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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

499–502

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Zuurmond, Rochus

Titel/Untertitel:

Novum Testamentum Aethiopice. Part III: The Gospel of Matthew.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2001. VIII, 488 S. gr.8 = Aethiopische Forschungen, 55. Lw. Euro 66,00. ISBN 3-447-04306-7.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Für die Arbeit an der altäthiopischen Version des Neuen Testaments ist man auch heute noch überwiegend auf unkritische Texte angewiesen. Gewöhnlich greift man auf die 1826 von Platt besorgte Ausgabe der British and Foreign Bible Society (BFBS) zurück (bearbeitet von Praetorius, Leipzig 1899). Erst in neuerer Zeit ändert sich einiges an dieser Lage: 1967 wurde die Apc Joh (äth) von Hofmann ediert (CSCO 281.282), 1993 wurden von Hofmann/Uhlig die katholischen Briefe und von Uhlig/Maehlum die paulinischen Gefangenschaftsbriefe herausgebracht (Äth For 29.33). Das vorliegende Werk ist der dritte Band einer vierbändig angelegten Ausgabe der synoptischen Evangelien; Band I (Einleitung) und II (Markus) waren bereits 1989 erschienen (in einem Band: Äth For 27). Für die zusammenhängende Bearbeitung der Synoptiker macht Z. transmissionsgeschichtliche Gründe geltend: Die Geschichte ihrer Überlieferung sei im Wesentlichen dieselbe, während etwa schon die Textgeschichte des äthiopischen Johannesevangeliums in anderen Bahnen verlaufe (so I, XIV). Aus diesem Grund ist die in Band I und II geleistete Vorarbeit auch für Band III von Bedeutung; auf beide Bände wird in dieser Rezension mehrfach zu verweisen sein (vgl. auch die Rezension von H. Strutwolf in Theologische Revue 89 [1993], 23-26).

Die handschriftliche Überlieferung der altäthiopischen Synoptiker ist, wie für die Geez-Literatur nicht untypisch, verhältnismäßig jung. Nur eine Minderheit der Handschriften geht in die Zeit vor dem 15. Jh. zurück; keine kann mit Sicherheit vor das 13. Jh. datiert werden. Zwischen der vermutlichen Entstehungszeit der altäthiopischen Übersetzung des Neuen Testaments (4. Jh.?) und den ältesten Manuskripten liegt also beinahe ein ganzes Jahrtausend. Z. hat etwa 350 Evangelienhandschriften registrieren können (I, 4); die meisten hat er hinsichtlich ihrer Gruppenzugehörigkeit taxiert (vgl. die Liste C1 in I, 242-249), viele (vor allem jüngere) aber auch nicht (vgl. die Liste C2 in I, 250); manche hat er auch nicht einsehen können (vgl. die Liste C3 in I, 251-255), unter ihnen sonderbarerweise eine Handschrift des "Instituts für Neutestamentliche Textforschung" in Münster (I, 255). In seiner Mt-Ausgabe hat er 27 Handschriften verarbeitet (vgl. III, 1), vier mehr als für Mk; im Wesentlichen sind es aber dieselben (vgl. die Liste der Textzeugen in II, 85 sowie deren Beschreibung in II, 42-84). Zu den Auswahlkriterien ist I, 138-142 einzusehen: Aufgenommen wurden sämtliche Textzeugen aus der Zeit vor dem 15. Jh. Jüngere Familien bzw. Gruppen werden durch ausgesuchte ältere Zeugen repräsentiert. Nach Möglichkeit sollen es jeweils drei sein; für den E-Text ist diese Maßgabe erst in der vorliegenden Mt-Edition erfüllt (vgl. II, 87 und III, 21-22).

Was die Gruppierung der Handschriften betrifft, so unterscheidet Z. für die Mk-Überlieferung fünf Familien (A C D E M), bei den älteren Familien auch Untergruppen (Aa Ab Ac Ca Cb Cc Cd). Für Mt kommt eine weitere alte Familie hinzu (B), die ebenfalls in Untergruppen zerfällt. Sie wird am besten bezeugt von drei Handschriften (Nr. 12 13 14 nach der Zählung bei Z.), die bei Mk und Lk Ac-Überlieferung bieten (zu B vgl. I,c 68-72; III, 10-17).

