sei. Aber um in etwa dem vorgenommenen Ziel gerecht zu werden, wäre es doch wohl nötig gewesen, von verschiedenen Perspektiven und theoretischen Ansätzen aus - von der modernen Kultur-, Mentalitäts-, Frömmigkeits-, Wissenschafts- und Sozialgeschichte bis hin zur klassischen Biographie mit ihrer Methode der Einfühlung in den Gegenstand - sich dem "Gebirge" Kraus anzunähern. Geschrieben wurde jedoch ein Quellenreferat im Stile der alten Politik- und Diplomatiegeschichte, unberührt von jeder Theoriediskussion. Vom "Theologen" Kraus, von seinen Werken auf dem Gebiet der Kirchengeschichte, Kunstgeschichte, christlichen Archäologie findet sich in dem Buch, das in der Reihe "Vergessene Theologen" (!) erschienen ist, so gut wie nichts. Das Gleiche gilt für den "religiösen" Kraus (immerhin hat er das Schlagwort vom "religiösen Katholizismus" oder "Idealkatholizismus" geprägt), einen Mann, der Alfonso de Liguori verehrte und mit seiner gewiss fragwürdigen "fast kindlichen Gläubigkeit" (Erwin Gatz) - was Oskar Köhler beim Lesen der "Tagebücher" erschüttert hat - der damaligen "französischen Plüschkultur" verpflichtet war. Überhaupt ist die Persönlichkeit dieses sensiblen deutschen Universitätsmandarins, die Innenseite seines Lebens mit all ihren Licht- und Schattenseiten, wie sie Fogazzaro in seinem Roman "Il Santo" unübertrefflich mit humorvollem Augenzwinkern geschildert hat, unterbelichtet.

Mit einem Wort: Der Vf. hat nicht das Buch geschrieben, dessen Titel auf der Umschlagseite steht. Der Titel müsste wohl eher heißen: "Beiträge zur politischen, bildungs- und kirchenpolitischen Tätigkeit von Franz Xaver Kraus". Dazu hat der Vf., und darin liegt sein Verdienst, auch bisher wenig bekanntes Material aus den Quellen zusammengetragen. Zu erwähnen ist etwa die programmatische Rede, die Kraus 1890 - lange vor den Forderungen des deutschen "Reformtheologen" Josef Müller - "Ueber das Studium der Theologie sonst und jetzt" gehalten hat. Dazu kommen zahlreiche interessante Einzelheiten, die seine Kontakte zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beleuchten. Aufs Ganze gesehen jedoch sind die angeblich "frappierenden Ergebnisse" zum "Politiker" Kraus nicht neu. Dass der "religiöse" Kraus - aus seiner nach rückwärts gewandten aristokratischen Grundhaltung heraus, die ihm verbot, in die Niederungen der Parteipolitik herunterzusteigen - in der Auseinandersetzung mit dem Zentrum und dem angeblich "ultramontanen" Zentrumskatholizismus handfeste Politik gemacht hat, das zeigt schon ein kurzer Blick in seine "Spectatorbriefe", die dank Christoph Weber wenigstens teilweise zugänglich gemacht wurden. Im Übrigen fehlt im vorliegenden Buch eine wichtige Komponente des Politikers Kraus. Abgesehen von der Darstellung der "Römischen Mission" des Jahres 1895/96 (mit der kritiklosen Übernahme der Polemik der Berliner "Germania"), von der Erwähnung Ruggero Bonghis und der Feststellung, Kraus habe den "conciliatorismo" vertreten, ist nämlich der enge Kontakt des deutschen Professors zu Italien, genauer zu italienischen liberal-konservativen und reformkatholischen Kreisen, fast ganz ausgeblendet. Krausens geheime Mitarbeit bei der "Rassegna Nazionale" (darin 1889 der wichtige Beitrag "La Germania e la questione romana") wird übergangen. Sein bedeutendes Spätwerk über "Cavour", dem kein Geringerer als der liberal-konservative führende Politiker Antonio Salandra eine begeisterte ausführliche Abhandlung widmete, wird gerade noch mit einer Zeile erwähnt.

