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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

505–508

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Klein, Renate Andrea

Titel/Untertitel:

Leseprozeß als Bedeutungswandel. Eine rezeptionsästhetisch orientierte Erzähltextanalyse der Jakobserzählungen im Buch Genesis.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 305 S. gr.8 = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 11. Geb. Euro 48,00. ISBN 3-374-01991-9.

Rezensent:

Harald Wahl

"Es geht in der vorliegenden Arbeit um die Texte der Jakobserzählungen in Gen 25,19-37,1. Abgesehen davon, ob und inwieweit sich diese Texte dazu eignen, historische Fakten mitzuteilen, steht fest, daß es Erzähltexte und als solche literarische Texte sind. Es legt sich daher nahe, sie auch als solche zu lesen und zu interpretieren.

Es sind nach der modernen Literaturtheorie hauptsächlich zwei fundamentale Eigenschaften, die einen literarischen Text auszeichnen: die Fiktionalität und die besondere kommunikative Funktion. Es soll nun gezeigt werden, daß beides für die Jakobserzählungen zutrifft und für ihre exegetische Erschließung wesentlich ist" (91).

Auf diese programmatische Skizze der Studie stoßen wir an ungewohnter Stelle im Diskurs, nachdem die Jakobserzählungen als interpretierende Relektüre des Midrasch Bereschit Rabba (16-35) und in Thomas Manns Romantetralogie (36-62) vorgestellt worden sind. Die zunächst etwas eigenwillig anmutende Anlage der Arbeit entspricht jedoch ihrer rezeptionsästhetischen Intention. "Durch die exemplarische Darstellung der antiken jüdischen Überlieferung im Midrasch Bereschit Rabba sowie des neuzeitlichen Romans Die Geschichten Jaakobs von Thomas Mann soll deutlich gemacht werden, daß und wie die Konstituierung des Sinngehalts eines Textes auch von der jeweiligen Situation des Lesers abhängt" (13).

Im Vergleich mit der biblischen Vorlage ist die Intention der Rabbinen eindeutig. "Selbst aus den Midraschim, die Jakobs Fehlverhalten thematisieren, ist die Tendenz der Rabbinen herauszuspüren, unseren Vater Jakob als Vorbild darzustellen" (34). Neben der Auswahl des Stoffes selbst ist die Art und Weise, wie auch Thomas Mann mit dem Stoff umgeht, der rabbinischen Auslegung eng verwandt. Drei wesentliche Kompositionsmerkmale lassen sich nach K. ausmachen: Wie in der rabbinischen Auslegung geschieht die Interpretation auch bei Mann als Dialog, mehrere Lehrmeinungen stehen vermittelt nebeneinander, mehrere Personen kommen zu Wort. Das zweite Moment ist die Intertextualität. Es bedeutet die Gleichzeitigkeit und vor allem die Gleichwertigkeit biblischer Texte, die zur Interpretation herangezogen werden. Bei Mann schließt sie "seine gesamte Bibel ein, also auch das Neue Testament" (65). Schließlich bedienen sich die Rabbinen wie Mann des eingefügten Gleichnisses, das zur prosaischen Auslegung des Textes herangezogen wird. Alle drei Momente verdeutlichen die unterschiedlichen und doch formal verwandten Formen der interpretierenden Rezeption, die genauso auf die fortschreibende Relektüre der Jakobserzählungen übertragbar ist.

Nach diesem Anlauf widmet sich die Studie im eigentlichen Hauptteil den Jakobserzählungen der Genesis (68-205). Die Textanalyse bedient sich neben der geläufigen alttestamentlichen Methodik für die synchrone Lektüre eines literaturwissenschaftlichen Modells der Erzähltextanalyse nach Cordula Kahrmann, Gunter Reiß und Manfred Schluchter (vgl. dies., Erzähltextanalyse. Eine Einführung mit Studien- und Übungstexten, Weinheim 41996): Exemplarisch untersucht die Vfn. an Gen 27 und 32 sowie an der Gesamtkomposition (25,19-37,1) verschiedene Redesituationen der Protagonisten (103-114.135-149), Leitbegriffe und Leitmotive (120-124.158-163.177-184), Strukturmerkmale (119-120.156-158.171- 177) sowie Wiederholungen (126-129.193-195) und Umkehrerzählungen (195-201) als allgemeine Textstrategien.

Dabei unterscheidet die Vfn. neben den dargestellten Figuren die drei Ebenen des fiktiven Erzählers/fiktiven Adressaten, des abstrakten Autors/abstrakten Adressaten und des realen Autors/ realen Lesers (Graphik, 100). Der fiktive Erzähler ist ein "Er-Erzähler, da er über die Figuren in der dritten Person spricht. Sein Erzählverhalten kann zum großen Teil als neutral bezeichnet werden, das heißt, er berichtet von den Handlungen der Figuren und läßt sie zu Wort kommen. Auktorial verhält sich der Erzähler dort, wo er sich über Reden oder Handlungen von Figuren wertend äußert" (17).

Der abstrakte Autor erkennt das übergreifende Konzept der Gesamterzählung und ihre intendierte Mitteilungsabsicht als kohärenten Text, das ist sein Autorenbewusstsein (119.202-204). Ihm entspricht der abstrakte Adressat als implizierte Projektion einer intendierten Rezeption. "Der abstrakte Adressat entdeckt bei fortschreitender Lektüre neue Aspekte der Erzählung, die er mit bereits bekannten in Beziehung setzt und zu einem immer komplexeren Gesamtbild zusammenstellt" (204).

