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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

529–531

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Winter, Bruce W.

Titel/Untertitel:

Philo and Paul Among the Sophists. Alexandrian and Corinthian Responses to a Julio-Claudian Movement. Second Edition.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2002. XX, 302 S. gr.8. Kart. US$ 32,00. ISBN 0-8028-3977-0.

Rezensent:

Christian Noack

Bruce Winters Studie zur Bedeutung der sophistischen Bewegung in der frühen Kaiserzeit aus dem Jahr 1997 liegt nun in einer zweiten, aktualisierten und erweiterten Form vor. Er führt darin drei Forschungsfelder, die so genannte "zweite Sophistik", Philo von Alexandrien und Paulus mit dem Ziel zusammen, die wichtige öffentliche Funktion der zweiten Sophistik schon im 1. Jh. n. Chr. beginnen zu lassen. Mit G. W. Bowersock wird der "Sophist" als "virtuoso rhetor with a big public reputation" definiert (3-5). Der Wandel des Begriffs vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 3. Jh. n. Chr. wird angedeutet, allerdings nicht wirklich problematisiert.

Im ersten Teil (The Alexandrian Sophists, 15-108) analysiert W. Quellen, die die Existenz einer zweiten sophistischen Bewegung im frühkaiserzeitlichen Alexandrien belegen sollen. Er zeigt in seiner Interpretation des Briefes eines Studenten an seinen Vater (P. Oxy. 2190, ca. 75 n. Chr.), welche bedeutende Rolle rhetorische Fähigkeiten in der tertiären Ausbildung Alexandriens gespielt haben müssen (A student among the Alexandrian sophists, 19-39). Ein gewisser Neilus informiert seinen wohlhabenden Vater über die Schwierigkeiten, eine qualifizierte rhetorische Ausbildung in Alexandria zu finden, und führt dies auf einen "Mangel an Sophisten" zurück (Z. 18-19; im Anhang von W. dokumentiert: 256-260). Als Zwischenlösung suchte sich Neilus einen privaten Tutor für Rhetorik und besuchte öffentliche Deklamationen. W. interpretiert diesen Befund als Hinweis dafür, dass Sophistenschulen für Oberschichtsangehörige in Alexandria bestanden und sogar auf Grund großer Nachfrage überfüllt gewesen sein müssen (20-24). Dio Chrysostomos' Rede an die Alexandriner (Frühdatierung von Or. 32 in die 70er Jahre) zeige die Verschiebung der postenzyklischen Ausbildung in der Aristokratie von der Philosophie hin zur Rhetorik (40-58).

