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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

493–497

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Fabry, Heinz-Josef u. Ulrich Offerhaus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. 261 S. gr.8 = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 153. Kart. Euro 68,00. ISBN 3-17-016821-5.

Rezensent:

Anneli Aejmelaeus

Das aktuelle Übersetzungsprojekt "Septuaginta-Deutsch" stellt sich in diesem Band vor. Es handelt sich um Vorträge und Aufsätze, die teils zur Einführung in die Arbeit des Projektes, teils, um die Septuaginta bei einem größeren Publikum neu ins Bewusstsein zu heben, entstanden sind. Es sind zehn Beiträge mit verschiedenen Themenstellungen, die im Folgenden vorgestellt, aber leider nicht alle gründlich diskutiert werden können. Am Ende des Bandes wird noch zur Probe die deutsche Übersetzung von Micha (übersetzt und erläutert von Helmut Utzschneider, 213-250) abgedruckt.

"Methodische Probleme einer Septuaginta-Übersetzung" (51- 59) werden im Beitrag von Klaus Haacker erörtert. Seine Empfehlung ist, die "Septuaginta-Deutsch" solle darauf abzielen, wie die ersten Leser den Septuaginta-Text verstanden haben, und nicht etwa, wie der Septuaginta-Übersetzer seine Übersetzung gemeint hat. Diese Ansicht kommt auch in mehreren anderen Beiträgen zum Ausdruck (vor allem Utzschneider, Walter). Damit ist schon ein entscheidender Akzent gesetzt, dessen folgerichtige Umsetzung aber schwierig ist, weil für die gründliche Erörterung des übersetzten Texts immer wieder die Kenntnis der hebräischen Vorlage und der Arbeitsweise des Übersetzers nötig ist. Dass die Übersetzung eine möglichst gute Beherrschung der griechischen Sprache der Abfassungszeit voraussetzt, wird von Haacker betont und durch Beispiele (u. a. Neologismen, die im folgenden Beitrag von Christian Schröder, "Alphabetische Zusammenstellung auffälliger Neologismen der Septuaginta", 61-69, aufgelistet werden) erläutert.

Einleitungswissen zur Entstehung der Septuaginta wird von Nikolaus Walter in seinem Beitrag "Die griechische Übersetzung der Schriften Israels und die christliche Septuaginta als Forschungs- und Übersetzungsgegenstand" (71-96) dargeboten. Es werden hier viele grundsätzliche Fragen der Septuaginta-Forschung berührt, z. B. auch die Frage nach der Anwendung der Septuaginta für die Textkritik des hebräischen Textes (was als "Ausbeutung" bezeichnet wird, 80-81). Eine andere Grundfrage, die etwas ausführlicher behandelt wird, ist, ob es "den Übersetzern um getreue Wiedergabe des hebräischen oder um die Herstellung eines gewissermaßen original-griechischen Textes ging". Der Vf. betont sehr richtig, dass die Frage nicht pauschal beantwortet werden könne, sondern die Charakterzüge der einzelnen Übersetzer berücksichtigt werden müssen. Eine "Septuaginta-Frömmigkeit" als "eine auf der Septuaginta beruhende, von ihr ausgehend sich entwickelnde Frömmigkeit und Theologie" (88) - d. h. als Nachwirkung der Septuaginta - wird jedoch bejaht.

Der erste umfangreiche Beitrag des Bandes stammt von Helmut Utzschneider: "Auf Augenhöhe mit dem Text: Überlegungen zum wissenschaftlichen Standort einer Übersetzung der Septuaginta ins Deutsche" (11-50). Er bespricht die Grundentscheidungen hinsichtlich der Textbasis und der Zielsetzung, wenn die Septuaginta ins Deutsche übersetzt wird. Nach dem Muster des französischen Projekts "La Bible d'Alexandrie" soll die Septuaginta als ein eigenständiges literarisches Werk betrachtet werden, wobei die Rezeption der Septuaginta und nicht der Übersetzer oder seine Intention in den Blick genommen werden sollen. Das amerikanische NETS-Projekt wird hingegen dafür kritisiert, die Septuaginta in fundamentaler Abhängigkeit vom hebräischen Original zu betrachten. Der eigene Standort wird mit dem Ausdruck "in Augenhöhe mit dem Text" definiert - was jedoch für den Leser etwas schleierhaft bleibt.

