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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

565–568

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Rössler, Dietrich]:

Titel/Untertitel:

Der ,ganze Mensch’. Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität. Festschrift für D. Rössler zum 70. Geburtstag, hrsg. von V. Drehsen u. D. Henke, R. Schmidt-Rost, W. Steck.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1997. XI, 477 S., 1 Porträt gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 10. Lw. DM 268,-. ISBN 3-11-015494-3.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Wenn ein Fachvertreter, der die Diskussion seiner Disziplin maßgeblich beeinflußt hat und weiter beeinflussen wird, mit einer Festschrift geehrt werden soll, stellt sich die Frage, ob es gelungen ist, dessen Werk nicht nur aufzunehmen, sondern daraus selbst einen Impuls für die gegenwärtige Situationsklärung in seinem Fach zu geben. Für die vorliegende Festschrift und die Praktische Theologie kann diese Frage im großen und ganzen positiv beantwortet werden. Neben manchem unter die Rubrik "Vermischtes" Einzuordnenden sind die beiden im Titel genannten Themen die Mitte des Buches: 1. Die Diskussion um den Begriff der "Ganzheit" des Menschen (im Rekurs auf Rösslers frühes Seelsorgebuch1) und 2. Die Aufnahme des Schlüsselbegriffes der "Lebensgeschichte", welche sich als Konsequenz aus der Unterscheidung eines individuellen Christentums von den Gestaltungsformen des kirchlichen und gesellschaftlichen Christentums ergibt.2 Die Besprechung kann nur diesen beiden konzeptionellen Grundlinien der vorliegenden Festschrift nachgehen und nicht alle (der insgesamt 25) Einzelbeiträge würdigen.

Die beiden genannten Punkte konzentrieren sich zusammengenommen auf die menschliche Individualität als Gegenstand Praktischer Theologie. Da sie auf die Wahrnehmung aktueller Formen individueller Religiosität wie auf die theologische Urteilsbildung im Hinblick auf diese Phänomene ausgerichtet sind, ergibt sich mit der Festschrift ein Beitrag zur theologischen Urteilsbildung, den man durchaus auch als Studien zu einer praktisch-theologischen Anthropologie bezeichnen könnte. Da eine solche Fragestellung nicht ohne dogmatische Grundlegung auskommt, ist neben der Praktischen Theologie auch die Systematische Theologie mit wichtigen Beiträgen zur "Ganzheit" vertreten. Der Jubilar, von dem die Fama geht, er habe seinerzeit als Pastor in seiner Gemeinde Reiffenhausen bei Göttingen "Seelsorgebesuche nie ohne Rezeptblock in der Tasche unternommen" (so Volker Drehsen im Vorwort, VIII), fordert nicht nur zu Bereichsüberschneidungen heraus, sondern auch zu begrifflicher Klärung der inzwischen zum Modewort gewordenen "Ganzheit". Diesem Stichwort folge ich zunächst.

1. Ganzheit(lichkeit): Zutreffend bemerkt Karl Ernst Nipkow in seinem Beitrag ",Ganzheitliche Bildung’ zwischen Ich und den anderen" (407-430): "In der gegenwärtigen Pädagogik ist die Rede von ,ganzheitlicher Bildung’ beliebt und selbstverständlich, ohne daß man sich immer bemüht zu sagen, was man genau damit meint" (410). Bewußt provozierend entwirft Nipkow eine zweigeteilte Skizze, in der das antike und neuzeitliche Konzept von Selbstbildung und die jüdisch-christliche Linie einer Bildung am Anderen (423 ff., im Rekurs u. a. auf E. Lévinas) kontrastiert werden. So ist das "Ganze", auf das die Pädagogik zu achten hat, "in allem die mit anderen geteilte, die zerrissene und zugleich gemeinsame Welt" (430).

Es lohnt sich, an dieser Stelle die systematischen Beiträge zu vergleichen: "Ganzheitsbegriffe - in theologischer Perspektive" (353-367, Eberhard Jüngel) und "Ganzheit als Geschick" (369-405, Eilert Herms). Jüngel arbeitet heraus, daß sich Ganzheit nicht aus den Teilen aufbaut, aber auch nicht ontologisch ursprünglicher ist als der Teil, sondern "Ganzheit baut sich vielmehr - zumindest in bestimmten Fällen - von einem Anderen her auf" (355 f., dort kursiv). In der abschließenden Thesenreihe heißt es im Anschluß an Luther, daß "die Ganzheit des ganzen Menschen nur in praedicamento relationis, nicht aber in praedicamento substantiae ausgesagt werden" kann (365, dort kursiv). Dazu paßt die These von Herms, daß der Mensch in seinem Zum-Glauben-Kommen dessen inne wird, "daß ihm die Öffnung des Blicks für das Ganze der Wirklichkeit als Geschick widerfährt" (378, vgl. dazu auch den Beitrag über den "ganzen Menschen" bei Georg Christoph Lichtenberg, 19-36, Albrecht Beutel). Derlei relationale Klärungen dürften in der Tat helfen, den von Nipkow zu Recht inkriminierten modischen Gebrauch des Ganzheitsbegriffs praktisch-theologisch zu konturieren.