Ausführlich wendet sich W. dann Philo zu (Who are Philo's sophists, 59-79). Zunächst einmal versucht er durch Analysen der Textstellen Contempl 31, Agr 136, QG III.33 und Congr 67 plausibel zu machen, dass Philo den Begriff "Sophisten" nicht pejorativ im übertragenen Sinne für Nichtsophisten gebraucht, sondern dazu, tatsächlich eine soziale Gruppe virtuoser Rhetoren zu bezeichnen. Mit diesem Befund im Rücken deutet W. in den Kapiteln 4 und 5 (Philo's critique of the Alexandrian sophistic tradition, 80-94; Philo among the sophists, 95- 108) die von Sophisten sprechenden Textstellen wörtlich, d. h. als Aussagen über reale soziale Verhältnisse im elitären Bildungsmilieu Alexandriens. Gleichzeitig schließt sich W. den Urteilen Philos über die Sophisten an. So entsteht ein negatives Porträt der alexandrinischen Sophisten: Sie lehren zwar die Kardinaltugenden, leben aber nicht nach ihnen, sie missbrauchen philosophische Bildung, um den Lastern Raum zu geben, sie täuschen ihre Hörer mutwillig und bereichern sich an anderen. Mit ihrer geschickten Argumentationskunst greifen sie sogar Juden an, die - abgesehen von solchen Ausnahmen wie Philo - rhetorisch ungeschult sind (Det 33-34 wird als offensive Selbstverteidigung der Sophisten und Angriff auf die Juden gelesen). Dass Philo mit traditionellen literarischen Stereotypen arbeiten könnte, kommt bei W. nicht in den Blick, obwohl er durchaus sieht, dass sich Philo stark an die platonische Sophistenkritik anlehnt. Aber er ist der Überzeugung, dass diese zur Zeit Philos immer noch angemessen war (vgl. 85: "With the sophists virtue had effectively degenerated into a kind of amoral success no less than in Plato's day"). Schwerer wiegt die Außerachtlassung formgeschichtlicher und texttheoretischer Reflexionen. Die "Sophisten" haben innerhalb der großen Schriftenreihen Philos zunächst einmal eine bestimmte innertextliche Funktion. In der Expositio Legis vertreten sie meistens eine polytheistische, an der Sinneswirklichkeit orientierte Daseinshaltung (vgl. Praem 25.58, Jos 103- 105, Mos I 92). Im Allegorischen Kommentar stehen die "Sophisten" oft für einen Seelenzustand, der die Abhängigkeit von einer transzendenten göttlichen Wirklichkeit leugnet ("Kain" kontra "Abel" in Det 1 ff.). Wieweit sich in den Polemiken Philos dann auch aktuelle Auseinandersetzungen in Alexandrien im Koordinatenfeld von Philosophie, Rhetorik, "zweiter Sophistik" und hellenistischem Judentum niedergeschlagen haben, das bleibt natürlich eine sehr lohnende Fragestellung, die W. aus einem Schattendasein in der Philoforschung herausgeholt, aber methodisch nicht ausreichend reflektiert hat.

Im zweiten Teil (The Corinthian Sophists, 109-239) werden Quellen vorgestellt, die die Existenz einer zweiten Sophistik im frühkaiserzeitlichen Korinth plausibel machen sollen. Allerdings stammen nur die Korintherbriefe des Paulus aus den 50er Jahren des 1. Jh.s, alle anderen nach Korinth weisenden Belege (Epiktet, Dio, Plutarch, Favorinus) sind um die Jahrhundertwende oder noch später (Herodes Attikus) zu datieren. W. demonstriert, welche prominente Rolle Anfang bis Mitte des 2.Jh.s Popularität anstrebende Rhetoren im Leben der korinthischen Öffentlichkeit gespielt haben (Epictetus and the Corinthian student of the sophists, 113-122; Dio and Plutarch among the Corinthian sophists, 123-140). Typische Merkmale ihrer Auftritte waren unter anderem: sorgfältige Pflege des Aussehens, ein rhythmischer gesangsähnlicher Redestil, gefeierte oder kritisierte Deklamationen, Konkurrenz unter den in der Öffentlichkeit auftretenden Rhetoren, Schüler als Anhängerschaft, Zugehörigkeit zur Oberschicht, Übernahme politischer Aufgaben, Geschenke an die Stadt und im Gegenzug Verehrung der Redner durch Ehrenstatuen. Zum Sachinhalt ihrer Reden, zu ihren philosophischen oder religiösen Überzeugungen tragen diese Quellen leider kaum etwas bei.

In den Kapiteln 8-10 (Paul and sophistic conventions, 141- 179; Paul's critique of the Corinthian sophistic tradition, 180- 202; Paul among the Christian sophists, 203-239) möchte W. nachweisen, dass Paulus in 1Kor 1-4; 1Kor 9 und 2Kor 10-13 durchweg Konventionen dieser zweiten Sophistik reflektiert und kritisiert. Seine Analysen führen zur folgenden Rekonstruktion der korinthischen Ereignisse (vgl. 203.241 f.): Paulus tritt in Korinth bewusst antisophistisch auf, d. h. er verzichtet auf einen rhetorisch beeindruckenden Auftritt und lässt sich später seine Arbeit als Lehrer nicht entlohnen. Wichtige Meinungsführer in der neuen Gemeinde interpretieren ihr Verhältnis zu Paulus dennoch im Rahmen einer sich exklusiv gebenden sophistischen Schüler/Lehrer-Beziehung. Der nachrückende Apollos, der die rhetorischen Erwartungen der Gemeinde mehr als Paulus befriedigt, löst in der Gemeinde einen Wettstreit um den "besten" Lehrer aus; konkurrierende Gruppen entstehen. Die Gemeinde wünscht sich Apollos zurück, der sich aber weigert, wie Paulus im 1. Korintherbrief berichtet. Daraufhin und von den Ausführungen des Briefes nicht überzeugt engagiert sich die Gemeinde rhetorisch begabte Lehrer, die ihren Erwartungen sophistischer Darstellung des Jesusglaubens entgegenkommen. Diese - mit 1Kor bekannt gemacht - attackieren den paulinischen Ansatz. Paulus muss sich schließlich mit der Kritik der christlichen Sophisten am seinem defizienten öffentlichen Wirken intensiv auseinander setzen (2Kor 10-13).