Auch in seinen Überlegungen zur "besseren" griechischen Textgrundlage folgt Utzschneider den Spuren des französischen Projekts. Einem rekonstruierten "Urtext" soll ein "realer Text, der gelesen und kommentiert wurde" (17), vorgezogen werden. Dieser "Mischtext" oder "Mehrheitstext" wird mit dem Rahlfs-Text gleichgesetzt. Und weiter: "Der Rahlfs-Text ist griechischer als sein bedeutender Göttinger Nachkomme, der seinerseits als später Nachfolger Aquilas zu qualifizieren wäre" (21). Es liegt hier ein fundamentales Missverständnis vor! Der Rahlfs-Text ist kein Mehrheitstext, sondern eine Art "rekonstruiertes Old Greek" (21), genauso wie der Text von Ziegler. Obwohl der erstgenannte auf viel weniger Handschriften basiert, ist das Hauptkriterium für die Textherstellung bei beiden genau dasselbe: Lesarten, die vom Hebräischen weiter entfernt sind, haben größeren Anspruch auf Ursprünglichkeit, da Angleichung an das Hebräische das am häufigsten vorkommende Merkmal für Rezension ist. Dass es trotzdem Differenzen zwischen den beiden - vor Nahal Hever erschienenen - Editionen gibt, ist nicht überraschend.

Nun entscheidet aber Ziegler in seiner Ausgabe in zehn Fällen gegen Rahlfs und mit dem MT. Für Mi 4,13 z. B. wird behauptet, dass die kürzere Fassung bei Ziegler zwar älter sei, aber Rahlfs mit einem Überschuss gegenüber dem MT trotzdem besser sei, "inhaltlich profilierter und gewissermaßen entfalteter" (23). Die Argumentation ist nicht stichhaltig. Nichts hindert jedoch daran, den "besseren" Text auch für ursprünglich zu halten. Ziegler ist nicht unfehlbar. Im Fall von Mi 6,15-16 behauptet der Vf., dass das Verhältnis der griechischen Textgestalten zur hebräischen Überlieferung keine Rolle spiele, verkennt aber, dass diesmal die längere Fassung von Rahlfs eine Doppelübersetzung zum ersten Satz in V. 16 MT bietet: zuerst die ursprüngliche, fehlerhafte Übersetzung (Ende V. 15), danach (mit der Mehrheit der Zeugen) eine genauere, obwohl auch nicht ganz einwandfreie Wiedergabe zum selben Satz. In diesem Fall hat Rahlfs nicht aufgepasst. Trotzdem muss sein Text nicht als "Mehrheitstext" beurteilt werden. Es ist aber auch zu bedenken, dass der MT bei Ziegler nicht als Kriterium gedient hat; in dem Fall wäre ja der ältere Teil der Doppelübersetzung auszulassen gewesen. Der Vergleich mit dem MT ist aber unabdingbar, weil die sekundäre Verdoppelung nur dadurch erkannt und ausgemerzt werden kann.

Die Schlussfolgerung nach den textkritischen Überlegungen lautet, dass nicht der "ältere" Text der "bessere" sei, sondern derjenige, der "eine gewisse Zeit hatte, sich zu entfalten", wobei "Ergänzungen und Fortschreibungen" (26) in Kauf genommen werden. Allerdings wird bei den späten Textentwicklungen die "Hebraica Veritas" eine größere Rolle spielen als bei einer Rekonstruktion der ursprünglichen Septuaginta.