Textkritisch am bedeutsamsten ist die älteste Überlieferung (Aa). Sie wird nur von drei Handschriften in einigermaßen reiner Form geboten, deren wichtigste Ms. Abbâ Garimâ I (= Z., Nr. 1) darstellt, die als Leithandschrift fungiert. Es folgt mit nur geringem Wertigkeitsabstand Ms. Abbâ Garimâ III (= Z., Nr. 2) und in etwas größerer Distanz Ms. Lâlibalâ, Madhânê 'Âlam (= Z., Nr. 4). Es lässt sich nicht verkennen, dass Alter und textkritischer Wert fast vollständig kongruieren: Mss. Abbâ Garimâ I und III sind zugleich die ältesten Evangelienhandschriften überhaupt (vgl. I, 44-50). Wie diese Kongruenz zu Stande kommt, bleibt etwas unklar, zumal Z. die Bedeutung des Alters keineswegs absolut setzt (vgl. I, 44-47). Ein wesentlicher Grund mag die Angewohnheit der Kopisten sein, vor allem jüngere Handschriften abzuschreiben (vgl. I, 40). Zur Rekonstruktion der Aa-Überlieferung ist für Mk II, 7-31 einzusehen, für Mt III, 8-10. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Mk und Mt besteht darin, dass bei Mt wegen Lücken in den beiden Abbâ-Garimâ-Handschriften stärker auf sekundäre A-Überlieferung zurückgegriffen werden muss. Die derart rekonstruierte Aa-Überlieferung sollte indessen zunächst einmal auch nur als ein mittelalterlicher Text identifiziert werden; welche Transmissionsprozesse sich in der dunklen Periode der Überlieferung ereignet haben, wird, wie Z. mehrfach hervorhebt, bis auf weiteres unklar bleiben (vgl. etwa I, 37-40 mit interessanten Exkursen über die Hermeneutik äthiopischer Kopisten).

Die Gruppen Ab und Ac sind Fortentwicklungen der ältesten Überlieferung; Ac fehlt bei Mt, da die betreffenden Handschriften B-Überlieferung haben (s. o.). Die B-Überlieferung ist ein Alternativtext zu A; er kann auf die Zeit vor der handschriftlichen Bezeugung zurückgehen (vgl. III, 16-17) und zeigt Spuren einer Revision des Textes nach griechischer Überlieferung (vgl. III, 10-12). Vielleicht basiert dieser Text auf einer eigenständigen Übersetzung, die freilich in Anlehnung an ältere Tradition vorgenommen wurde. Der Texttyp C basiert auf Konflation von A- und B-Überlieferung (bei Mk aus unterschiedlichen A-Gruppen), vgl. III, 17-19. D ist eine frühneuzeitliche Fortentwicklung von C (vgl. III, 19-21), E eine Revision von D auf Grund der "alexandrinischen Vulgata", also arabischer Bibelüberlieferung (vgl. III, 21-24). Die Familie M steht für den neuzeitlichen Mischtext, der von Z. nur am Rande diskutiert wird (vgl. I, 89). Die europäischen Editionen basieren, was Mt betrifft, fast durchgängig auf B-Überlieferung, bei Mk auf Ab- und Ac-Überlieferung. Der Editio princeps von 1548, die auch in die Waltonsche Polyglotte einging, liegt beispielsweise Ms. Vaticanus aeth. 51 (= Z., Nr. 12 [Mt: B; Mk: Ac]) zu Grunde, vgl. I, 224-226, der Ausgabe von Platt im Wesentlichen Ms. Cambridge, BFBS Eth 193 (= Z., Nr. 200 [Mt: Ab; Mk: Ab]), vgl. den großen Exkurs über diese Ausgabe in I, 224-234. Die äthiopischen Editionen bieten in der Regel M-Überlieferung, vgl. I, 236-239. Ein (gelegentlich irreführendes) Stemma der Familien und Gruppen findet sich in I, 133.

Vergleicht man die vorliegende Ausgabe von Mt (äth) mit der älteren von Mk (äth), so lässt sich bei aller Konformität eine Verfeinerung der editorischen Methodik nicht verkennen. Dies betrifft vor allem den Umgang mit der späteren altäthiopischen Überlieferung. In der Mk-Ausgabe fand sie lediglich im textkritischen Apparat Platz; der Haupttext basierte fast durchgängig auf den drei Aa-Codices. Auch in dieser Ausgabe wird die älteste Überlieferung auf diese Weise präsentiert. Doch neben einer Edition der ältesten Überlieferung, bezeichnet als A-Text, wird auch ein kritisch rekonstruierter B-, D- und E- Text geboten. Anders indessen als beim A-Text dokumentiert der jeweils dazugehörige Apparat nur Textzeugen, die unmittelbar zu dem betreffenden Texttyp gehören. Im Falle des B-Textes etwa werden fünf Handschriften ausgewertet. In Auswahl werden auch Passagen des C-Textes wiedergegeben; eine volle Edition unterbleibt, weil der C-Text wenig einheitlich ist und eher als Ergebnis einer Tendenz (Konflation von A- und B-Überlieferung, Glättungen, Ausschmückungen etc.) zu werten ist denn als rezensionelles Phänomen (vgl. III, 17-19). Aus ähnlichen Gründen unterbleiben editorische Bemühungen bei der M-Überlieferung. Die Vorteile des gewählten Verfahrens sind unbestreitbar: Über das Ausmaß der Divergenzen in der Überlieferung kann man sich nun recht schnell ein Bild verschaffen, zusätzlich erleichtert dadurch, dass zeitlich affine Textformen (A/B, D/E) synoptisch nebeneinander gestellt werden. Man wird allerdings die Frage stellen können, ob eine Beschränkung auf primäre Textzeugen zumindest bei den Texttypen B und D wirklich sinnvoll ist: Wenn der Überlieferungskomplex C auch Einflüssen der B-Überlieferung ausgesetzt war, dann müssten C-Zeugen potentiell auch B-Zeugen sein. Dasselbe gilt für E-Zeugen in Bezug auf D, denn E ist eine Weiterentwicklung von D. Damit soll Z. freilich nicht der Nachlässigkeit bezichtigt werden: Er lässt generell das Bestreben erkennen, im Zweifelsfall auf Rekonstruktion zu verzichten und dem Text der Handschriften den Vorzug zu geben. Er geht damit einen Mittelweg zwischen Eklektizismus und Diplomatismus - sicher nicht unangemessen bei einer derart unübersichtlichen Überlieferungssituation wie der hier gegebenen. Er ist, wie erwähnt, auch vorsichtig genug, vor allzu schnellen Rückschlüssen auf griechische Vorlagen zu warnen. Immerhin enthält die Edition aber - unterhalb des Apparats zum B-Text, also gegenüber vom A-Text- einen analytischen Apparat, der A- und B-Überlieferung mit griechischer Überlieferung korreliert.

