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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

541–543

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Zeller, Dieter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Christentum I. Von den Anfängen bis zur Konstantinischen Wende.

Verlag:

Mit Beiträgen v. W. M. Gessel, W. Kinzig, A. Merkt, G. Schöllgen, J. Ulrich, M. Wallraff, u. D. Zeller. Stuttgart: Kohlhammer 2002. X, 474 S. gr.8 = Die Religionen der Menschheit, 28. Lw. Euro 89,00. ISBN 3-17-014787-0.

Rezensent:

Günther Gaßmann

Seit einigen Jahrzehnten ist die Zahl der Studien und Veröffentlichungen zur Kirchen- und Theologiegeschichte der ersten christlichen Jahrhunderte enorm angestiegen. Zu den Gründen hierfür gehört sicher eine verbreiterte Forschungslage auf der Basis neuer Texteditionen, einer wachsenden Zahl von Untersuchungen zu historischen und theologischen Einzelfragen und eines bisher nicht gekannten internationalen Austauschs. Zu dieser Entwicklung mögen auch beigetragen haben die in einer unsicher gewordenen westlichen Christenheit neu aufgebrochenen Fragen nach normativen Wurzeln und prägenden Identitätsmerkmalen christlichen Glaubens und Kircheseins und gewiss auch die ökumenische theologische Diskussion. Letztere fragt u. a. nach einer Klärung und Verifizierung des viel be-schworenen gemeinsamen "apostolischen Glaubens" und nach theologischen Grundorientierungen in patristischer Zeit, die bis in die Gegenwart hinein die unterschiedlichen Denkformen, das Ethos und die institutionellen Gestaltungen der westlichen und östlichen Christenheit bestimmen. Der von Dieter Zeller herausgegebene Band will einen spezifischen Beitrag aus religionswissenschaftlicher Sicht zu dieser neuen Forschungssituation leisten. Dieser Ansatz bestimmt auch den behandelten Zeitraum, nämlich bis etwa 313, als mit der "konstantinischen Wende" das Christentum, so Z., zu einer gleichberechtigten und damit vergleichbaren Religion neben den anderen Kulten wurde (2). Die religionswissenschaftliche Ausrichtung dieser "Skizze des Christentums der ersten drei Jahrhunderte" deutet Z. so an: "Unter Absehung vom Wahrheitsanspruch und ohne Wertung soll nachgezeichnet werden, wie aus der noch innerhalb des Judentums wirksamen Reformgruppe Jesu und seiner Anhänger allmählich eine eigene Religion wurde" (1). Dieser "Blick von außen" ist vergleichend, weil er nicht die Einzigartigkeit des Christentums zu Grunde legt (2). Der umfangreiche Band ist in drei Hauptteile unterteilt. Die ersten beiden Teile hat der Herausgeber selbst verfasst.

Der erste Teil über "Die Entstehung des Christentums" setzt bei der jüdischen sozialen, politischen und religiösen Umwelt des Jesus von Nazareth ein und verfolgt die Entwicklung von Jesu Verkündigung und Wirken und des Glaubens und Lebens des palästinischen Urchristentums über die zunehmende Öffnung für die Heiden bis hin zur allmählichen Dominanz des Heidenchristentums. Dessen Selbstverständnis und Sozialgestalt samt Analogien aus der heidnischen Umwelt (z. B. Christengemeinden - Kultvereine, Taufe - Initiationsriten, Eucharistie - Kultmähler) werden herausgearbeitet. Eingebettet in das Kapitel über das Heidenchristentum ist die Darstellung des Wirkens und der Theologie des Paulus. Abschließend wird das eschatologische Ethos der Heidenchristen beschrieben.

Der zweite Teil über "Konsolidierung in der 2./3. Generation" setzt ein bei Begründung und Inhalt des Jesuszeugnisses und Christusglaubens in den Evangelien. Abgrenzungen gegenüber jüdischen und häretischen/doketischen Interpretationen führen hin zur Loslösung des Christentums vom Judentum und seiner Selbstfindung und Konsolidierung. Zu dieser Selbstfindung gehören die stark ausgeprägte eschatologische Orientierung (Naherwartung), Konflikte mit und Ausgrenzung von bestimmten Gruppen in den eigenen Reihen, die beginnende Institutionalisierung besonders durch die Ausbildung bestimmter Formen kirchlicher Ämter und ethischer Orientierungen. In diese Periode fällt die beginnende Begegnung und Auseinandersetzung mit der heidnischen Geisteswelt. Der zweite Teil wird abgeschlossen mit einer "Zwischenbilanz" unter der Frage der "Hellenisierung des Christentums", die Z. differenzierend unter Verweis auf Elemente der Anknüpfung wie des Gegensatzes und Widerspuchs (bes. Paulus und Johannesapokalypse) beantwortet.