Nach den prinzipielleren Überlegungen führt der Vf. Beispiele für die Auslegung an. Ganz richtig betont er, dass der Übersetzer oft durch Schwierigkeiten des Hebräischen zu freien Übersetzungen genötigt war. Bei Micha, einem poetischen Prophetenbuch, für dessen deutsche Übersetzung der Vf. zuständig ist, sind die sprachlichen Probleme natürlich zahlreich, und so bekommt der Übersetzer oft Gelegenheit, seine eigenen Akzente zu setzen. Wenn noch berücksichtigt wird, dass bei solchen Texten auch die textkritischen Unsicherheitsfaktoren deutlich größer sind, muss man sich fragen, ob es zweckmäßig ist, die Eigenständigkeit der Übersetzung als ein literarisches Werk dermaßen zu betonen, wie es hier der Fall ist. Gewiss gibt es Einzelheiten, in denen der Kontext der Übersetzung zum Vorschein kommt, aber im Großen und Ganzen handelt es sich um kleine Nuancen, und es ist schwer vorstellbar, dass der Übersetzer den Text hätte vorsätzlich umgestalten wollen.

Kleine Nuancen bekommen aber große Dimensionen, wenn sie "in Augenhöhe" betrachtet werden. Die oben erwähnte Doppelübersetzung in Mi 6,15-16 wird in Hinsicht auf die Ereignisse der Makkabäerzeit interpretiert. Damit wird Tür und Tor geöffnet für andere Aktualisierungen in Bezug auf die Seleukidenherrschaft in Palästina, welche nun wesentlich das Eigenständige des literarischen Werkes ausmachen sollen. Dadurch wird die Septuaginta-Übersetzung von Micha ins ausgehende 2. oder beginnende 1. Jh. v. Chr. datiert, eine sehr problematische Datierung, weil sie z. B. die Abhängigkeit der Jesaja-Übersetzung vom griechischen Zwölfprophetenbuch (Seeligmann) nicht zulassen würde. Im Grunde hängt sehr viel an der Doppelübersetzung, wobei die ältere Fassung Mi 6,15 einfach durch die zweimalige Verlesung von Resch als Waw oder Jod bedingt ist. Eine Korrektur nach dem Hebräischen ist dagegen von der Zeit um die Zeitenwende bekannt. Die erstgenannte muss nicht notwendigerweise in die Makkabäerzeit gelegt werden, die letztgenannte hat die Zeit schon hinter sich. Dagegen habe ich jedoch nichts einzuwenden, dass die zweite oder dritte Generation der Leser Michas Prophezeiungen in der griechischen Fassung auf ihre eigene Zeit angewandt hätten. Zu solcher "relecture" gibt ein prophetischer Text- die Bibel überhaupt - oft Gelegenheit, ohne dass der Verfasser oder Übersetzer alle Anwendungen schon im Sinn gehabt hätte.

Einen interessanten und informativen Beitrag zu den Fragen der Entstehung der Septuaginta aus dem Blickwinkel eines Althistorikers bietet Wolfgang Orth in "Ptolemaios II. und die Septuaginta-Übersetzung" (97-114). Er nimmt teil an der Diskussion über den Wert des Aristeas-Briefes. Mit seinem Detailwissen über das Interesse Ptolemäus' II. an Bildung und Wissenschaft und über die Verbindung der Ptolemäerfamilie über Demetrios - der unter Ptolemäus I. in Alexandrien gewirkt hat - zu der peripatetischen Schule gelingt es ihm, die schon mehrmals begrabene These von dem aktiven Einfluss der königlichen Kulturpolitik auf das Übersetzungsprojekt wieder zu beleben. Was ich schwierig finde in dieser Frage, ist die rigide Alternative: die Juden oder der König. Der Charakter der Übersetzung an sich spricht eindeutig für die erste Möglichkeit. Es wäre vielleicht fruchtbar, nach einem Kompromiss zu suchen.