Auf der Suche nach einem realen Autor kommt die Vfn. zu folgendem Ergebnis: Es "läßt sich festhalten, daß das Erzählkonzept des Gesamtkomplexes der Jakobserzählungen keine geschlossene Einheit darstellt. Das bedeutet, daß die Jakobserzählungen das Werk mehrerer abstrakter, also auch mehrerer realer Autoren ist. Relativ eindeutig ist dies für die besprochenen Texte Gen 26; 27,46-28,9; 30,21; 33,(17.)18-34,31; 35,2-5.8. 21.22a; 36. Die restlichen Erzählungen stehen unter dem großen Spannungsbogen: Betrug - Flucht - Versöhnung - Rückkehr und haben ausschließlich Jakobs und Esaus Geschichte im Blick" (217). Zweifellos haben frühestens seit der "Davidszeit" (279) mehrere, historisch allerdings nicht greifbare reale Autoren "zur Entstehung und damit gleichzeitig zur Deutung und zum Verständnis der Jakobserzählungen" (255) beigetragen.

Auf der Ebene der Endgestalt der Jakobserzählung lässt sich schließlich ein Erzählkonzept der Gesamterzählung erkennen: Innerhalb der Sinnkonstituierung des Textes lassen sich ein menschlicher und ein göttlicher Parallelfaden unterscheiden. Auf der einen Seite stehen die Protagonisten Jakob, Esau, Rebekka, Rahel und Isaak mit ihrer je eigenen Handlungsintention; auf der anderen Seite steht der segnende, heilende und in Theophanien erscheinende Gott. Beide Fäden gehören untrennbar zusammen und bewirken, "daß Jakob trotz seiner Schwächen zu Israel wird" (256). Bei der Rezeption des innerbiblischen Lesers kommt die Vfn. in Analogie zum Midrasch Bereschit Rabba und Manns Geschichten Jaakobs zu dem Ergebnis, dass die vorliegenden Texte einem interpretativen Bedeutungswandel unterliegen, der sich als Interpretament aus den jeweiligen Gegebenheiten ergibt (274-275).

Die überaus stimulierende Studie der Vfn. vereint mehrere Verdienste auf sich. Der Blick auf die Gesamterzählung und ihre Autoren/realen Leser führt näher an die Aussageabsicht der Endredaktion heran und legt die innere Dynamik der Komposition frei. Diese Perspektive schützt den Ausleger davor, den Text gegen den Willen der Autoren/Redaktoren letzter Hand voreilig in literarische Strata und Segmente hypothetisch zu sezieren. Sie erinnert ihn auch daran, dass diese Lesart die Voraussetzung der Exegese bis zur Morgenröte der historischen Bibelkritik bildete.

Forschungsgeschichtlich gehört die anregende Monographie - wie unlängst die Dissertation von Johannes Taschner (Verheißung und Erfüllung in der Jakobserzählung [Gen 25,19-33,17]. Eine Analyse ihres Spannungsbogens, HBS 27, 2000, rez. in: ThLZ 127 [2002], 167-170) - zu den sich in der Tradition von B. Jacob, M. Fishbane, A. Berlin, J. Licht oder J. P. Fokkelman auch in der deutschsprachigen Exegese mehrenden Stimmen, die ihren Blick vornehmlich auf die Endgestalt des hebräischen Textes richten, um die kohärent gedachte "Gesamterzählung" (204) aus der Sicht des Endredaktors und der Adressaten/Rezipienten zu lesen (72-90.202-205). Dennoch fragt sich der Leser, ob der exegetische Befund mehrerer fiktiver, abstrakter und vor allem realer Autoren, ob diese unübersehbaren Spuren einer langen literarischen Genese der Komposition nicht als unverzichtbare Methode die Redaktionsgeschichte auf den Plan rufen?

Das hermeneutische Modell des interpretierenden Lesevorganges entwickelt die Vfn. paradigmatisch an einem Midrasch aus dem 4./5. nachchristlichen Jh. und einem Roman aus den 30er Jahren des vergangenen Jh.s. Die zumindest zeitlich viel näher liegenden Fortschreibungen, Rezeptionen und Interpretationen, wie sie bereits mit dem Text der LXX keimen und noch im Prozess der Kanonisierung umfassend in den Jubiläen (c.19- 39) und in Josephus' Antiquitates zur frühen theologischen Blüte gelangen, werden völlig übergangen. Gerne hätte der Leser auch das interdisziplinäre Gespräch der Germanisten mit Thomas Mann und der Literaturtheoretiker und Rezeptionsästheten über den hermeneutischen Ansatz vertieft gesehen.

Zweifellos treibt die gut lesbare, in ihrer Argumentation stringente Arbeit den so nötigen interdisziplinären Dialog voran und verleiht der literaturwissenschaftlichen Rezeption der hebräischen Bibel nachhaltige Impulse. Die von Ina Willi-Plein und Stefan Timm (Zweitgutachten) betreute Hamburger Dissertation ist mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis und einem brauchbaren Stellenregister ausgerüstet.