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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

514–516

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wells, Jo Bailey

Titel/Untertitel:

God's Holy People. A Theme in Biblical Theology.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 2000. 297 S. gr.8 = Journal for the Study of the Old Testament. Supplement Series, 305. Lw. £ 50.00. ISBN 1-84127-096-2.

Rezensent:

Wolfgang Kraus

Die Arbeit stellt eine an der Universität Durham (UK) eingereichte Dissertation dar. Sie möchte eine Modellstudie sein in doppelter Hinsicht: "A Biblical Theology of Holiness" (26) und "Canonical Interpretation in Practice" (27). Zwei Fragen sollen in diesem Buch beantwortet werden: 1. Was meint Heiligkeit in verschiedenen Teilen der Schrift? 2. Was wird aus den unterschiedlichen Aspekten deutlich für eine christliche Lesart der Schrift und umgekehrt? (13) Dabei geht Jo Bailey Wells nicht nur vom Vorkommen des Terminus Heiligkeit aus, sondern fragt nach einem Konzept von Heiligkeit auch dort, wo die Terminologie keinen Anhaltspunkt zu bieten scheint. Warum jedoch der Titel God's Holy People lautet und nicht z. B. Holiness in the Bible - A Canonical Approach, habe ich nicht verstanden.

Nach einer Einleitung, in der die Fragestellung umrissen wird, geht es im 1. Kapitel um Ex 19,5-6 im Kontext des Exodusbuches und das darin zum Ausdruck kommende Verständnis von Heiligkeit des Volkes als "a priestly kingdom and a holy nation". Das zweite Kapitel untersucht verschiedene Pentateuch-Texte, in denen sich die Vorstellung "You shall be holy as I am holy" niederschlägt. Ex 19,6 gilt dabei als Basistext, dessen Spuren sich durch den gesamten Pentateuch wahrnehmen lassen. Das dritte Kapitel widmet sich dem Thema Priestertum und seiner Heiligkeit gemäß der Torah. In Kapitel 4 geht es um das Verständnis von Heiligkeit im Jesajabuch, wobei hier Gott selbst als der Heilige Israels" und seine Heiligkeit im Zentrum steht. Kapitel 5 ist dem Buch Ezechiel gewidmet und seinem Verständnis von Gott und der Heiligung seines Namens. In Kapitel 6 geht es um den Segen, der von Abraham ausgehend zu allen Völkern kommen soll. In Kapitel 7 steht dann der 1Petr im Zentrum des Interesses, wobei die Aussagen dieses Briefes in den Kontext des übrigen Neuen Testamentes gestellt werden, u.a. auch in den Kontext des Verständnisses von Heiligkeit, wie es bei Jesus selbst zum Ausdruck kommt. Ein Schlusskapitel, das versucht die Linien zusammenzuziehen, schließt die Untersuchung ab. Es folgen Literaturverzeichnis, Bibelstellen- und Autorenregister.

Das Buch hat bei mir einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen (dies ist auch der Grund, warum die Rezension erst jetzt erscheint). Einerseits ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass sich W. eines in beiden Teilen der christlichen Bibel wichtigen Themas angenommen und versucht hat, es übergreifend, d. h. gesamtbiblisch zu bearbeiten. W. ist dabei explizit dem "canonical approach" von B. S. Childs verbunden. Diachrone Fragestellungen treten dementsprechend notwendigerweise zurück. Es ist jedoch die Frage, ob der jetzt angewendete methodische Zugang, Heiligkeit in der Bibel zu verstehen, wirklich zielführend ist. Ich nenne drei Fragenkomplexe:

1. W. schreibt zu Beginn von Kap. 2, also nach der Darstellung von Ex 19,6 f.: "The next four chapters of this book explore the development of the substance of Ex 19,6 in the succeeding portions of the Old Testament. On the basis of the analysis of this verse Chapter 1, the exploration pursues the significance of two key categories in particular. These are priestliness and holiness, the categories through which Israel is given to understand its special identity as an elect people, the people of Yhwh" (58). Es folgen dann Kapitel über Pentateuch-Texte, Jesaja, Ezechiel, den Segen Abrahams (Gen 12,1-4) und schließlich 1Petr. Mehrere Fragen sind an das zitierte Statement zu richten: Was heißt "development" in diesem Kontext? Ist die biblische Reihenfolge der Bücher zugleich ein Hinweis auf eine "Entwicklung"? Müsste hier nicht doch literarhistorisch differenziert werden, um die Entwicklung einer Vorstellung/eines Theologumenons nachzeichnen zu können? Was hat der Segen Abrahams mit der Vorstellung God's holy people zu tun? Zumindest von der Semantik her findet sich in der Abrahamverheißung nichts dergleichen. Dass es sich bei der Abrahamverheißung um einen für das biblische Verständnis von Volk Gottes zentralen Text handelt, soll nicht bestritten werden. Aber handelt es sich um einen für das Verständnis von der Heiligkeit des Gottesvolkes wirklich zentralen Text? Zudem: Es gibt im Alten Testament gemäß dem Artikel von Kornfeld und Ringgren im ThWAT VI einen durchaus variierenden Sprachgebrauch von QDS plus Derivaten. Diese Differenzierung, die sich schon von den unterschiedlichen Stammformen des Verbums her belegen lässt, wird m. E. in der Darstellung von God's Holy People von W. nicht durchgehalten.