Manfred Görg führt in seinem Beitrag "Die Septuaginta im Kontext spätägyptischer Kultur" (115-130) Beispiele für einzelne Übersetzungsäquivalente im Pentateuch an, die Berührungspunkte mit dem lokalen spätägyptischen Kult und der entsprechenden Kultur aufzeigen. Die meisten Beispiele sind einleuchtend und interessant und tragen zu unserem Verständnis der Pentateuch-Septuaginta bei. - Johann Maier versucht in seinem Beitrag "Das jüdische Gesetz zwischen Qumran und Septuaginta" (155-165) aus dem Handschriftenbefund von Qumran zu lesen, wie sich die Wertung des Pentateuchs in den Jahrhunderten vom 3. v. Chr. bis zum 1. n. Chr. entwickelt hat. Die vorgeführte Argumentation leuchtet mir nicht in allen Punkten ein. Vielleicht spiegeln sich in den beschriebenen Änderungen nur das Aufkommen des MT und eine größere Rigidität im Verhältnis zum hebräischen Text wider. Die ursprüngliche Wertung des Pentateuchs sieht der Vf. vorwiegend darin, dass der Pentateuch- sowohl hebräisch als auch griechisch - als Grundlage der jüdischen Autonomie diente. In dem "Lehrer der Gerechtigkeit" sieht er den letzten Inhaber des Amtes eines Torapropheten, der autorisiert war, neue Toraoffenbarungen zu vermitteln. Mit dem Wegfall dieses Amtes sei die geschriebene Tora die einzige Rechtsbasis geblieben. - "Das Alte Testament im lukanischen Doppelwerk" (167-195) wird sehr ausführlich und mit einschlägigen Belegen im beitrag von Martin Meiser besprochen. Methodisch wird das Modell der Intertextualität angewandt. Lukas' Schriftverwendung wird in enger Verbindung zu seiner Theologie betrachtet, wobei in der Hereinnahme von Heiden in das Gottesvolk ein sachlicher Schwerpunkt gesehen wird.

Heinz-Josef Fabry gibt in seinem Beitrag einen Überblick über "Die griechischen Handschriften vom Toten Meer" (131- 153) und präsentiert seine Überlegungen zur Textkritik. Von der Situation in der Textforschung des hebräischen Textes will er direkte Linien zur Überlieferung des griechischen Textes der Septuaginta ziehen. Anstelle der Theorie von "local texts" (Cross) wird von mehreren Forschern (Ulrich, Tov) eine Theorie der "textual variety" (132) vertreten, und Fabry schließt sich daran an. Es hat niemals einen "Urtext" des Alten Testaments gegeben, heißt es. Fabry will daraus den Schluss ziehen, dass auch kein Septuaginta-Urtext zu erwarten ist. Dies stimmt aber nicht: Erstens gibt es keine solche Abhängigkeit zwischen der griechischen und hebräischen Überlieferung, und zweitens spricht die griechische Überlieferung deutlich dagegen.

Dass es keinen Urtext des hebräischen Alten Testaments gegeben hat, verstehe ich so, dass es nie einen Zeitpunkt in der Textgeschichte gegeben hat, zu dem die Bücher des Alten Testaments im ursprünglichen Zustand, fertig nach der letzten Redaktion und noch nicht verderbt durch die Kopierung, vorgelegen hätten. Die Entstehungsgeschichte (Literarkritik) eines jeden Buches überschneidet sich mehr oder weniger mit der Textgeschichte (Textkritik), so dass man eher nur von einem vielschichtigen Prozess der Entstehung und Entwicklung des Textes reden kann. Trotzdem ist es möglich, bei einzelnen Lesarten zu beurteilen, wann es sich um spätere Phänomene und Verderbnis des Textes, wann um ältere Formulierungen und Bestandteile der ersten erreichbaren Edition des Textes handelt.