Wissenschaftstheoretisch interessant ist der Beitrag von Christian Albrecht, welcher Schleiermacher und Freud miteinander vergleicht ("Paradigmatische Rekonstruktion des ganzen Menschen", 131-173). Die Übereinstimmung zwischen beiden liege in der Subjektivierung der Theorie bei gleichzeitiger Objektivierung der Biographie, wodurch nicht nur die herkömmliche Auffassung des Praxisfeldes revidiert, sondern auch neue "kulturtheoretische Anthropologien" entstanden seien (172). Damit werde über den konkreten wissenschaftlichen Zusammenhang hinaus grundsätzlich eine integrierende Sicht des "lebensgeschichtlich Fragmentarischen" aufgezeigt (ebd.).

2. Lebensgeschichte: Das zweite Thema, dasjenige der Lebensgeschichte, wird in der Festschrift durchaus verschieden akzentuiert. Während Werner Jetter ("Die Theologie und die Lebensgeschichte", 191-217) anmerkt: "Seine Lebensgeschichte liegt keinem zur Auswahl bereit; jeder ist schon in sie verstrickt ..." (204), betont Friedrich Schweitzer ("Lebensgeschichte - Bildung - Religion", 431-447), daß die Lebensgeschichte "Produkt einer aktiven Konstruktion und Rekonstruktion" sei (441).

Der Bereich, in dem bei Dietrich Rössler der Begriff der "Lebensgeschichte" vor allem verortet ist, ist die Theorie der Kasualien.3 In diesem Zusammenhang mahnt Wilhelm Gräb an, die Kasualpraxis als "lebensgeschichtliche Sinnarbeit" aufzufassen (219-240). Die "Öffentlichkeit der kirchlichen Religionskultur" (222) drohe sonst verspielt zu werden, da sich die Kirche bisher viel zu sehr an "binnentheologischen und binnenkirchlichen Selbstbehauptungsinteressen orientiert" habe (230). Bei Gräbs Beispielen alltagsreligiöser Gegenwartskultur (Rosamunde Pilchers Roman "Die Muschelsucher", außerkirchliche Bestattungsriten, Urlaubskataloge) ist die Wahrnehmungshilfe zweifellos wichtig. Gleichwohl wird auch gefragt werden müssen, ob denn jetzt umgekehrt die "biblischen und dogmatischen Wahrheiten" (231) zunächst depotenziert werden sollen, um sodann noch ihre Hilfe für "die betroffenen rituellen Subjekte" (ebd.) entfalten zu können - gewissermaßen "gereinigt" durch das Ensemble kommerzieller Religionsfeuerwerke? Das Problem der Zuordnung von Deskriptivität und Normativität kann jedenfalls nicht mit einem anti-"dogmatischen" Geniestreich erledigt werden, welcher zugleich das eigene Dogma im Hintergrund hält.

Hier sind die von Trutz Rendtorff erneut in Anschlag gebrachten "Perspektiven zum Verhältnis von Theologie und Frömmigkeit" (325-338) zu bedenken samt dem Fazit, daß nur "in Beziehung auf die Institutionen, in denen ein Wissen um das Ganze des Lebens tradiert wird", die Freiheit zu persönlichem Glauben frei sein kann (338). Erfrischend ist dahinter der Beitrag von Hermann Lübbe: "Selbstbestimmung und über Fälligkeiten der Moralisierung und der Entmoralisierung moderner Lebensverbringung" (339-351). Hier wird nicht nur die konventionelle "deutsche Anti-Sekundärtugendpredigt" (341 f.), sondern auch der wohlfeile wissenschaftskritische Betroffenheitsmoralismus juristisch, technisch und ökonomisch gegengelesen.

In seinem Beitrag über "Die Taufe als Lebensdeutung und ihr Bezug zum Abendmahl" (241-247) legt Friedrich Wintzer Wert auf die Feststellung, daß die Taufe an verschiedenen Punkten im Lebenslauf stattfinden kann und daß "Monopolansprüche für ein bestimmtes Taufalter" obsolet sind (242). Zur Kasualtheorie gehört auch die Studie zur Grabrede (Wolfgang Steck, 263-303), die in Überlänge den Gedanken entfaltet, daß die Beerdigungspredigt im Überschneidungsbereich von Gespräch, Literatur und Rhetorik entsteht und von Prediger und Angehörigen gemeinsam konstruiert wird.