Der dritte Teil, doppelt so lang wie die beiden vorausgehenden zusammen und von sechs Autoren verfasst, ist überschrieben "Selbstbehauptung und Inkulturation in feindlicher Umwelt: Von den Apologeten bis zur Konstantinischen Wende". Im ersten Kapitel gibt Jörg Ulrich einen Überblick über die Entfaltung wichtiger theologischer Themen in der Zeit vor Konstantin und fügt dem zwei abgrenzende Abschnitte über die Gnosis und das Judenchristentum im 2. und 3. Jh. an. Es geht um den innerchristlichen Prozess theologischer Klärung und Identitätsbildung, in dem sich das Christentum in der neuen geistigen Umwelt zunehmend seiner Einheit durch institutionelle Strukturen und theologische Grundüberzeugungen in Selbstbehauptung, Identitätsfindung and Abgrenzung bewusst wird. Dabei werden Vorstellungen und Denkstrukturen der hellenistischen Umwelt aufgenommen, ohne dass aber von einer "Hellenisierung" im negativen Sinne eines Abfalls vom "reinen" Christentums die Rede sein kann. Hier setzt der Vf., der den Begriff "Hellenisierung" eigentlich vermeiden möchte (300), die Akzente etwas anders als Z. im vorausgehenden Teil II, 215 ff. Im 2. Kapitel behandelt Wilhelm M. Gessel die institutionellen Formen kirchlichen Lebens in Gestalt der sich ausbildenden kirchlichen Ämter, Kirchenordnungen und überörtlichen kirchlichen Strukturen sowie das soziale und gottesdienstliche Leben der Gemeinden unter Einbeziehung des Verständnisses und der Praxis der Eucharistie und des Aufkommens der Hauskirchen.

Im 3. Kapitel des dritten Teils beschreiben Wolfram Kinzig und Martin Wallraff im Kontext des sich aus der Taufe ergebenden Anspruchs an das Leben der Christen die Ursprünge und Ausbildung sakramentaler Handlungen (Taufe und Buße mit den sie prägenden Vorstellungen - hier hätte man eigentlich den Abschnitt über die Eucharistie aus dem vorausgehenden Kapitel erwartet) sowie Formen christlicher Frömmigkeit in Gebet und Gottesdienst. Dies wird verbunden mit Ausführungen zu Volksfrömmigkeit, Synkretismus, Magie und Askese, dem sich Abschnitte zum Montanismus und zu den Anfängen des Mönchtums anschließen. Im 4. Kapitel untersucht Georg Schöllgen Leben und Stellung der Christen in der städtischen Gesellschaft unter den Gesichtspunkten der Integration wie der Abgrenzung, während Andreas Merkt im 5. Kapitel sowohl die Reaktionen der paganen Umwelt auf das Christentum in Diffamierung, Polemik und Verfolgungen als auch die christliche Reaktion auf diese Umwelt in der Form apologetischer Selbstdefinition darlegt. Abschließend geht er der Frage nach den Gründen für den "Erfolg" des Christentums nach. Im 6. Kapitel des dritten Teils behandelt Wilhelm M. Gessel das Verständnis und die Ausdrucksformen christlichen Lebens angesichts des Todes (u. a. Martyrium) und über den Tod hinaus (Begräbnisriten, Katakomben etc.).

Z. kommt dem von ihm vorangestellten religionswissenschaftlichen Ansatz dieses Bandes am nächsten, indem er vergleichend und historisch-kritisch die Anfänge des Christentums im umfassenderen religionsgeschichtlichen Zusammenhang beschreibt. Wenngleich er gelegentlich seine kritischen Anmerkungen überspitzt formuliert, indem er z. B. Eph, Kol, 2Thess, 1 und 2Tim, Tit, Hebr, Jak, 1 und 2Petr, 1Joh und Jud mit dem irreführenden Begriff "Fälschungen" versieht (184) oder über eine religionsgeschichtliche Beschreibung hinausgehend sich u. a. für eine psychologische Interpretation der Berichte über die Erscheinungen des Auferstandenen entscheidet (59-63), die übrigens an anderer Stelle im Buch abgelehnt wird (269, FN 202), so sind doch seine Ausführungen eine weit ausgreifende, immer neuen Zusammenhängen nachgehende, bisherige Darstellungen ergänzende oder korrigierende und mit ihren Akzentsetzungen (z. B. "die Identität der Christen als der Welt Entfremdete, auf das Ende Harrende", 466) die weitere Diskussion herausfordernde "Skizze" der Religions- und Kirchengeschichte der Frühzeit des Christentums.

Die anderen sechs Beiträge sind primär kirchen- und theologiegeschichtlich orientiert. Sie integrieren die Ergebnisse neuerer Forschungen und beziehen die soziologischen, ethischen, politischen, psychologischen, kulturellen und anderen Elemente in der Entwicklung des vorkonstantinischen Christentums in einem bislang selten verwirklichten Maße mit ein. Das leitende Interesse ist dabei, den Prozess der Profilierung, Identitätsfindung und Selbstvergewisserung christlichen Glaubens und christlicher Kirche zu beschreiben im Kontext der notwendigen und zugleich den eigenen Anspruch nicht einebnenden Inkulturation, der Abgrenzung nach außen und der Ausscheidung interner häretischer Bewegungen, der Klärung und Durchsetzung autoritativer theologischer Grundüberzeugungen für Glauben und Leben sowie der Ausbildung der institutionellen Gefäße für die wachsende Kirche. Das breite thematische Spektrum dieser Beiträge, das aber immer vom cantus firmus der Spannung zwischen andersartiger religiöser, geistiger und soziopolitischer Umwelt und dem christlichen Ringen um Selbstbehauptung und eigenständige Profilierung begleitet wird, zeichnet diese sechs Beiträge aus und macht sie zu einer theologisch akzentuierten Fortsetzung der von Z. gelegten breiten religionsgeschichtlichen und theologischen Grundlage.

Eine überaus wichtige und unser Wissen bereichernde Neuerscheinung, die die internationale Literatur in mehreren Sprachen mit einbezieht und angesichts der vielen Verweise ein etwas ausführlicheres Literaturverzeichnis verdient hätte.