Bei einer derart eindrucksvollen Arbeit ist man wenig geneigt, Kritik zu üben. Zu erwähnen sind lediglich die etwas unschöne griechische Type, Akzentfehler in den griechischen Zitaten sowie (nur wenige!) Druckfehler im altäthiopischen Text; aufgefallen sind mir 'ifapap'da (wohl für 'ifaqada) in Mt 1,19B (37) und we'eta statt we'etu in Mt 1,21B (39); in derselben Zeile findet sich eine unmotivierte 8 vor 'esma. Die Kopfzeilen hätten informativer gestaltet werden können; die gezielte Suche nach Versen oder Perikopen wäre wesentlich erleichtert. Um der Benutzerfreundlichkeit willen hätte Z. in der Einleitung auch nicht derart viel Wissen aus den Bänden I und II voraussetzen sollen: Mindestens ein Conspectus siglorum zu den Textzeugen wäre sinnvoll gewesen. Auch ein Abkürzungsverzeichnis hätte nicht geschadet (mit DG ist die Grammatik von Dillmann in englischer Übersetzung, mit DL dessen Lexikon gemeint).

Die hier besprochene Ausgabe bietet ein Panoptikum der altäthiopischen Überlieferung des Matthäusevangeliums. Man registriert, dass die äthiopische Kirche keine feste Textüberlieferung herausgebildet hat. Neben Binnenfaktoren (Glättungen, Transmissionsfehler) haben auch immer wieder andere Versionen, insbesondere koptisch-arabische Bibelüberlieferung, auf altäthiopische Bibeltexte eingewirkt (vgl. I, 90-133). Z. hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung mehrsprachiger Klöster im christlichen Orient hervor; er verweist auch auf christlich-orientalische Polyglottenhandschriften mit altäthiopischer Kolumne (I, 255-256). Hier zeigt sich eine kulturelle Offenheit der äthiopischen Kirche, die auch etwas mit der Repräsentanz des äthiopischen Christentums außerhalb Äthiopiens zu tun hat. Bei aller Singularität ist dieser transmissionsgeschichtliche Befund nicht ganz untypisch für die Geschichte des Bibeltexts im Christentum überhaupt. Irritation durch andere Versionen hat auch sonst immer eine Rolle gespielt, und nur in Ausnahmefällen, etwa in der syrischen Kirche, hat der Text der kanonischen Schriften eine derartige Festigkeit entwickeln können, wie sie für die masoretische Tradition oder die Koran-Überlieferung kennzeichnend ist. Für den locus de scriptura sacra ist dies nicht ohne Bedeutung.

Z.s Werk ist beeindruckend gründlich und materialreich. Zugleich lässt es, wie jedes anregende Buch, auch Raum für weitergehende Fragen. Wie verhält sich etwa die amharische Überlieferung zu derjenigen in Geez? Welchen Ertrag könnte die Auswertung altäthiopischer Kirchenschriftsteller für die Rekonstruktion der Textgeschichte bringen? Wie spiegelt sich die Vielfalt der Varianten in der traditionellen Kommentarliteratur wider, der Diskussionen über verschiedene Lesarten ja grundsätzlich nicht fremd sind? Lässt sich aus den traditionellen Kommentaren vielleicht auch noch neues Variantenmaterial erheben? Die Erforschung des äthiopischen Bibeltextes ist weiterhin eine Zukunftsaufgabe. Für die Rekonstruktion des griechischen Urtextes wird man, wie auch die vorliegende Ausgabe des Mt (äth) zeigt, in diesem Bereich wenig finden; um so interessanter dürften die transmissionsgeschichtlichen Prozesse sein, die hier zu beobachten sind.