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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

518–520

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jeska, Joachim

Titel/Untertitel:

Die Geschichte Israels in der Sicht des Lukas. Apg 7,2b-53 und 13,17-25 im Kontext antik-jüdischer Summarien der Geschichte Israels.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 336 S. m. 10 Abb. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 195. Lw. 64,00. ISBN 3-525-53879-0.

Rezensent:

Wolfgang Reinbold

Stephanus wird Apg 6,8-7,1 beschuldigt, gegen Tempel und Gesetz zu reden, und vor das Synhedrium gestellt. Er verteidigt sich mit einem Rückblick auf die Geschichte Israels, dessen Interpretation Schwierigkeiten bereitet (7,2-53). Auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe kommt er nur ganz am Rande zu sprechen; z. T. scheint er sie eher zu bekräftigen als zurückzuweisen. Wie ist der Sachverhalt zu erklären? Zwei Basishypothesen stehen zur Disposition: a) Lukas verarbeitet eine oder mehrere Quellen, die mit dem jetzigen Kontext ursprünglich nichts zu tun haben. b) Er hat die Rede von Grund auf selbst komponiert; man muss nur sehr genau hinsehen, um die Pointen der Rede recht zu verstehen. Die Münsteraner Dissertation (2001, bei Dietrich-Alex Koch) von Joachim Jeska votiert energisch für das Letztere. "Alle wesentlichen Elemente der Rede sind vollkommen auf die lukanische Geschichtskonzeption ausgerichtet und ... vom Verfasser des lukanischen Doppelwerkes ganz bewußt ... ausgewählt, bearbeitet und arrangiert worden" (262).

Kap. I (Einleitung, 13-27) geht aus von der Beobachtung, dass es bis dato versäumt wurde, die vergleichbaren antik-jüdischen Summarien der Geschichte Israels (SGI) systematisch in die Analyse einzubeziehen (13; zum Terminus SGI 22-26). Zu vergleichen sind insbesondere die folgenden Texte: Dtn 26,5a,- 10a; Jos 24,2a,-13; 1Sam 12,8-13; Neh 9,6-31; Ps 78,5-72; 105,7-44; 106,7-46; 135,5-12; 136,4-25; Ez 20,5a,-29; Jdt 5,6-19; Weish 10,1-11,1; Sir 44,3-50,21; 1Makk 2,52-60; 3Makk 2,4-12; 6,4-8; 1Hen 85,3-90,38; 93,3b-10 + 91,11- 17; 4Esr 3,4b-33; 14,29-33; LibAnt 23,4b-11; 32,1b-11; syrBar 56,2-74,4; Sib III,248-294; CD II,17b-IV,12a; Jos., Bell. 5,379-412; Ant. 3,86-87 (21; vgl. 300).

Kap. II skizziert die Forschungsgeschichte (28-43) mit dem Ergebnis: Die Untersuchung der einschlägigen SGI ist ein Desiderat (43).

Kap. III analysiert die SGI (44-118). III.1 (44-86) führt in die Texte ein. Typisch für die SGI sind: a) Aktualisierungen (III.2, 86-94): In 12 der 27 Texte finden sich Kurzaktualisierungen (z. B. Dtn 26,9: ton topon tuton; 4Esra 14,30: das Gesetz, quem et vos ... transgressi estis). Sie können viele Formen annehmen, die Palette der Themen ist aber nicht groß: Stets geht es um zentrale Fragen wie Ägypten, Gesetz, Land, Tempel (90). Noch häufiger sind ausführliche Aktualisierungen (17 der 27 Texte, 93, Anm. 202): Der Autor blickt voraus in die narrative Gegenwart (z. B. 1Sam 12,12 f.) oder in die Zukunft (z. B. CD, 1Hen, syrBar). b) Der Wechsel zwischen Solidarisierung und Distanzierung des Sprechers von den Hörern (III.3, 94-98): In ein und derselben Rede kann sich der Sprecher hier mit den Hörern zu einem Wir zusammentun und dort von Euren Vätern (usw.) distanzieren (z. B. 1Sam 12,6-17 LXX: hoi pateres hymon 6.8; hoi pateres hymon). Der Überblick über die Verwendung und Gestalt der SGI (III.4, 98-115) zeigt, dass ihre Gestalt ganz von der jeweiligen Zielsetzung bestimmt ist (Exempla: 1Sam 12; Jdt 5; Bell. 5,102-113). Es gibt keine obligatorischen Themen, der Autor ist frei, seinen Stoff so oder so zu wählen. SGI fungieren als Mittel der Argumentation, sie legitimieren, werten, fordern zu einer bestimmten Entscheidung heraus. Das kann so weit gehen, dass der Autor die biblischen Leittexte in seinem Sinne verändert (Bell. 5,379-381: Raub der Sara durch Pharao in Jerusalem). Kap. III.5 (115-118) fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen: "Geschichte wird ... in einem SGI niemals funktionslos überliefert" (115). Weil das so ist, sind die Themen variabel, und es will nicht gelingen, "traditionsgeschichtliche Linien für die Argumentationsform des SGI insgesamt aufzuzeigen" (116).

