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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

523–525

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Ulrich B.

Titel/Untertitel:

Christologie und Apokalyptik. Gesammelte Aufsätze.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 332 S. gr.8 = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 12. Geb. Euro 58,00. ISBN 3-374-02053-4.

Rezensent:

Jens-Wilhelm Taeger

Auf dem Einband des anzuzeigenden Buches werden im Untertitel "Gesammelte Aufsätze" angekündigt, auf dem Titelblatt dagegen "Ausgewählte Aufsätze". Letzteres ist angemessener und nach dem Vorwort zu schließen auch im Sinne des Vf.s. Ausgewählt hat er zwölf Studien; elf sind zwischen 1977 und 2001 erstmals erschienen, eine war bisher unveröffentlicht. Zugeordnet sind sie den vier Themenbereichen Jesus von Nazaret, Christologie, Paulus (der Philipperbrief), Apokalyptik und geben damit einen guten Einblick in die Forschungsschwerpunkte des Saarbrücker Neutestamentlers. Der Reiz einer solchen Sammlung von Aufsätzen, die "in formaler Hinsicht vereinheitlicht, sprachlich und inhaltlich aber kaum verändert" (Vorwort) wurden, liegt nicht selten darin, dass manche Beiträge nach Jahrzehnten im Rahmen des aktuellen exegetischen Gesprächs wie Einsprüche wirken müssen, andere hingegen scheinen von zwischenzeitlichen Entwicklungen exegetischer Trends fast unberührt geblieben zu sein.

In dem den Band eröffnenden Aufsatz Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen Struktur der Verkündigung Jesu wird der Visionsbericht Lk 10,18 zum Ausgangspunkt genommen für die Erfassung des neuen eschatologischen, den Universalismus der Schöpfungstheologie aktualisierenden Ansatzes Jesu, der sich auch umfassend auf die Ethik erstreckt. Die hier erstmals gedruckte kleine Studie Johannes der Täufer und Jesus von Nazaret. Ein Vergleich skizziert zunächst (in Aufnahme von Gedanken aus der Monographie des Vf.s: Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu, Leipzig 2002) knapp das die beiden jüdischen Propheten Verbindende und Unterscheidende. Das Letztere sieht der Vf. wie heute weithin üblich in der jeweils anderen Gewichtung von Gericht und Heilszusage bzw. im unterschiedlichen eschatologischen Standpunkt ("Jesus überholt den Täufer in seinem eschatologischen Zeitbewusstsein" [51]). Er bedenkt sodann dieser Linie folgend die verschiedenen Reaktionen auf ihren gewaltsamen Tod: Bezeugt Mk 6,14b wohl den jüdischen Volksglauben, Gott habe den Täufer als Märtyrer auferweckt, so scheint doch im Geschick dieser vorbildlich frommen Gestalt nicht der Horizont einer Heilswende auf; der von den Jüngern bei Jesus erfahrene Überschuss an Heilsgewinn provoziert dagegen die Überzeugung, sein Tod sei nicht das Ende der Durchsetzung der Gottesherrschaft, wodurch die Jesusbewegung ungeahnte historische Dimensionen annehmen konnte. Im Schlussabschnitt seiner Ausführungen greift der Vf. zurück auf Erwägungen, die er anderenorts breiter entfaltet hat: Die Entstehung des Glaubens an die Auferstehung Jesu. Historische Aspekte und Bedingungen, SBS 172, Stuttgart 1998.

Wenn schon - aus welchen Gründen auch immer - diese interessante Arbeit nicht zur Gänze in die Sammlung aufgenommen wurde, so hätte eine gekürzte und eventuell überarbeitete Fassung sich bestens in das Ensemble jener Aufsätze eingefügt, die den Bogen von der Botschaft Jesu und ihrer Rezeption bis zur Christologie spannen.

