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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

520–523

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lybæk, Lena

Titel/Untertitel:

New and Old in Matthew 11-13. Normativity in the Development of Three Theological Themes.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 269 S. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 198. Lw. Euro 54,00. ISBN 3-525-53882-0.

Rezensent:

Samuel Byrskog

Die Arbeit stellt die revidierte Version der Dissertation von Lybæk dar, die unter der Betreuung J. D. G. Dunns an der Universität in Durham, England, entstanden ist. L. hat sich die Aufgabe gestellt, die normative Funktion der Schrift und der Jesustradition in Mt 11-13 zu untersuchen, vor allem unter der Berücksichtigung dreier Themen: der "ho erchomenos-Christologie", "dem pleion/meizon-Thema" und dem Thema der Verstocktheit. L. will die Autorität und Normativität der Quellen dadurch bestimmen, dass sie die Schrift (Altes Testament) und die Jesustradition als geschriebene Quellen betrachtet und ihre Redaktion in Bezug auf die drei Themen untersucht.

Nach einem Einführungskapitel (Kap. 1), in welchem L. ihre Arbeit mit H. Frankemölles These zur Funktion der Jesustradition und des Matthäusevangeliums als Schrift vergleicht, behandelt sie in Kap. 2 auf übersichtliche Weise die Tradition und Interpretation in jüdischen Schriften und die Anwendung der Schrift sowie die Redaktion der Jesustraditionen im Matthäusevangelium. L. meint, antike jüdische Texte seien im wechselseitigen Zusammenspiel von Autorität und Auslegung normativer Traditionen geformt worden. Die Tatsache, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Schrift zitiert und auf sie anspielt, zeigt, dass er nicht nur darauf bedacht war, die Jesuserzählung in der Geschichte des jüdischen Volkes zu verankern, sondern auch eine messianische Exegese der Schrift auszuführen. Mit Prinzipien, die an die jüdische Hermeneutik erinnern, redigierte er das Markusevangelium und Q in einem auslegenden literarischen Prozess. L. vermutet sowohl einen aus dem Jesusglauben entspringenden Respekt für die Quellen als auch einen gemeindeorientierten Bedarf der Auslegung und Aktualisierung.

Kap. 3 gibt den Ton an für den Rest der Arbeit. Wichtig für L. ist, dass das Matthäusevangelium historisch und redaktionell studiert werden muss, weil die Erzählung von einer theologisch bewussten Bearbeitung geschriebener Quellen abhängig ist. Als theologische Reflexion ist das Evangelium doppelsinnig und gibt der Geschichte eine kerygmatische Dimension, die sich an die Gemeinde des Verfassers richtet. L. will auch einer statischen Anwendung des Autoritätsbegriffes ausweichen. Autorität bedeutet, dass etwas als normativ bindend gilt. Diese Funktion kann insofern pragmatisch sein, als autoritäre Tradition auf den Glauben und das Leben der Gemeinde einwirkt, oder rhetorisch insofern, als autoritäre Tradition die Ausgestaltung der Erzählung beeinflusst. L. unterscheidet auch zwischen verschiedenen Formen von Zitaten und Anspielungen. Um sie als Zitat oder Anspielung definieren zu können, muss der Verfasser den Text, den er zitiert oder auf welchen angespielt wird, gekannt haben.

In Kap. 4 untersucht L. die "ho erchomenos-Christologie". Die Schrift ist als normativer Beweis für die Messianität Jesu wirksam. Gleichzeitig bekräftigt das Wirken Jesu den prophetischen Anspruch der Schrift. Das Markusevangelium und Q fungieren als normative Tradition dadurch, dass sie den Verfasser mit Sprache und Form versehen, die Erzählung rhetorisch beeinflussen und pragmatische Richtlinien für den Glauben und das Leben der Gemeinde ziehen. Die Jesustradition war eine Verlängerung der Schrift, aber die Jesustradition allein gab der Gemeinde auf direkte Weise einen Code für ihr Selbstverständnis.

Kap. 5 stellt eine Analyse des "pleion/meizon-Themas" dar. Die Schrift fungiert autoritativ dadurch, dass sie das eschatologische Geschehen voraussagt. Gleichzeitig legitimieren sich das Wirken Jesu und die Schrift gegenseitig. Die Normativität der synoptischen Tradition zeigt sich hauptsächlich in der Bearbeitung von Q. Die Tradition ist ein Schlüssel zur Auslegung und eine Norm für die Gemeinde. Sie ist jetzt nicht so sehr eine Verlängerung der Schrift, sondern eine für die Gemeinde formierende Autorität, die in die Kontinuität der Schrift gestellt und von ihr unterstützt wird.

In Kap. 6 wird das Thema der Verstocktheit behandelt. Die Schrift setzt die Norm für das Lesen der Jesuserzählung und formt die gemeinsame Identität der Gemeinde. Sie ist auch insofern normativ, als sie die zeitgenössische Frömmigkeit kritisiert, dazu ermahnt, das Gesetz in der Hoffnung auf die Zukunft zu halten, und einen Typos für Jesu Tod und Auferstehung gibt. Die Normativität der synoptischen Tradition tritt hervor in der Anwendung von Q und des Markusevangeliums. Die Tradition spielt eine entscheidende Rolle dafür, wie der Verfasser das Thema präsentiert, und ist für die Gemeinde und die Jüngerschaft konstituierend. Die Schrift wird durch die Tradition ausgelegt, so dass Jesajas Ausdruck "hören und verstehen" die volle Bedeutung von "Jüngerschaft" erhält.