Anders verhält es sich mit dem Urtext der Septuaginta. Gegen die Targum-Hypothese von Kahle gibt es einen soliden Konsens unter den heutigen Septuaginta-Forschern, dass es am Anfang der Textgeschichte der Septuaginta eine Übersetzung gegeben hat, d. h., die Septuaginta ist nicht als eine Zusammenstellung von mehreren nebeneinander existierenden Übersetzungen entstanden. Nach den Qumran-Funden und vor allem der Zwölfprophetenrolle von Nahal Hever, die eben in diesem Beitrag von Fabry ausführlich vorgestellt wird, wissen wir viel mehr über die vorchristliche Rezensionstätigkeit, aber alle gefundenen Texte weisen in die eine Richtung: Sie sind alle abhängig von der einen Übersetzung, weisen aber verschiedene Versuche auf, den griechischen Text an den hebräischen anzugleichen. Je mehr davon bekannt wird, umso deutlicher wird, dass der Wortlaut der ursprünglichen Septuaginta nicht an allen Stellen handschriftlich überliefert ist. Wir müssen also damit rechnen, dass auch die ältesten Kodizes sporadisch frühe Angleichungen enthalten können. Dies heißt aber nicht, dass es den ursprünglichen Wortlaut nie gegeben hätte.

Hinter der einen Übersetzung steckt natürlich eine Vorlage. Die eine Übersetzung wurde aber für verschiedene Bücher nach verschiedenen Prinzipien und zu verschiedenen Zeiten verfasst, und die hebräische Vorlage der einzelnen Bücher ist auch unterschiedlich gewesen. Es wird aber nicht vorausgesetzt, dass die hebräische Vorlage der Septuaginta der "Urtext" des Alten Testaments gewesen wäre. Sie hat in jedem Buch eine Phase der Entwicklung des hebräischen Textes vertreten, aber ist ein Tex, egal wie gut oder schlecht, gewesen.

Obwohl er die Theorie von "local texts" am Anfang seines Beitrags zurückgewiesen hat, kommt Fabry in seinen Ergebnissen am Ende zu einer These, die den Implikationen der "local texts" sehr ähnelt. Ihm scheint nämlich "realistisch, dass die griechischen Handschriften wegen ihrer enormen Variantenbreite sich nicht auf einem Urtext zurückführen lassen, vielmehr entsprechend der Vielfalt der hebräischen Texttraditionen eine ähnliche Bandbreite zeigen" (152-153). Bekanntlich wurde ja auf Grund von "local texts" postuliert, dass der griechische Text in verschiedenen Phasen nach verschiedenen Texttypen korrigiert wurde, was jedoch nicht überzeugend nachgewiesen werden konnte. So enorm finde ich die Variantenbreite auch nicht - weder zahlenmäßig noch inhaltlich -, dass ich wie Fabry meinen könnte: "Jede kulturelle Gruppe bringt ihre gläubige Identität in ihren Bibeltext mit ein" (153). Er meint, es sei von uns eine Zumutung, "in den Varianten Fehler zu vermuten" (153). So pauschal können die Fehler nicht abgeschafft werden. Es gibt absichtliche Änderungen des Textes, öfter Angleichungen an den hebräischen Text als Zeugnisse von "gläubiger Identität" und tatsächlich auch unabsichtliche Fehler.

Für mich war es besonders interessant, den Beitrag von Martin Rösel "Die Septuaginta-Version des Josuabuches" (197-211) zu lesen, in dem er sich mit der Grenzziehung zwischen Interpretation durch den Übersetzer und Fällen mit unterschiedlicher Vorlage beschäftigt. Wie bekannt, hat sich Rösel in seinen Untersuchungen zur Genesis für die Position eingesetzt, dass möglichst alle Unterschiede zwischen dem MT und der Septuaginta durch Interpretationstätigkeit des Übersetzers zu erklären sind. Bei Josua hat er es mit einem Buch zu tun, in dem die Unterschiede viel zahlreicher als im Pentateuch sind, und in vielen Fällen sind ähnliche Abweichungen vom MT sogar in Qumran-Handschriften belegt. Das macht Rösel zu schaffen.

