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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

568–570

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Stollberg, Dietrich]

Titel/Untertitel:

"Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes". Körper - Leib - Praktische Theologie. Hrsg. von M. Klessmann u. I. Liebau.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 261 S. m. 3 Abb. 8. ISBN 3-525-60397-5.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Diese Festschrift ist für ihre Gattung vorbildlich. Das für das Werk des Jubilars wesentliche Thema "Leiblichkeit" bestimmt jeden Beitrag, und die 17 Verfasser und 3 Verfasserinnen hielten sich offensichtlich an die Vorgaben, auch den Umfang betreffend. In vier Abschnitten wird das Thema unter seelsorgerlichen und pastoralpsychologischen (I), liturgisch-ästhetischen (II), psychotherapeutischen und körpertherapeutischen (III) sowie gesellschaftlichen und religionswissenschaftlichen Perspektiven (IV) entfaltet. Klessmann und Liebau stellen einen Forschungsbericht voran, der besonders Stollbergs Beiträge zum Thema würdigt.

Den ersten Teil eröffnet R. Eidam mit Gedanken zur Leiblichkeit des Wortes. Er vermutet, "daß die Wertschätzung des gesprochenen Wortes deutlich abgenommen hat", so daß "fast die Zeit gekommen ist für eine ,Wiederentdeckung des Wortes’". Reden, Körperlichkeit oder Schweigen sind nicht per se gut. - "Leiblichkeit in der Krankenseelsorge" beschreibt H. Ch. Piper anschaulich anhand von Beispielen. G. Hartmann bedenkt das Thema aus der Praxis der zweiten Ausbildungsphase heraus und stellt fest, daß Leiblichkeit als Ausbildungsziel unverfügbar ist. J. B. Houck weist anhand von Fallbeispielen auf die notwendigen Grenzen körperlicher Kontakte in der Seelsorge hin. "Leiblichkeit und Identität" erörtert M. Haustein vor allem bezogen auf die Identitätssuche als leibseelische Krise des Jugendalters. M. Klessmann beschließt den ersten Teil mit Gedanken "Zur Ethik des Leibes - am Beispiel des Körperschemas". Dieser Beitrag steht den im dritten Abschnitt enthaltenen Arbeiten zur bioenergetischen Therapie nahe und hätte auch dort eingeordnet werden können.

Den zweiten Teil beginnt M. Josuttis mit einer "Anstiftung zur Spurensuche" über "Leiblichkeit in der Liturgie". Gestaltete Leiblichkeit soll "in spezifische Wirklichkeiten einführen, die jenseits von Rationalität und Emotionalität lokalisiert sind". Fernöstliche Formen des religiösen Körpertrainings werden mit dem christlichen Herzensgebet verbunden. - Es schließen sich zwei Arbeiten mit kunstgeschichtlichen Aspekten an: G. M. Martin, "Der nackte Leib Christi", und H. Schwebel, "Leiblichkeit in der Begegnung von Kunst und Theologie", der besonders den Bildhauer Jürgen Goertz als Beispiel nimmt (mit 3 Abb.). - H.-G. Heimbrock behandelt Rituale als symbolisches und leibhaftes Handeln in der Seelsorge, besonders bei Kasualien, und tritt für die Erprobung und Entwicklung neuer Rituale ein, z. B. bei Scheidungen.

Im dritten Teil sind die ersten drei Beiträge von der bioenergetischen Therapie bestimmt: A. Klopstech, "Anmut, Gnade und bioenergetische Therapie", A. Lowen, "Die Spiritualität des Körpers" und I. Liebau, "Zwischen Himmel und Erde. Leiblichkeit und Geschlecht - aus bioenergetischer und theologischer Sicht". Die Problematik dieses Ansatzes wird am deutlichsten im Beitrag der Mitherausgeberin Liebau. Sie referiert die Grundthese der Bioenergetik: "Wir sind unser Körper, und unser Körper offenbart, wer wir sind, bringt den Charakter des Menschen zum Ausdruck". Was offenbart dann der Körper eines behinderten oder durch Unfall oder Krankheit entstellten Menschen? Gott soll in unserem Körper erfahrbar werden, und der Körper soll in seiner Geschlechtlichkeit die Basis der Praktischen Theologie bilden. Hier scheint eine neue Art von Physikotheologie zu entstehen, eine Bauch- und Beckentheologie, deren biblische Begründung nicht erkennbar ist. "Die Hingabe an Gott ist eine Hingabe an den Lebensprozeß im Körper, an die Gefühle, an die Liebe und die Sexualität" (170). Mit Moltmann-Wendel wird behauptet: "Im Körper begegnen sich Gott und Mensch, in den Körpern der Menschen begegnet uns Gott". Heil und Heilung lassen sich angeblich "nur auf somatischer und psychischer Ebene zugleich erfahren" (176). U. Bachs Einspruch gegen diese Koppelung wird im ganzen Buch nicht beachtet.

