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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

546–548

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Düker, Eckhard

Titel/Untertitel:

Freudenchristentum. Der Erbauungsschriftsteller Stephan Praetorius.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 360 S. m. 1 Porträt. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 38. Geb. Euro 56,00. ISBN 3-525-55822-8.

Rezensent:

J. Jürgen Seidel

Der Buchtitel "Freudenchristentum" scheint auf den ersten Blick gar nicht so recht zu passen für Theologie und Leben jener Enkelgeneration der Reformatoren, für die über einen langen Zeitraum hinweg eher nur der düstere Begriff einer (erstarrten) "altprotestantischen Orthodoxie" übrig blieb. Es ist das besondere Verdienst dieser anzuzeigenden Monographie, dass sie erhellende Farbtupfer eines persönlich orientierten frohen Christenglaubens in das bisher eher in dunklen Umrissen gezeichnete Bild jener Zeit aufträgt. Am Beispiel von Leben, Werk und Wirkung des Salzwedler Pfarrers Stephan Praetorius (ca. 1536- 1603) verdeutlicht der Vf. nicht nur die Notwendigkeit, das "konfessionelle Zeitalter" wissenschaftlich vertieft zu bearbeiten, sondern füllt einen kleinen Bereich aus dem noch weitgehend unerforschten Zeitraum des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jh.s, auf den die Epoche des Pietismus folgt.

Die vorliegende Arbeit ist hervorgegangen aus einer Münsteraner theologischen Dissertation von 1998 unter Leitung von Martin Brecht. Nach einleitenden Bemerkungen zur Forschungsgeschichte und zur Methodik (13-25) widmet sich Düker der Biographie von Praetorius (25-64), führt in dessen lateinisches und deutsches Schrifttum ein (65-209) und behandelt Rezeption und Wirkung seiner Publikationen (210- 298). Leider nur allzu kurz handelt er auf knapp drei Seiten seine Bedeutung für den Pietismus ab (299-301). Einen speziellen Hinweis verdient das sorgfältig erarbeitete Schriftenverzeichnis von Praetorius (304-326).

Die entscheidenden prägenden Einflüsse auf seine Lebens- und Glaubenshaltung erhielt Praetorius durch seine Lehrer an der Rostocker Theologischen Fakultät, namentlich durch den Melanchthonschüler David Chyträus. Diese Studienjahre haben ihren Niederschlag zudem in einem umfangreichen lateinischen Schriftenwerk gefunden. Seine berufliche Wirksamkeit verbindet sich mit dessen Heimatstadt Salzwedel in der Altmark, wo er in der Altstadt das Diakonat und anschließend das Pfarramt in der Neustadt innehatte. Auf sein Betreiben hin wurde in seinem Gemeindebereich eine neue Lateinschule errichtet. Seine seelsorgerlichen Erfahrungen, nicht zuletzt während einer grassierenden Fleckfieberseuche 1580 und während der Pestjahre 1581 bis 1584 und 1598/99, aber auch Todeserfahrungen im eigenen familiären Umfeld motivierten ihn zu katechetischen Traktaten und Trostschriften, in denen er der Traurigkeit und Klage über Tod und göttliches Strafgericht die Freude des Evangeliums entgegenstellte, wie sie aus der Taufgnade erwachsen kann. Daneben ermahnte er die Obrigkeit zur verstärkten Wahrnehmung ihrer sozialen Aufgaben für die Bevölkerung und schlug vor, Gelder aus dem "Gotteskasten" für die Krankenpflege einzusetzen. Der "Pestpfarrer" von Salzwedel fand in weitem Umkreis glühende Verehrer. Mit seinen lateinischen Schriften wandte er sich in erster Linie an die studentische Generation und an die gehobene Bildungsschicht seiner Zeit. Er gab den Studenten methodische Hinweise für Schule und Studium und warnte sie vor den schändlichen Bacchanalien. Theologische Sachverhalte erklärte er mit den Mitteln der Allegorie. Nachtigall, Rose, Maiglöckchen und Nelke dienten als Vergleich, um die Botschaft und Stimme Christi in ihrer heilenden und froh machenden Wirkung zu illustrieren. Inwieweit Praetorius mit der Bilderwelt und Geschichte der Hortulus-Literatur vertraut war, liegt außerhalb der Forschungen des Vf.s. Hingegen ist es ihm gelungen, einzelne verschollene Druckexemplare und eine frühe, bisher unbekannte lateinische Trostschrift von Praetorius aus dem Jahre 1568 in St. Petersburg ausfindig zu machen.

Die deutschen Schriften entstanden mehrheitlich aus Predigten und sollten vor allem seinen Salzwedler Gemeindegliedern seelsorgerlich dienen. Insgesamt beinhalten die deutschen Traktate solche Anliegen, die auch der spätere Pietismus propagierte: persönliches Schriftstudium, Verzicht auf dogmatische Streitigkeiten und die eschatologische Hoffnung auf Besserung der kirchlichen Zustände. Seine Predigten waren christologisch fundiert: Christus schenkt uns Menschen durch seinen Tod und seine Auferstehung das Heil, dessen der Gläubige in der Taufe gewiss wird und zum Seelenfrieden findet. So entfaltet sich ein "Freudenchristentum", das besonders Kranken und seelisch Belasteten als Heilmittel gegen die scharfen Gesetzespredigten einer orthodoxen Geistlichkeit dient.