Er konstatiert ganz richtig, dass der Pentateuch schon früh einheitlich überliefert wurde, während in Josua verschiedene Texttraditionen im Umlauf waren. Seine Folgerungen sind aber nicht einleuchtend. Erstens meint er, dass in Josua "die Frage nach einer abweichenden Vorlage, die u. U. für die inhaltlichen Differenzen verantwortlich war, eine höhere Priorität hat als etwa in der Genesis" (200). Es ist zwar wahrscheinlich, dass die Vorlage in Josua öfter abweichende Lesarten bietet, m. E. ist jedoch methodisch gesehen bei der Beurteilung der einzelnen abweichenden Stellen die Frage nach der Vorlage in Genesis genau so dringend zu stellen wie in Josua.

Zweitens argumentiert Rösel damit, dass sich der Übersetzer von Josua, so wie die Abschreiber bei der Überlieferung des hebräischen Textes, Freiheiten erlauben konnte, weil das Buch als weniger heilig galt. Einerseits steht dieses Argument im Widerspruch zu dem vorangehenden: Die Priorität der abweichenden Vorlage würde ja bei Josua eine größere Wortwörtlichkeit als in der Genesis erwarten lassen. Nun ist aber die Übersetzungsweise in Josua nicht sehr viel anders als in Genesis oder Exodus, d. h. weder sklavisch buchstabengetreu noch übermäßig frei. Andererseits können wir nicht auf Grund der Verhältnisse um die Zeitenwende in Qumran wissen, wie die verschiedenen Bücher im 3. Jh. v. Chr. in der Diaspora angesehen wurden. Hinzu kommt noch, dass es in der früheren Überlieferung der Tora auch Abweichungen gegeben hat. Sie sind aber wegen der autoritativen Stellung der Tora früher ausgemerzt worden als im Falle von Josua und daher nicht mehr auf Hebräisch erhalten.

Die Beispiele, die Rösel anführt, sind hauptsächlich Stellen, wo die Vorlage zusätzliches Material bietet. Mehrere sind Fälle mit redaktionellen Querverweisen zu den Königsbüchern. Wenn nach der möglichen Interpretationstätigkeit des Übersetzers gefragt wird, ist es egal, ob die Vorlage einen sekundären oder einen dem MT vorzuziehenden Text gehabt hat. Entscheidend ist nur, ob der Übersetzer einen hebräischen Text übersetzt oder seinen eigenen Text frei verfasst hat. Rösel macht aber keinen klaren Unterschied zwischen den beiden methodischen Schritten, der Bestimmung des ursprünglichen hebräischen Textes und der Feststellung einer abweichenden Septuaginta-Vorlage. Was in der Vorlage Harmonisierung oder Aktualisierung gewesen ist, gilt für Rösel auch in der Übersetzung als solche, obwohl der Übersetzer nur übersetzt hat. Rösel meint aus seinen Beispielen lesen zu können, "dass der Übersetzer/Redaktor sein Josuabuch stärker mit den anderen Geschichtsbüchern verzahnt hat" (207), ohne zwischen den beiden zu unterscheiden. Auf der nächsten Seite schreibt er schon von "eigener Akzentsetzung des Übersetzers" (208).

Die Beispiele, die tatsächlich die Tätigkeit des Übersetzers veranschaulichen, bieten Phänomene, die auch in anderen Büchern üblich sind und theologische Fragestellungen nur leicht berühren. Zum größten Teil handelt es sich also bei den Differenzen zwischen der Septuaginta und dem MT im Josuabuch um die Akzentsetzung eines Redaktors des hebräischen Textes und nicht des Übersetzers.

"Die Septuaginta als eigenständiges literarisches Werk zu betrachten", so lautet die Devise des deutschen Übersetzungsprojektes. Ohne Zweifel wird eine Übersetzung - so auch die "Septuaginta-Deutsch" - oft ohne Bezug zum Original gelesen. Die Übersetzer einer Übersetzung bräuchten aber im doppelten Sinn einen tieferen Blick.