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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

531–534

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Bergjan, Silke-Petra

Titel/Untertitel:

Der fürsorgende Gott. Der Begriff der PRONOIA Gottes in der apologetischen Literatur der Alten Kirche.

Verlag:

Berlin-New York: Walter de Gruyter. 2002. 422 S. 8 = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 81. Lw. Euro 118,00. ISBN 3-11-017062-0.

Rezensent:

Volker Henning Drecoll

Prägte die christliche Theologie in den ersten Jahrhunderten n. Chr. vorliegende Begriffe ganz neu oder adaptierte sie vorliegende Konzepte mehr oder weniger ohne Veränderung? Einen wichtigen Beitrag zu dieser Fragestellung bietet die Habilitationsschrift von Silke-Petra Bergjan anhand des Begriffs pronoia.

Die Arbeit besteht aus zwei Teilen, von denen der erste das Spektrum der Bedeutungen von pronoia in der griechischen Literatur bis zum 1. Jh. n. Chr. skizziert, der zweite den Begriff in der apologetischen Literatur thematisiert. Dabei bedeutet der griechische Begriff "pronoia" im Titel, dass es nur um die griechische Literatur geht, auch wenn B. mit dem Begriff providentia in einem Calcidius-Zitat einsetzt (1) und Apuleius und Calcidius auch später wieder herangezogen werden (311-315).

Ausgangspunkt des 1. Teils ist die juristische Verwendung von ek pronoias zunächst bei Tötungsdelikten, dann allgemein als "vorsätzliches, planendes Handeln", wie man es etwa von einem Feldherrn erwartet. Dem steht die tyche als nicht beeinflussbare Größe gegenüber (15-30). Hiervon unterscheidet B. eine zweite Bedeutung, in der pronoia fast mit epimeleia deckungsgleich wird, Grundbedeutung "Fürsorge". Als "Sorge für das Gemeinwohl" wird pronoia von den Herrschenden ebenso erwartet wie von allen Mitgliedern eines Gemeinwesens. Eine besondere Bedeutung gewinnt dieser Gebrauch bei Philo, der mit pronoia in dieser Bedeutung "die Sorge des Schöpfers für die Schöpfung" (40) bezeichnet (31- 43). Sodann meint drittens pronoia das ordnende Handeln eines göttlichen Subjekts. B. geht der Frage nach, an welcher Stelle der Begriff in der stoischen Philosophie auftaucht. Sie verweist u. a. auf eine Verwendung parallel zu pneuma: pronoia als etwas, was "durch das All hindurchdringt". Vor allem dem Begriff diakosmesis kommt pronoia sehr nahe. Sodann geht B. dem Unterschied zwischen heimarmene und pronoia nach: Erstere bedeutet eine festgelegte Abfolge bzw. Notwendigkeit, Letztere hat einen menschenfreundlichen, positiv gestaltenden Aspekt (44-80).

Der erste Teil zieht eine große Fülle antiker Texte heran, von Platon, Aristoteles bis zu Sophokles, Thukydides oder Äsop. Die Darstellung entgeht dabei der Gefahr, bloße Auflistungen zusammenzustellen, indem exemplarische Texte detailliert analysiert werden. Die Bedeutung von pronoia wird so auf Grund von Gegenüberstellungen, Parallelen, Verbverbindungen etc. aus dem Kontext erhoben, wobei vor allem Teilsynonyme (epimeleia) und Opposita (tyche), aber auch der Gebrauch des Verbs pronoeo zu einer Beschreibung des Wortfeldes von pronoia dienen. Dabei zeigt sich, dass die Vorsilbe pro- in pronoia kaum die Bedeutung "vorher" hat, im Vordergrund steht vielmehr die Zielgerichtetheit der Pronoia, das absichtliche, fürsorgende Handeln.

