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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

525–527

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Omerzu, Heike

Titel/Untertitel:

Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. XIV, 615 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 115. Lw. Euro 138,00. ISBN 3-11-017512-6.

Rezensent:

Jürgen Wehnert

Bei der hier vorzustellenden umfangreichen Arbeit handelt es sich um eine von Friedrich Wilhelm Horn (Mainz) angeregte Dissertation, mit der die Autorin 2002 an der Johannes Gutenberg-Universität promovierte. Obwohl der vom Acta-Verfasser geschilderte Prozess gegen den Völkerapostel in jüngerer Zeit mehrfach monographisch behandelt worden ist, erweckt diese neue Studie angesichts der schwierigen rechtlichen und literarischen Probleme, die sich mit der Thematik verbinden, beträchtliche Neugier.

Die Arbeit beginnt mit einem knappen Forschungsüberblick (3-12), der, in z. T. scharfer Form, auf die Defizite früherer Arbeiten abhebt und so indirekt die Begründung einer neuerlichen Untersuchung vorwegnimmt (12-15). Der schmalere erste Hauptteil wendet sich den rechtlichen Voraussetzungen des Paulusprozesses zu, nämlich den kontrovers diskutierten Fragen, ob Paulus das römische Bürgerrecht innegehabt habe (19-52) und, infolgedessen, auch das Recht zur Appellation an den Kaiser (53-109). Beide Fragen werden bejaht: Dass ein tarsischer Jude das Bürgerrecht der Stadt Rom besessen habe, sei möglich, die Einwände dagegen ließen sich entkräften. Neue positive Gesichtspunkte fehlen allerdings (dass sich Paulus bei seinen Reisen "regelrecht an römischen Provinzen" orientiert haben soll [49], besagt, ganz abgesehen von Gal 1,17, gar nichts).

Ungeschickt ist, dass als Argument für das Bürgerrecht auch die durch die Appellation an den Kaiser begründete Romreise angeführt wird (48) - damit ist das Ergebnis des folgenden Abschnitts präjudiziert. Er bleibt gleichwohl lesenswert, weil die Vfn. in gründlicher Auseinandersetzung mit den Primärquellen die vom Acta-Verfasser vorausgesetzte Rechtssituation anschaulich zu machen vermag: In der Frühzeit des Prinzipats, in der eine Transformation des republikanischen Rechts stattfand, dürften viele der später in den Digesten festgelegten Rechtsnormen und -verfahren noch nicht existiert haben, so dass die Apg 25,11 geschilderte Berufung des Paulus durchaus "eine Frühform der kaiserzeitlichen appellatio widerspiegeln" könne (108).

Das so begründete Vertrauen der Vfn. in die historische Verlässlichkeit der Apg prägt auch den Hauptteil der Arbeit. Er bietet "traditionsgeschichtliche Analysen" aller forensischen Konflikte, in die Paulus der Apg zufolge verwickelt war (111-508). Dass die Vfn. auch die Vorgänge in Philippi, Thessaloniki und Korinth mit in den Blick nimmt, ist unter redaktionsgeschichtlichem Aspekt verdienstvoll, da so generelle Strategien des Acta-Verfassers in der Darstellung der paulinischen Prozesse aufgedeckt werden können (zu den Resultaten vgl. 270-274).

Methodisch bleibt allerdings hier wie in der Rekonstruktion des Apg 21 ff. geschilderten "Hauptprozesses" manches unscharf. Die primär historische Zielsetzung der Arbeit verlangt eine präzise Unterscheidung der lukanischen Darstellung hinsichtlich ihrer redaktionellen und traditionellen Bestandteile, da selbstverständlich nur die Tradition eine Brücke zu den prozessualen Vorgängen um Paulus schlagen kann. Dieses methodische Postulat (13 ausdrücklich bekräftigt) wird zwar insoweit erfüllt, als die hier relevanten Apg-Texte jeweils auf ihren (vor-)lukanischen Charakter hin befragt werden. Trotzdem gewinnt man nicht selten den Eindruck, dass die Urteile über den Traditionswert von Textelementen nach den Erfordernissen der von der Vfn. eingeschlagenen Argumentationslinie gefällt werden. So erscheint im Grunde alles als traditionell, was plausibel anmutet und mit den juristischen Voruntersuchungen konform geht.