Methodisch arbeitet W. mit Vergleichen: Der paulinische Textbefund wird mit entsprechenden Belegen aus rhetorischer Theorie und Praxis erhellt (u. a. Alcidamas, Aristides, Aristoteles, Isokrates, Philodemus, Philostratus, Quintilian). Einige Beispiele: Das Motiv "erste Ankunft in einer Stadt" - für den Erfolg eines Sophisten entscheidend - nehme Paulus in 1Kor 2,1-5 auf, einem Textabschnitt, der auch sonst rhetorische Fachbegrifflichkeit enthalte: pistis ("confidence"), apodeixis ("a clear proof"), dynamis, peithos, hyperoche (143-163). In 1Kor 1,4-9 reagiere Paulus auf Minderwertigkeitsgefühle unter Gemeindegliedern, die sich rhetorisch unfähig fühlen, und spreche ihnen zu, dass sie en panti logo reich sind (183-185). Der in der Gemeinde ausgebrochene Streit (eris) sei typisch für das sophistische Milieu, ebenso das Sich-Rühmen und Starkfühlen (187-200).

Diese Methodik führt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass auf Seiten der korinthischen Meinungsführer nicht außergewöhnliche spirituelle Erfahrungen (Ekstasen, Himmelsreisen, Vollendungsbewusstsein, Wundertaten), sondern Konventionen der zweiten Sophistik die entscheidende Rolle spielten - auch bei den angeheuerten "sophistic teachers". Paulus bekämpft also eine "Säkularisierung" der Gemeinde ("Paul had accused them of operating in a secular way and of behaving like secular men because of their attitudes to Apollos and himself", 251).

Dieses Resultat erklärt sich wohl daraus, dass die von W. herangezogenen rhetorischen Quellen mitsamt der "zweiten Sophistik" entweder keinen im engeren Sinn religiösen Charakter haben oder auf ihre religiös-spirituelle Dimension hin nicht befragt wurden. Da Paulus in seinen Reaktionen auf die korinthischen Probleme doch auch von einer eigentümlichen Spiritualität der Gemeinde und der Gegner ausgeht, müsste zur Erhärtung der Sophistenthese gezeigt werden, dass spirituelle Themen in Rhetorik und zweiter Sophistik eine wichtige Rolle spielten. Vor allem: Wollten und konnten diese jüdisch-christlichen Lehrer überhaupt "virtuose Rhetoren mit großer öffentlicher Reputation" und damit auch Angehörige der reichen städtischen Oberschicht sein? Die Existenz von christlichen "Sophisten", die dem Typus der zweiten Sophistik entsprachen, hat W. mit seinen Ausführungen m. E. nicht ausreichend begründet. Denn dass die Gegner im 2. Korintherbrief auf Redekunst Wert legten, sagt ja noch nicht, dass diese den alleinigen Kern ihres Selbstverständnisses als "Arbeiter für Christus" bildete. Wurde die Redekunst nicht doch wohl eher charismatisch interpretiert und in den Kontext anderer spiritueller Fähigkeiten gestellt?

W.s Verdienst besteht trotz meiner Skepsis bezüglich seiner "sophistischen Lehrer" darin, auf die wichtige Dimension rhetorischer Erwartungen auf Seiten der Korinther mit vielen diskutablen Beobachtungen nachdrücklich hingewiesen zu haben.