Der zweite Teil wendet sich den apologetischen Texten zu. Dabei stellt B. zunächst in einem eigenen Abschnitt die Frage, was unter Apologien zu verstehen ist. Ergebnis: Apologie ist keine antike Literaturgattung und war erst recht nicht als solche im 2. Jh. bewusst. Eine Einheit der "Apologien" wurde erst ab dem 4. Jh. gesehen, etwa von Laktanz oder Euseb. Bei Euseb lassen sich zwei Bestimmungen ausmachen, zum einen meint er in Hist. eccl. IV-V mit apologia eine an den Kaiser adressierte Verteidigung des Christentums; zum anderen teilt er in Praep. ev. 1,3 die christliche Literatur in drei Gruppen ein und nennt neben Exegetica und polemischen Schriften die elenchoi kai antirreseis. Hierauf fußend entscheidet sich B. dafür, die gesamte apologetische Tradition in den Blick zu nehmen, die sich mit heidnischen Vorwürfen auseinander setzt (83-106). Hierin liegt begründet, dass B. im Folgenden so unterschiedliche Werke wie Clemens, Strom. und Origenes, Contra Celsum behandelt.

Die eigentliche Untersuchung von Pronoia ist in zwei Kapitel gegliedert, von denen das erste dem Zusammenhang von Pronoia mit Gerechtigkeit, Lohn und Strafe, dem "distributiven" Aspekt nachgeht (107-221), das zweite sich mit Pronoia als Fürsorge für die Welt insgesamt und den Einzelnen beschäftigt (222-332). Eine Zusammenfassung bündelt die wichtigsten Ergebnisse übersichtlich (333-340), in einem Anhang diskutiert B. verschiedene methodische Überlegungen zur begriffsgeschichtlichen Fragestellung (341-368).

Für den Bezug auf die Gerichtsvorstellung verweist B. zunächst auf Sap. Sal. 3-6 als biblischen Hintergrund (109-114) und weist ihn dann bei Ps. Athenagoras, De resurrectione nach (115-121). Von hier aus interpretiert sie die Auseinandersetzung von Clemens mit dem Basilides-Fragment in Strom. 4,12,81,1-83,1. Basilides unterstellt dabei, dass die Märtyrer ihr Schicksal auf Grund vorangegangenen Fehlverhaltens erleiden. Damit zielt er wohl auf die gerechte Pronoia ab, die er gegenüber Anfragen angesichts der Verfolgungen aufrechterhalten will. Clemens setzt sich von diesem Ansatz ab und betont, dass die Pronoia Gottes auch das Martyrium umfasst, obwohl das Leiden selbst als von Gott nur zugelassenes Werk des Teufels anzusehen ist. Pronoia ist für Clemens nicht die im Eschaton zu erwartende Herstellung von Gerechtigkeit, sondern die Fürsorge Gottes, die sich als Erziehung deuten lässt (123-170). Bei Origenes wird die Pronoia als Gewährleistung der Gesamtordnung wichtig, zugleich betont er die Freiheit der menschlichen Entscheidung. Er übernimmt daher das platonische Lebenswahlmotiv, setzt also eine vorweltliche Entscheidung der Seele voraus (171-194; dabei sollte betont werden, dass Origenes von einer Entscheidung vor der Geburt nicht spricht). Dieses Konzept findet B. auch in Hierokles-Exzerpten des Photios (194-206). Gottes Pronoia sorgt dafür, dass diese "intelligible" Lebenswahl im Gesamtkosmos ihren Platz erhält und die vor der Lebenswahl ursprünglich gleichen Seelen eschatologisch auch wieder gleich werden (vgl. 181).

Das zweite Kapitel thematisiert den Bezug der Pronoia auf den Kosmos bzw. das individuelle Leben. Dabei weist B. zunächst nach, dass in der paganen Philosophie diskutiert wurde, ob sich die Pronoia auf das Leben jedes Einzelnen bezieht (so Epiktet und Attikos, 227-231) oder nur auf die Rahmenbedingungen des Kosmos (so Alexander von Aphrodisias, 231-238). Justin greift diese Diskussion, die unabhängig vom Christentum bestand, auf und setzt die beiden Positionen mit dem Gegensatz zwischen Christentum (Befürwortung individueller Pronoia) und Philosophie (Ablehnung derselben) gleich (Kernstelle: dial. 1,4; 238-248). Auf demselben Hintergrund lässt sich die Bezeichnung von Celsus als Epikureer bei Origenes, Contra Celsum verstehen: Origenes brandmarkt damit die Leugnung der individuellen Pronoia durch Celsus (249-260). Demgegenüber fällt auf, dass Euseb die Frage, ob die Pronoia auch jedes Individuum betrifft, nicht mehr stellt. Pronoia hat bei ihm ganz überwiegend einen Bezug auf die Gesamtheit des Kosmos (264-290). Er setzt dagegen in der Laus Constantini die Pronoia mit dem Logos gleich (291 f.), eine unmittelbare Zuschreibung zu Gott-Vater stellt für ihn die Transzendenz Gottes in Frage (was sich an der Aufnahme der weit verbreiteten Metapher vom König im Inneren des Palastes zeigen lässt, 292-304). Zugleich grenzt er sich gegen platonische Konzepte gestufter Pronoia ab. Dieses Konzept kann B. vor allem bei paganen Denkern nachweisen (Ps.-Plutarch, De fato, Hierokles u. a., 307-316), aber auch bei Athenagoras (316- 324), nicht aber bei Clemens (324-331).