2. Nach W. bedeutet "canonical approach" eine neue Aufgabe der Schriftinterpretation. "This is more than simply another methodology; it is a whole perspective which seeks a non-reductive theological understanding of Scripture. The canonical approach focuses on the Bible as canon of the Church, that is, as a complete and normative collection of writings which are given authority by those who situate themselves within the story. This authority belongs primarily to the final form of the text, the text which the Church has received as word of God down the centuries, and continues to receive today" (19). Abgesehen von dieser m. E. zu formalen Bestimmung von Autorität und auch abgesehen von der Frage, ob bisherige Schriftinterpretation stets als reductive zu bezeichnen ist, stellt sich das Problem des Kanons selbst. Nach W. stellt die kanonische Endgestalt der Hebräischen Bibel selbst eine theologische Entscheidung dar. Die neutestamentlichen Autoren fußen aber weitestgehend auf der Septuaginta. Die Hebrew Bible ist gerade nicht eo ipso die "Schrift". Der urchristliche Kanon ist nicht identisch mit dem TeNaK. Welche hermeneutische und theologische Bedeutung hat diese Tatsache für das Verständnis von Schrift und Schriftautorität? Das Problem wird von W. zwar andeutungsweise gesehen, aber nicht weiter reflektiert.

Um ein Beispiel zu geben: W. nennt unterschiedliche historische Ableitungsversuche für das alttestamentliche Priestertum (100 f.). Ihrer Feststellung nach haben diese unterschiedlichen Konzepte jedoch beim "canonical approach" nur wenig Relevanz, denn bereits "the canonical presentation suggests the conclusion that the actual history of priesthood bears little relation to its theological understanding" (101). Man fragt sich unwillkürlich: Wer ist es, und zu welcher Zeit, der hier theologisch verstehen will/soll? Wenn der abgeschlossene alttestamentliche Kanon das Kriterium für das Verständnis abgeben soll, dann sind es die Leser des 2. Jh.s n. Chr. und deren theologisches Verständnis. Der canonical approach, so wie er hier durchgeführt wird, überspringt die Tatsache, dass sich hinter verschiedenen Konzepten in der Regel verschiedene sozialgeschichtlich zu verortende Gruppierungen bzw. Tendenzen verbergen.

3. Große Schwierigkeiten habe ich mit dem Kapitel über 1Petr. Wenn es sich um eine Arbeit handeln soll, die Biblischer Theologie verpflichtet ist, müsste m. E. auch zumindest problematisiert werden, dass der 1Petr eine im Alten Testament strikt für Israel gültige Zusage ganz und gar auf die Christen in der Diaspora überträgt. Norbert Brox hat beim 1Petr eine "Israelvergessenheit" diagnostiziert. Ich halte das für eine äußerst wichtige Einsicht. Im Blick auf den "doppelten Ausgang" der Schrift in Christentum und Judentum macht sie uns deutlich, wie schnell in der frühen Christenheit die Wurzeln zurückgedrängt wurden. Auch wenn jemand nicht so weit wie Brox gehen möchte (warum nicht?), muss doch die Frage gestellt werden, was es hermeneutisch und theologisch bedeutet, dass ein genuin israelbezogener Text des Alten Testaments im Neuen Testament ohne Abstriche auf andere Menschen übertragen wird - auch und gerade, wenn diese Menschen durch Jesus, den Christus, in eine Beziehung zum Gott Israels gekommen sind.

Kurzum: W. hat ein wichtiges Thema gesamtbiblischer Theologie aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass es solche Themen gibt, die gesamtbiblisch bearbeitet werden müssen. Was die methodische Durchführung angeht, so bleiben Fragen offen für weitere Forschungsarbeit.