Im Beitrag Zur Rezeption gesetzeskritischer Jesusüberlieferung im frühen Christentum werden in behutsamer Argumentation, im Ergebnis freilich vielleicht doch etwas zu einseitig als Trägerkreise der gesetzeskritischen Jesusüberlieferung Heidenmission treibende, aber nicht mit den "Hellenisten" zu verbindende Judenchristen in Galiläa und angrenzenden Gebieten bestimmt. Man fragt sich allerdings, warum hier bei der Erörterung der Position der Hellenisten in einer zusätzlichen Anmerkung (65, Anm. 21a) auf eine neuere pointierte Meinung eingegangen wird, nicht aber in ähnlicher Weise auf die m. E. mindestens ebenso wichtige, intensive und weit verzweigte Debatte um die Stellung Jesu zum Gesetz verwiesen wird. Denn die Auffassung, Jesu freie, radikale Haltung sei judenchristlich nicht durchgehalten bzw. gemildert worden (86 f.), ist nicht mehr so verbreitet wie ehedem und bedürfte gegenwärtig wohl zusätzlicher Begründung. Der Aufsatz "Sohn Gottes" - ein messianischer Hoheitstitel Jesu untersucht ausgehend von der vorpaulinischen Formel Röm 1,3 f. in erhellender Weise die Frage, wie das frühe Christentum den hingerichteten, aber von Gott auferweckten Jesus Sohn Gottes nennen konnte, während das zeitgenössische Judentum diesen messianischen Titel mied. Dass die frühchristliche Ausbildung der Menschensohntradition (sieht man von der synoptischen Weitergabe von Menschensohnworten des historischen Jesus ab) "nicht an den Anfang der christologischen Entwicklung gehört, sondern sich eher in die allmähliche Apokalyptisierung frühchristlicher Erwartungen einfügt" (143), ist die These des Beitrags Parusie und Menschensohn. Gegen eine deutliche Tendenz in der Flut der Publikationen zu Johannes, das verglichen mit anderen neutestamentlichen Entwürfen Spezifische des 4. Evangeliums einzuebnen, wendet sich mit guten Gründen die Studie Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums. Das Problem des Todes Jesu. Jedenfalls sind die vom Vf., der nicht in die Extremposition E. Käsemanns zurückfällt, vorgebrachten Argumente dagegen, "daß die Inkarnation und damit auch der Tod Jesu ein theologisches Eigengewicht bekommen" (174), auch nach meinem Urteil bislang nicht entkräftet. Die Warnung, in Johannes das hineinzulesen, "was der Theologie des heutigen Interpreten lieb und teuer ist" (175), ist ja nicht nur berechtigt im Blick auf die johanneische Christologie, sondern ließe sich ebenso z. B. zur Eschatologie, Soteriologie und Ethik formulieren. In das Vorfeld des Philipperbrief-Kommentars des Vf.s (ThHK 11/I, 1993 [22002]) gehört die Arbeit Der Christushymnus Phil 2, 6-11. Die im Kommentar vertretenen Auffassungen werden bekräftigt in dem Beitrag Der Brief aus Ephesus. Zeitliche Plazierung und theologische Einordnung des Philipperbriefes im Rahmen der Paulusbriefe. Unter den vier Arbeiten im Abschnitt "Apokalyptik" finden sich zunächst zwei, die die frühchristliche Apokalyptik als Ganze in den Blick nehmen (Apokalyptische Strömungen und Apokalyptik im Neuen Testament). Die durch den Wiederabdruck erleichterte Zugänglichkeit ist ausdrücklich zu begrüßen, denn sie bieten einen hilfreichen Überblick und eine gute Einführung in die Thematik. Musste hier schon jeweils recht ausführlich auf die Apokalypse des Johannes eingegangen werden, so gelten die beiden abschließenden Beiträge der Sammlung primär dem letzten Buch des Neuen Testaments, zu dem vom Vf. eine nach wie vor empfehlenswerte Kommentierung vorliegt (ÖTK 19, 1984 [21995]). Der Beitrag Literarische und formgeschichtliche Bestimmung der Apokalypse des Johannes als einem Zeugnis frühchristlicher Apokalyptik beschreibt jene Sicht der Dinge, die in den Kommentar eingegangen ist, und behandelt Fragen, die auch noch zwei Jahrzehnte später die Forschung intensiv beschäftigen. Da der Vf. zu jenen Kollegen gehört, die sich nicht auf Gedeih und Verderb an früher einmal gefällte exegetische Urteile gebunden wissen, sondern (gerade in Hinsicht auf die Apk) den Mut haben, sie ausdrücklich zurückzunehmen bzw. zu modifizieren, wäre man - über die Hinweise im Nachtrag zur 2.Auflage des Kommentars hinaus - gespannt zu erfahren, wie es sich hier damit verhält. Einen Einblick in seine neuere Auseinandersetzung mit diesem Werk (auch verbunden mit dem Abrücken von der Sicht im Kommentar zu dieser Stelle) gewährt schließlich der letzte Aufsatz der Auswahl: "Das Wort Gottes". Der Name des Reiters auf weißem Pferd (Apk 19,13). Die eigenartige Bezeichnung des Parusiechristus wird vor dem Hintergrund des Antagonismus zwischen rechter und falscher (d. h. christlich zum "Götzendienst" verführender) Prophetie und so (ohne innerjohanneische Vorgeschichte [gegen den Rez.] oder Rückgriff auf Weish 18,15 f.) als "ganz und gar der Konzeption des Sehers Johannes" (325) zu verdanken verstanden.

Ein Bibelstellenregister in Auswahl hilft bei der Erschließung dieses nicht nur in einzelnen seiner Beiträge, sondern insgesamt anregenden Bandes.