Kap. IV (119-153) vergleicht Apg 7 und 13 mit den übrigen SGI. Der Vergleich zeigt vor allem, dass die gängigen Argumente gegen die Kohärenz der Stephanusrede nicht stichhaltig sind (119-142). Aktualisierungen (7,4.7.38.51-53; 13,23-25), Wechsel zwischen Solidarisierung und z. T. scharfer Distanzierung (7,51-53), Zeitsprünge (7,51-53) und Ähnliches mehr - all das findet sich in vielen (kohärenten) SGI.

Kap. V (154-220) legt Apg 7, Kap. VI (221-253) Apg 13,17- 25 auf der Grundlage der gewonnenen Einsichten aus. Sämtliche Elemente der Reden haben eine spezifische Funktion, sei es im engeren Kontext (189-193; 231-245), sei es im lukanischen Werk insgesamt (194-213; 246-249). Die "leitende Perspektive der Geschichtsdarstellung" in Apg 7 ist "die Universalisierung der Abraham-Nachkommenschaft" (214) bzw. "die Universalisierung der Christus-Botschaft" (218). "Das Thema des SGI ist ... die Überwindung der Bindung an das verheißene Land [Abraham, vor allem 7,2.5] bzw. Jerusalem [7,51-53] und der Übergang der Botschaft auf fremdes Territorium [Joseph, 7,9-13] und damit zu den Heiden [Mose, 7,20-44, der Typos für Paulus ist]" (218). Apg 13,17-25 ist ganz auf 13,46 ausgerichtet: Das SGI betont die Kontinuität mit Israel und legitimiert damit "die Erstadressatenschaft der Juden" (244), wie sie für die Mission des Paulus in der Apg typisch ist.

Kap. VII (254-271) fasst die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit zusammen.

In einem Anhang (272-299) erörtert J. die Frage nach dem Verhältnis zwischen den lukanischen SGI und 1Hen 89, das ihnen von allen SGI am nächsten steht.

J. hat sich ein Thema vorgenommen, das ein Desiderat der Forschung war. Nach einer gründlichen Durchsicht der Quellen sind die wichtigsten Parallelen zu den lukanischen Summarien der Geschichte Israels nun leicht zugänglich. Die Untersuchung stellt die Exegese von Apg 7 und 13,14-52 auf eine neue, bessere Grundlage. Insbesondere da, wo sie zeigt, welche Argumente nicht stichhaltig sind, wird man an ihr in Zukunft nicht vorbei können.

J.s eigene Interpretation enthält eine Fülle wichtiger Beobachtungen. Sie ist in vielem originell. Schon deshalb lohnt die Lektüre. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie das Rätsel von Apg 7 tatsächlich löst. Energisch kritisiert J. diejenigen seiner Vorgänger, die von einer eigentümlichen Beziehungslosigkeit der Rede gesprochen haben, und sucht für alle Details Bezüge zu zentralen Themen des lukanischen Doppelwerkes herzustellen. Das Konzept der Abraham-Nachkommenschaft und mit ihm der Universalisierung des Gottesvolkes und seiner Lösung vom Land Israel steht s. E. im Zentrum. Ich vermag das nicht recht zu sehen. Die Kinder Abrahams sind für Lk doch stets die Kinder Israels (Apg 7,2; 13,26; Lk 3,8; 13,16; 16,22 ff.; 19,9 u. ö.); vom ganz andersartigen paulinischen Konzept (Gal 3,7) findet sich weder in Apg 7 noch sonst im Doppelwerk eine Spur. Das Thema der Universalisierung spielt in der Apostelgeschichte gewiss eine fundamentale Rolle, und Paulus lässt das Land der Verheißung am Ende weit hinter sich - aber anders als Paulus verkündet Mose nach der Ablehnung durch seine Brüder (7,23-29) eben nicht den Heiden die Botschaft (vgl. 215).

Was die Quellenfrage anbetrifft, so insistiert J. mit Recht auf der Kohärenz der Rede. Das heißt für ihn zugleich: Lk ist der alleinige Autor, er hat keine Quelle. Aber ist dieser Schluss tatsächlich zwingend? Auch das Lukasevangelium ist kohärent - und trotzdem hat es Quellen (und man versteht es besser, wenn man sie kennt). So könnte es auch hier sein. Die Quellenfrage scheint mir trotz J.s eindringlichem Plädoyer nicht endgültig entschieden zu sein.

Gut getan hätte der Arbeit eine durchgreifende Endredaktion. So wie sie jetzt ist, sagt sie manches zweimal, dreimal, viermal. Kap. III.1 (auch II.) wirkt hier und da wie der Zettelkasten des Autors; die Nennung von BHS und LXX als Quellen der biblischen Texte hat m. E. in einer Dissertation nichts zu suchen. Hier und andernorts wurde Platz verschenkt, den man besser hätte nutzen können - etwa für die Frage, welche Folgen die These hat, Lk sei ein subtiler Kenner der biblischen Überlieferung: Ist also auch er ein schriftgelehrter Jude?

Alles in allem liegt eine Arbeit vor, von der die Auslegung der Apostelgeschichte reichlich profitieren wird.