H. Petzold und I. Orth erklären und modifizieren das Programm "Heilende Bewegung" mit "Überlegungen aus der Sicht der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie". Sie setzen den klassischen und modernen Dualismen von Leib und Seele eine "Verschränkung von Organismus und Symbolwelt, von körperlicher Bewegung und seelischer Bewegtheit" entgegen, die die Qualität eines integrierten "Daseins in der Welt" ausmacht.

R. Riess, "Mit Leib und Seele. Zur Hermeneutik des Leib-Seele-Problems in der Psychosomatischen Medizin" skizziert das dualistische, das monistische und das integrative Paradigma der Zuordnung von Leib und Seele sowie drei hermeneutische Modelle der Psychosomatik: De- und Resomatisierung, Gestaltkreis (V. v. Weizsäcker) und Situationskreis, und er weist auf theologische Perspektiven eines Verständnisses des Menschen als "beseelter Leib und verleiblichte Seele" (O. Betz) hin. - K. Winkler, "Poimenische Anmerkungen zur Auseinandersetzung um die Leiblichkeit in der Psychoanalyse", geht von der Frage aus, ob ich den Leib habe oder der Leib mich hat. Diese Grundantinomie "schlägt sich in einem deutlich ambivalent vorgezeichneten Verhalten innerhalb der psychoanalytischen Szene nieder" (216), das sich analog in der Seelsorge wiederfindet.

Am kürzesten ist der vierte Teil mit den gesellschaftlichen und religionswissenschaftlichen Perspektiven. H. Steinkamp, "Der Körper als Produkt der Gesellschaft", untersucht M. Foucaults Topos des "politischen Körpers" im Kontext seiner Theorie der Macht und der Sexualität. K. F. Daiber, "Der Körper als Sprache des Rituals", hätte gut in den liturgischen Abschnitt gepaßt. Als Beispiel für die Schwierigkeit des rituellen körperlichen Ausdrucks spiritueller Präsenz nennt D. das Sitzen und Aufstehen im Gottesdienst. Er meint, dahinter stünde kein liturgischer Gedanke und zeigt damit, wie wenig Übereinstimmung selbst unter Fachleuten bezüglich nonverbaler liturgischer Ausdrucksmittel besteht. - H.-J. Thilo beschließt die Aufsätze mit Hinweisen zu "Leiblichkeit als religionsphilosophisches Phänomen" unter besonderer Berücksichtigung des Hinduismus. Ein Spitzensatz lautet: "Ist der Sohn aber die Verwirklichung des Seins, dann ist der Leib - und zwar jeder Leib- die Verwirklichung Gottes" (247, im Orig. kursiv). Der Satz zeigt ähnlich wie der Beitrag Liebaus, wie wichtig es ist, über den positiven Inhalt und die Grenzen des Inkarnationsglaubens nachzudenken.

Eine Festschrift leistet viel, wenn sie ein für das Werk des Jubilars wesentliches Thema inhaltsreich, übersichtlich und auch provozierend, die Diskussion anregend behandelt. Das ist gelungen. Vollständig könnte selbst ein viel dickeres Buch das Thema nicht entfalten. Daß die Schwerpunkte in den Bereichen Seelsorge und Liturgik liegen, entspricht dem Forschungswerk Stollbergs. Dennoch fällt auf, daß die Diakonie als das praktisch-theologische Handlungsfeld mit der massivsten Verbindung zur Leiblichkeit nicht vorkommt, obwohl Stollberg in Bethel tätig war, ebenso wie zwei der Autoren. Das auffällige Gewicht des bioenergetischen Ansatzes hätte dadurch eine notwendige Korrektur erhalten, und auch der gesellschaftliche Aspekt wäre stärker zur Geltung gekommen.