Im abschließenden Kap. 7 wird das Ganze zusammengefasst. Die Schrift gibt 1) einen sprachlichen und symbolischen Referenzrahmen für den Verfasser und die Gemeinde, gibt 2) prophetisches Wissen über zukünftiges Geschehen, ist 3) ein Beweistext für die Messianität Jesu, hat 4) eine kerygmatische Ausrichtung auf Gottes Treue und Heilswillen, hat 5) eine pragmatische Ausrichtung auf ein Verständnis der wahren Identität des Gottesvolkes, zeigt 6), welches das auserwählte Volk ist, und übt 7) prophetische Kritik an der zeitgenössischen Frömmigkeit. Die synoptischen Quellen liefern 1) zur Interpretation nützliches Werkzeug für theologische Themata, bestätigen 2) die Schrift und werden von ihr bestätigt, liefern 3) Sprache und Referenzrahmen für die Entwicklung neuen Materials, führen 4) das Hoffnung einflößende Versprechen der Schrift auf eine zukünftige Erlösung weiter, bringen 5) die Heilsgeschichte zur Geltung für die eigene Erwähltheit und Identität des Lesers und liefern 6) die Codes für ein Leben als Jünger. Alles in allem ist die reziproke Beziehung zwischen der Schrift und der Jesustradition für das Selbstverständnis der matthäischen Gemeinde als Gottesvolk und Jünger Jesu entscheidend.

L. hat einen relevanten Problembereich der Matthäusforschung definiert. Wenn auch die Funktion der Schrift im Matthäusevangelium seit langem studiert wurde, hat man ihrer Beziehung zur Anwendung der Jesustradition nicht dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet. Mit Recht betont L., dass sowohl die Schrift als auch die Jesustradition wichtige Elemente in der Schöpfung der Jesuserzählung waren und dass bei einem einseitigen synchronen Lesen diese der Erzählung innewohnende diachrone Dimension abhanden kommt.

Trotzdem ist L.s Arbeit nicht ganz überzeugend. Die fundamentale Frage, warum der Verfasser des Matthäusevangeliums ausdrücklich die Schrift zitiert, aber durchgehend die Tradition ohne Zitate einarbeitet, bleibt unbeantwortet. Charakteristisch für das Matthäusevangelium ist m. E., dass die Tradition nicht zitiert wird, sondern als Tradition von und über Jesus verstärkt wird. Es ist deswegen ungeschickt von L., den Ausdruck "synoptische Tradition" zu verwenden. Die Tradition wird vom Verfasser des Matthäusevangeliums bewusst als Jesustradition identifiziert. Dieser Fokus ist ausschlaggebend in Bezug auf die Autorität der Schrift. Das ganze Evangelium hindurch bezieht die Schrift ihre Autorität von Jesus. Seine Aufforderung an die Pharisäer hinzugehen und zu lernen, wie Hos 6,6 sagt, mit einer darauf folgenden Markierung darüber, welche er berufen hat (9,13), ist symptomatisch dafür, wie er die Autorität der Schrift von seiner eigenen Person und Lehre abhängig macht. Die Schrift wird erst in der Jesus-zentrierten Jüngerschaft zur Autorität und zur Norm.

Es wäre hilfreich gewesen, wenn L. ihre analytischen Werkzeuge deutlicher definiert hätte. Was sie mit Autorität und Normativität meint, ist unklar. Es wird zwar gesagt, dass Autorität etwas Funktionelles ist, aber sie erklärt nicht, auf welche Weise eine legitimierte Autorität geschriebener Traditionen auch Normativität beinhaltet. Auch der Versuch, Autorität in pragmatische und rhetorische Funktionen einzuteilen, ist irreführend. L. bleibt hinter einer modernen Textanalyse zurück, in der die rhetorische Funktion ein Teil der pragmatischen ist. Sie lässt uns nie wissen, wie die Schrift und die Tradition als rhetorischer Beweis in der Bearbeitung der Chreiaeinheiten der Tradition und in der narrativen Struktur der Jesuserzählung funktionieren. Ihre freimütige Art, über die pragmatische Funktion der Schrift und der Tradition zu sprechen, wird auch nicht problematisiert in Hinsicht auf die Frage nach der Beziehung zwischen einem Evangeliumstext und seinem Sitz im Leben.

Unklar bleiben auch die Motive ihrer Wahl, Traditionen als geschriebene Texte zu behandeln. Das geschriebene Wort hatte in der Antike einen niedrigeren Status als das mündliche. Das mündlich Überlieferte lag dem Selbstverständnis des Individuums und der Gruppe näher. Zu beachten ist, dass viele Forscher heutzutage das Sondergut des Matthäusevangeliums als eine Reflexion mündlicher Tradition betrachten. Außerdem behandelt L. die geschriebenen Traditionen aus einer literarischen Perspektive. Die mündliche Dimension der geschriebenen Texte wird in der Analyse nicht thematisiert. L. weiß, dass geschriebene Texte "re-oralisiert" wurden, aber lässt nicht zu, dass die Mündlichkeit vor, in und nach dem Niederschreiben des Textes eine Rolle spielt. Sie meint, der Verfasser kopiere und redigiere Quellen, und dass es diese literarische Aktivität sei, die auf die Autorität und Normativität der Jesustradition und des Alten Testaments hinweise. Die Frage ist, ob L.s Analyse der Quellenanwendung in gewissen Texten von Mt 11-13 ihr Ziel erreicht. Auch geschriebene Texte wurden durch mündliches Vorlesen vermittelt und aktualisiert und dadurch in die textuelle Welt des Verfassers integriert. Die Autorität und Normativität der Schrift und der Tradition ist viel komplexer und dynamischer, als eine redaktionskritische Studie zeigen kann.

Im Großen und Ganzen hat L. aber ein Thema gefunden, das der Untersuchung wert ist. Ihre Arbeit hat uns auf viele Entwicklungsmöglichkeiten der Kombination von Synchronie und Diachronie der Evangelien aufmerksam gemacht.