Solche "Tradition" - und hier liegt ein noch gravierenderes Problem - scheint die Vfn. ohne weiteres für eine Widerspiegelung der historischen Vorgänge um Paulus zu halten, als könne mit dem geschichtlich Plausiblen (etwa den juristischen Angaben des Lukas) zugleich die Geschichte selbst erfasst werden. Zur Stützung der Auffassung, Paulus sei nicht wegen der Entweihung des Jerusalemer Tempels infolge eigener Unreinheit verhaftet worden, begegnet beispielsweise der erstaunliche Satz: "Vielmehr betont Paulus auch in seinem Rückblick auf die Verhaftung in 24,17 f ausdrücklich, daß es zu dem Tumult gekommen ist, nachdem er sich gereinigt hatte" (305). S. 441 findet sich dann das (zutreffende) Urteil, "daß die gesamte Apologie des Paulus [sc. in Apg 24] von lukanischem Sprachstil geprägt ist", woraus unmittelbar folgt, dass Apg 24,18 keine historisch auswertbare paulinische Aussage ist. Es muss an dieser Stelle genügen, an die von Hans Conzelmann (übrigens mit Blick auf die Apg) formulierte "Karl-May-Regel" zu erinnern, die anschaulich vor dem Schluss von der "Plausibilität" einer literarischen Darstellung auf deren Geschichtlichkeit warnt.

Die intendierte Rekonstruktion des letzten Paulusprozesses hätte es erforderlich gemacht, sich noch stärker auf die sicher ermittelbaren Traditionselemente zu konzentrieren, statt dem Leser, ganz im Gefälle der gegenwärtig reanimierten konservativen Acta-Forschung, zu suggerieren, in der Sequenz der lukanischen Episoden (abzüglich der irenischen Verschleierungen und rhetorischen Zugaben des Verfassers) bilde sich das paulinische Lebensschicksal Stück um Stück ab.

Dieser Einwand sei an einem wichtigen Punkt verdeutlicht: Um der Teilnahme des Paulus an der Nasiräerausweihung Apg 21,23-26 einen Sinn abzugewinnen, muss die Vfn., von der lukanischen Darstellung geblendet, ab V. 24 eine ungewöhnliche Semantik der vorfindlichen Terminologie (paralabon = zu Hilfe nehmen usw.) unterstellen (299 ff.). Hätte sich die Rekonstruktion allein am Inventar der vorlukanischen Traditionen orientiert, wäre der Vfn. vermutlich ein Zusammenhang mit der auf Paulus zu beziehenden Nasiräer-Notiz 18,18 (wird in der Arbeit praktisch ignoriert) aufgefallen und als historische Option die Möglichkeit sichtbar geworden, dass Paulus von Korinth aus als Nasiräer nach Jerusalem gereist ist - eine öffentliche Demonstration jüdischer Frömmigkeit angesichts der vom Apostel gehegten Furcht vor seinem dortigen Schicksal (Röm 15,31) und eine Erklärung dafür, warum der Mob erst nach seiner Ausweihung Hand an ihn zu legen wagte (Tradition hinter Apg 21,27).

Die betonte Orientierung der Studie am lukanischen Erzählfaden führt hingegen, trotz ihres immensen Fleißes, zu einer insgesamt wenig spektakulären Rekonstruktion der Prozessgeschichte des Paulus, im Kern ist es die der Apg selbst: Paulus wurde auf Grund von Falschaussagen wegen seditio (konkret: Unruhestiftung im Tempelbereich) verhaftet und nach seiner Appellation an den Kaiser sowie jahrelanger Prozessverschleppung wegen dieses Deliktes in Rom hingerichtet.

Dieses immerhin glasklare Resultat bezieht seinen Optimismus auch aus der (wohl erst nachträglich entwickelten) literarkritischen Prämisse, dass Lukas für Apg 21-26 "auf eine zusammenhängende, wahrscheinlich auch schriftlich fixierte Überlie- ferung zurückgreifen konnte". Dieser "vorlukanische Haftbericht" soll "in legendarischer Form" festgehalten haben, "wie es zur Festnahme und zur langjährigen Haft des Paulus kam" (507f.). Diese schwerlich zu verifizierende Hypothese entzieht nun freilich der vorangehenden historischen Rekonstruktion den Boden: Legenden haben kein historisches, sondern erbauliches Interesse. Was Pauluslegenden wert sind, hätte die Vfn. an den Paulusakten des 2. Jh.s ablesen können. Sie fehlen erstaunlicherweise unter den zahllosen ausgewerteten Quellen, obwohl das hierin enthaltene und später verselbständigte Paulusmartyrium insofern mit der Prozess-Tradition spielt, als es die Enthauptung des Apostels auf Grund kaiserlichen Urteils voraussetzt.

Das mit Exkursen aller Art gespickte Buch erschließen immens ausführliche Verzeichnisse (509-615; u. a. Sach-, Orts- und Namenregister) - nützliche Appendizes zu einer Untersuchung, die weniger durch ihre These als durch ihre gründliche Aufarbeitung von Primär- und Sekundärliteratur dazu beitragen wird, das Interesse an den bei unveränderter Quellenlage wohl unlösbaren historischen Fragen um den letzten Prozess des Paulus wach zu halten.