Lassen wir es bei diesen Bemerkungen zu nicht eingelösten Desideraten, um zwei Dinge herauszugreifen, die bei der Lektüre ins Auge fallen. Da ist zum einen der Modernismusbegriff des Vf.s, zum andern sein - gelinde gesprochen - merkwürdiger Umgang mit der Forschung. Was die Stellung von Kraus zum Modernismus anlangt, so kann man natürlich mit guten Gründen den Standpunkt vertreten, Kraus sei kein "Modernist" gewesen, und das, obwohl ihn der Antimodernist Anton Gisler in seinem Standardwerk über den Modernismus (1911) den "geheimen Marschall aller Modernisten" nannte und obwohl ihn die "deutschen Modernisten" der Krausgesellschaft zu ihrem Vorbild erhoben. Doch schon der "Modernist" Herman Hefele unterschied 1910 zwischen dem "Reformkatholizismus der alten Schule", als dessen Repräsentanten er Hermann Schell und Franz Xaver Kraus bezeichnete, und dem von ihm vertretenen theologischen "Modernismus" im Gefolge eines George Tyrrell, Alfred Loisy und Joseph Schnitzer. So findet sich der Vf. also in guter Gesellschaft. Das Problem ist jedoch seine Begründung. "Modernist" ist für ihn gleichbedeutend mit "Modernisierer". Ein solcher aber ist Kraus nicht, da er nach dem Vf. wenig Verständnis für die "Moderne" hatte, ganz im Unterschied zum "ultramontanen" Deutschen Zentrum, das modernisierende Aspekte aufweist. Mit anderen Worten: Der Vf. geht aus von einem (wertenden) Modernisierungsmodell. Dabei übersieht er nicht nur, dass im heutigen wissenschaftlichen Diskurs schon längst die Fragwürdigkeit des wertenden Modernisierungsmodells erkannt ist und dass der schwammige Begriff "Moderne" sehr verschieden gedeutet wird. Stand er zunächst für "Fortschritt" und "Wissenschaft", wurde er, ausgehend von der Epochengrenze um 1890, dahin umgedeutet, dass er gerade gegen Verwissenschaftlichung und für Intuition und Erlebnis stehe, bis es schließlich üblich geworden ist, "Moderne" mit "Pluralität" gleichzusetzen (Ulrich Linse). Er übersieht vor allem, dass der katholische "Modernismus" sehr wenig mit einem allgemeinen Modernismusbegriff und dem Begriff "Modernisierung" zu tun hat. Schon die Zeitgenossen haben vielfach den katholischen "Modernismus" im Kern mit "inquietude religieuse" (Bremond) und mit "intellektueller Mystik" (Fogazzaro im Anschluss an Rosmini) gleichgesetzt, während ein moderner Autor, der römische Weihbischof Clemente Riva, in ihm zuerst eine "Erneuerung der Kirche aus den Quellen des Evangeliums" sah- wozu eigentlich ganz gut die "kindliche Gläubigkeit" eines Franz Xaver Kraus passt.

Was vor allem stört, ist der Umgang des Vf.s mit der wissenschaftlichen Forschung. So wahr es ist, dass der Gang ad fontes das A und O aller wissenschaftlichen Arbeit darstellt, so gilt doch auch, dass der Historiker sich mit der bisherigen Forschung auseinander zu setzen hat. Dass der Vf. nicht der Erste war, der sich mit der Thematik befasste, dies beweist schon sein ausführliches Literatur- und Quellenverzeichnis, das allerdings noch ergänzt werden könnte. So tauchen die wichtigen Nachrufe von Walter Goetz und Paul Graf von Hoensbroech weder im Literaturverzeichnis noch im Buch selber auf, der hervorragende Nachruf von Heinrich Schrörs wird wenigstens im Text erwähnt. Auch alle auf Italienisch erschienenen Veröffentlichungen bis hin zu den jüngsten Untersuchungen Christiane Liermanns fehlen. Das Problem liegt jedoch nicht in der fehlenden Literatur, sondern in der mangelnden Auseinandersetzung mit der bisherigen Literatur, die einschließlich des - nach den Untersuchungen Hubert Schiels - bahnbrechenden Standardwerkes Christoph Webers in der Einleitung mit einigen saloppen Bemerkungen abgetan und dann so gut wie nicht mehr erwähnt wird. Dabei hat der sachkundige Leser jedoch mehr als einmal den Eindruck, bestimmte Fragestellungen (etwa zur Beziehung Kraus - Gobineau - Schemann) schon anderswo gelesen zu haben. Doch der erwartete Hinweis auf die Literatur fehlt. Frage: Kennt der Autor die einschlägigen Werke nicht oder verschweigt er deren Ergebnisse absichtlich?

Alles in allem: Die vorliegende Arbeit liefert - sieht man von einigen fragwürdigen Ideologien ab - mit ihrer Darstellung vorwiegend kirchenpolitischer Aktivitäten von Franz Xaver Kraus einen wichtigen Baustein für eine noch zu schreibende Biographie. Die definitive Arbeit zu Kraus ist sie nicht.