Praetorius kann ohne weiteres als ein "Förderer nachreformatorischer Frömmigkeit" (301) bezeichnet werden. Aber der Vf. vermeidet es, ihn automatisch als Vorläufer des Pietismus zu bezeichnen, obwohl neben der Förderung eines persönlichen Glaubens und neben mystischen Ansätzen dogmatische Fragen im Blick auf die Frömmigkeitspraxis der Gläubigen behandelt werden. Philipp Jakob Spener, einer der Väter des lutherischen Pietismus, der die Praetorius-Schriften anfänglich mit Vorbehalt las, entdeckte schließlich darin eine "trostreiche evangelische Gnadenlehre" (252), deren Lektüre er besonders den im Glauben Angefochtenen empfahl. Selbst in seinen eigenen Schriften nahm er die "evangelischen Gnadenschätze" des Praetorius auf. So verwundert es nicht, dass die Praetorius-Traktate schließlich auch im Umfeld des hallischen Pietismus auf Zustimmung stießen. In diesem Zusammenhang konnte der Vf. vereinzelt Zitate bei August Hermann Francke ausfindig machen. Schließlich darf auch jener Kreis von Anhängern des Praetorius in der Niederlausitz nicht unerwähnt bleiben, der sich zu erbaulichen Privatversammlungen und zu "Gebetsvereinigungen" (224) zusammengefunden haben soll. Allerdings fehlen hierzu genauere Angaben. Praetorius selbst hat den Gedanken einer gemeinschaftlichen Schriftbetrachtung im "Lilium convallum" (Maiglöckchen) geäußert, ohne dass allerdings eine solche Praxis aus Salzwedel bisher bekannt geworden wäre.

Die zeitgenössische Kritik an Praetorius entzündete sich an missverständlichen Äußerungen über eine falsch verstandene Heilssicherheit und über calvinistische Ansätze. Auch seine Seelsorgebesuche in Privathäusern stießen nicht überall auf Zustimmung. 1622 veröffentlichte der Celler Generalsuperintendent Johann Arndt eine erste Sammlung von Praetorius-Schriften. 1625 gab der Danziger Pfarrer Martin Statius einen erweiterten Band heraus, der wegen großer Nachfrage 1636 zu einer umfangreicheren Ausgabe unter dem Titel "Geistliche Schatzkammer der Gläubigen" führte. Die Breitenwirkung von Praetorius ist wohl vor allem Statius zu verdanken, hat er doch die Schriften "in ein Corpus und richtige [thematische] ordnung" (227) gebracht unter Auslassung missverständlicher (antinomistisch und libertinistisch gedeuteter) Passagen, u. a. von der "Wiederbringung aller Dinge" (229), des Gedankens der Sündlosigkeit der Gläubigen (231), lateinischer Zitate und kritischer Urteile über Lehrer, Prediger, Pfarrer und Doktoren seiner Zeit. Um den Verdacht des Kryptocalvinismus von Praetorius abzuwehren, strich Statius prädestinatianische Aussagen. Allerdings war die positive Aufnahme der Praetorius-Texte bei Gottfried Arnold, Friedrich Brecklin und anderen Spiritualisten des 17. Jh.s der Zustimmung von Lutheranern nicht förderlich. So versuchte der Hallenser Gottfried Olearius, die Verbreitung der "Schatzkammer" mit allen Mitteln zu verhindern, um den Antinomismus abzuwehren (243). Trotzdem erlebte gerade diese Schriften-Sammlung bis in das 19. Jh. zahlreiche Auflagen und fand in Übersetzungen bis nach Skandinavien hin weite Verbreitung.

Ein umfassendes Schriftenverzeichnis mit Fundorten sowie eine Liste aller bisher bekannten deutsch- und fremdsprachigen Ausgaben lassen die vielfältige Wirksamkeit von Praetorius in den vergangenen beiden Jahrhunderten nach seinem Tod deutlich erkennen. Das Literaturverzeichnis sowie ein Personen-, Orts- und Bibelstellen-Register nebst außerkanonischen Schriftstellen gehören inzwischen zur selbstverständlichen Ausstattung einer solchen gewichtigen Edition. Allerdings erschwert das Fehlen eines Sachwortregisters den vertieften Umgang mit dem Buch. Es ist auch nicht ohne weiteres einsehbar, warum der Vf. die einzelnen lateinischen Schriften deskriptiv nach historischen Prinzipien abgehandelt hat, während er den Inhalt der deutschen Schriften in erster Linie systematisch geordnet und dargestellt hat nach Trost-, Gemeinde- und dogmatischen Schriften. Die chronologische Abfolge der einzelnen Schriften ist dadurch mit dem Nachteil behaftet, dass zahlreiche inhaltliche Doppelungen auftreten und die Lektüre streckenweise recht mühsam machen. Ist das dem Lektorat des Verlages nicht aufgefallen? Dass auch der Vf. den zweifelsfreien Nachweis des Geburtsjahres von Praetorius 1536 oder 1539 nicht erbringen konnte, kann ihm angesichts der widersprüchlichen Quellenbelege nicht angelastet werden.

Es bleibt ein Verdienst des Vf.s, auf Praetorius wieder aufmerksam gemacht zu haben, zumal die kirchengeschichtliche Forschung zum ausgehenden 16. Jh. im Verhältnis zur Reformationszeit und zur angelaufenen Pietismus-Forschung bisher nur ein bescheidenes uvre hervorgebracht hat. Eine editionskritische Auswahl von Praetorius-Schriften würde den Fortgang dieses Unterfangens wohl noch wesentlich fördern.