Ein Kabinettstück ist die kleine Studie "Buße. Zur theologischen Rekonstruktion einer religiösen Lebensform" von Dietrich Korsch (249-262), die völlig ohne Fußnoten auskommt und "Buße" von ihrer anthropologisch-religiösen Verfaßtheit her im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext neu rekonstruiert. So verstanden geht es nicht mehr um eine empirisch aufzuzeigende Lebensveränderung, sondern um eine "auch gesellschaftlich erforderliche ... Selbstunterscheidungskompetenz" (259), welche die Selbstunterscheidung von Gott ebenso impliziert wie das Bewußtsein der Präsenz Gottes auch in anderen Lebensformen als der eigenen sowie die Markierung von Distanz und Verständigung. In dieser Form ist Buße "auch gesellschaftlich akzeptabel" (261), wobei die Dogmatik dies jedoch nicht einfach doppeln darf, sondern "die notwendige Genauigkeit des Bewußtseins von Gottes Gegenwart" im Blick zu behalten und von einer bloßen Funktionalität der Religion zu unterscheiden hat (262).

Lebensgeschichtlich orientiert sind auch die beiden Beiträge zu Luther von Hans-Martin Müller ("Der alte Luther", 87-109) und Reiner Preul ("Der Tod des ganzen Menschen: Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben", 111-130). Während Müller die Grobheit des alten Luther mit dem Ernst der Verfolgung durch den Teufel und der Angst um das Heil erklärt, schreibt er der heutigen Predigt ins Stammbuch: "Luthers Befürchtung, man werde ... das Evangelium zur Morallehre verkommen lassen, hat in der Christusverkündigung der Gegenwart weithin ihre Bestätigung gefunden" (105). Kritisch zu hören ist auch Preuls Fazit zu Luthers frühem Sterbesermon, daß darin "weder von Rekapitulation noch von Rekonstruktion noch von Rechtfertigung der Lebensgeschichte die Rede sein" könne (127; dazu lese man ebd. die spitze Fußnote 69, daß der Teufel der Meister der biographischen Retrospektive und vielleicht auch mißlungener Festschriften sei).

Eher locker mit den beiden Festschriftenthemen verknüpfte Beiträge sind die Aufsätze zur Literatur (insofern diese in der Regel Lebensgeschichten beschreibt): Hier geht es um John Updike (57-76, Martin Weeber), Ruth Reemann (77-85, Anton Ph. Knittel) und Theodor Fontane (37-55, Volker Drehsen). Drehsen beschreibt die Pfarrergestalten Fontanes als Reflex auf die zerbrochene Idylle aufgrund sozialer Umbrüche, wodurch die Pfarrer von universaler Kommunikation immer mehr auf die Abhängigkeit von Partikularinteressen (der Patrone) eingeschränkt wurden. Fontane sah die Lösung in der Entbindung der Individualität jenseits vergesellschafteter Religion (51). Damit läßt sich wiederum der Bogen zu der dreifachen Unterscheidung des neuzeitlichen Christentums durch Dietrich Rössler schlagen. Zu erwähnen ist schließlich der Aufsatz über "Spuren christlicher Existenz in der Medienwelt" von Reinhard Schmidt-Rost (175-188), der die christliche Medienarbeit als Form "genereller Seelsorge" versteht (183 ff.).

Lediglich die Titel können noch genannt werden von den vier exegetischen und zwei medizinischen Beiträgen: Herbert Donner, Die religiöse Wüstenromantik. Über eine fehlgeleitete Metapher (1-12); Wolfgang Röllig, Altorientalische Schiffsmetaphorik (13-18); Ulrich Wilckens, Offenbarung und Lebensgeschichte. Eine theologische Nacherzählung von Johannes 4 (305-313); Norbert Greinacher, Sinn oder Nichtsinn - Das ist die Frage. Die Stimme klagenden Rechtens mit Gott in jüdisch-christlicher Kontinuität (315-321); Urban Wiesing, Anmerkungen zu einer ärztlichen Ethik (449-460); Dieter Henke, Religio medici (461-477).

Dem sorgfältig lektorierten und gestalteten Band fehlen leider ein Anhang über die schreibenden Autoren, ein Register sowie eine aktuelle Bibliographie des Jubilars, welche für die Weiterarbeit an einer praktisch-theologischen Anthropologie in Anknüpfung an dessen Werk hätte hilfreich sein können.

Fussnoten:

1 Dietrich Rössler, Der "ganze" Mensch. Das Menschenbild der neueren Seelsorgelehre und des modernen medizinischen Denkens im Zusammenhang der allgemeinen Anthropologie, Göttingen 1962.

2 Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 21994 [1986], dazu die ausführliche Besprechung von Joachim Scharfenberg, ThLZ 112, 1987, 241-252 unter dem Titel "Bestandsaufnahme des neuzeitlichen Christentums".

3 D. Rössler, Grundriß 21994, 241-263 (15 "Amtshandlungen und Lebensgeschichte").