Die Studie ist sehr gewissenhaft gearbeitet und analysiert die Texte auf hohem Niveau. Der Stand der Sekundärliteratur ist präsent und wird - falls notwendig - auch ausführlicher diskutiert. B.s Arbeit ist wesentlich breiter angelegt als etwa der Klassiker von Hal Koch, Pronoia und Paideusis, Berlin 1932, und kombiniert einen längsschnittartigen Aufbau mit sehr differenzierten Detailanalysen. Abgesehen von den Einzelergebnissen (Basilides-Fragment, Einordnung der Bezeichnung von Celsus als Epikureer u. a.) liegt die Bedeutung der Studie darin, dass ein zentraler Begriff daraufhin befragt wird, ob sich eine christliche Sonderbedeutung erheben lässt. Dies ist nach den Ergebnissen B.s insgesamt eher nicht der Fall. Es zeigt sich vielmehr, wie stark sich christliche Denker in der Auseinandersetzung mit paganen Konzepten voneinander unterscheiden, auch wenn sie durchaus aufeinander aufbauen. Es lässt sich somit viel eher von der Pronoia-Konzeption des Origenes, des Athenagoras oder des Justin sprechen als von einem spezifisch christlichen Gebrauch von Pronoia. Auch ist der Gebrauch des Begriffs eng mit der Gesamtkonzeption des jeweiligen Denkers verzahnt. Zugleich zeigt sich, dass die christlichen Theologen nicht einfach nur auf "heidnische Konzepte" reagieren, sondern sich mit einer philosophischen Debatte auseinander setzen, die gerade in den ersten drei Jahrhunderten n. Chr. auch im paganen Bereich im Fluss ist. Dies ist ein Ergebnis, dass auch für die Frage nach "der Hellenisierung" des Christentums von hohem Interesse ist.

Vielleicht hätte man sich wünschen können, dass diese Frage noch über Euseb hinaus verfolgt würde, etwa durch Analyse der Auseinandersetzung mit heidnischen Konzepten zur Schicksalslehre im 4. und 5. Jh. Doch dies hätte eine weitere Monographie verlangt und liegt außerhalb des gewählten Rahmens der Arbeit. Dasselbe gilt für den lateinischen Begriff providentia, von dem aus sich wohl ein stärkerer Bezug zu dem Themenkreis Präszienz-Prädestination ergeben hätte. Demgegenüber ist nicht so ganz ersichtlich, wieso (etwa als Brücke zwischen Teil 1 und Teil 2) der neutestamentliche und frühchristliche Sprachgebrauch nicht eigens thematisiert wird, allerdings zeigt ein Blick in das Kittelsche Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament (Bd. IV, 1005 f.1011), dass sich die Belegstellen aus diesem Bereich den drei von B. in Teil 1 analysierten Bedeutungen von pronoia gut zuordnen lassen.

So bleibt als Fazit: B. hat eine in vieler Hinsicht anregende Monographie vorgelegt, nicht nur, was den Gedanken der Pronoia in der Alten Kirche angeht, sondern auch hinsichtlich der Verhältnisbestimmung zwischen christlicher Theologie und nichtchristlicher Denkkonzepte in vornizänischer Zeit. Darüber hinaus bleibt zu hoffen, dass auch die erzielten Einzelergebnisse (etwa für Basilides, Origenes oder Euseb) von den jeweiligen Spezialisten rezipiert werden.