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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

487–490

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Titel/Untertitel:

1) Apocrypha Hiberniae I. Evangelia Infantiae. Ed. et commentariis instr. M. McNamara, C. Breatnach, J. Carey, M. Herbert, J.-D. Kaestli, B. O Cuív (+), P. O Fiannachta, D. O Laoghaire (+). Appendices ad. J.-D. Kaestli, R. Beyers u. M. McNamara.

2) Apocrypha Hiberniae I. Evangelia Infantiae. Ed. et commentariis instr. M. McNamara, C. Breatnach, J. Carey, M. Herbert, J.-D. Kaestli, B. O Cuív (+), P. O Fiannachta, D. O Laoghaire (+). Appendices ad. J.-D. Kaestli, R. Beyers u. M. McNamara.

Verlag:

1) Turnhout: Brepols 2001. XVI, 488 S. gr.8 = Corpus Christianorum. Series Apocryphorum, 13. Lw. Euro 240,00. ISBN 2-503-41132-0.

2) Turnhout: Brepols 2001. IV, S. 489-1203. gr.8 = Corpus Christianorum. Series Apocryphorum, 14. Lw. Euro 290,00. ISBN 2-503-41141-X.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Irische Apokryphen - das klingt in vielen Ohren wie böhmische Dörfer. Zwar ist die hohe Bedeutung des irischen Christentums im allgemeinen Bewusstsein fest etabliert - aber die Zugangswege zu seinen literarischen Hinterlassenschaften liegen doch eher abseits der bekannten Straßen. Das gilt ganz besonders für apokryphe Texte, die meist im Grenzgebiet zur mittelalterlichen Bibeldichtung angesiedelt sind. Lange Zeit blieb die Kenntnis dieses faszinierenden Literaturbereiches deshalb auf einen engen Spezialistenkreis beschränkt. Die beiden anzuzeigenden Bände des Corpus Christianorum schaffen hier jedoch erstmals und grundlegend Abhilfe: Für den Themenkreis der Kindheitsevangelien liefern sie eine erschöpfende Zusammenstellung aller relevanten Texte in soliden Editionen, begleitet von modernen Übersetzungen, ausführlichen Einleitungen, durchdringenden Kommentierungen sowie umfangreichen Registern.

Für ein breiteres theologisches Lesepublikum hatte erstmals M. R. James in seinem Buch Latin Infancy Gospels (1927) auch auf irische Überlieferungen hingewiesen. Ab den 70er Jahren übernahm es dann vor allem M. McNamara durch eine Reihe von Veröffentlichungen, über den Kreis der mit kelti-scher Philologie befassten Wissenschaftler hinaus Ahnung und Kenntnis jener noch weithin unbekannten, reichen apokryphen Traditionen in irischer Sprache zu vermitteln. Sein Buch The Apocrypha in the Irish Church (1975), das einen Überblick sowohl über die alttestamentlichen als auch die neutestamentlichen Apokryphen präsentierte, stellte den ersten Schritt zur Konzipierung einer Reihe von Bänden für das Corpus Christianorum dar, in der zunächst die neutestamentlichen Apokryphen vorgelegt werden sollen. Organisatorisch ist dieses Projekt in Abstimmung mit der Irish Biblical Association und der Association pour l'étude de la littérature apocryphe chrétienne entstanden. Die nun vorliegenden ersten beiden Bände (CChr.SA 13/14) wurden während eines Zeitraumes von zehn Jahren durch ein Team erarbeitet, das - wie die Bibliographie ausweist- mittlerweile auch auf vielfältige Vorarbeiten zurückgreifen konnte.

Die General Introduction (I, 3-37) stammt aus der Feder von M. McNamara, der darin einen weiten Apokryphenbegriff entwirft - und zugleich problematisiert: Als christliche Apokryphen gelten demnach pseudepigraphische und anonyme Texte christlichen Ursprungs, deren Hauptakteure oder Hauptereignisse in der Bibel genannt werden (was grundsätzlich auch alttestamentliche Stoffe einschließt, sofern sie in Gestalt christlicher Kompositionen oder Adaptionen begegnen); der größte Teil der hier interessierenden Texte hat zudem in seiner Überlieferungsgeschichte nie jene Sanktionen erfahren, die mit dem Begriff apokryph seit der frühen Kirche in der Regel angezeigt waren. Vielmehr konnten apokryphe Texte in der irischen kirchlichen Literatur eine Vielzahl verschiedener Funktionen erfüllen. "This freedom exercised by the medieval authors would seem to be a further reason for not adhering to rigid definitions in our study of these texts." (I, 7) Während die meisten der irischen Apokryphen in der Landessprache vorliegen, sind in einigen Fällen auch lateinische Texte diesem Kreis zuzurechnen. In sprachlicher Hinsicht gliedert sich das Material nach drei Perioden: 1. von den Anfängen bis 900; 2. von 900 bis zur normannischen Invasion ca. 1200; 3. von 1200 bis 1500. Linien der Forschungsgeschichte, zugespitzt auf die Kindheitsevangelien, kommen in einer kompakten Übersicht zur Darstellung: Nach den ersten Anfängen gegen Ende des 19. Jh.s erlebten die irischen Apokryphen um 1950 eine Wiederentdeckung, die seit ca. 1980 durch die Vernetzung mit sprach- und kulturübergreifenden Forschungen zur apokryphen Literatur insgesamt eine rasante Entwicklung genommen hat. Sie korrespondierte einer verbesserten Kenntnis der hiberno-lateinischen Kommentarliteratur aus der Zeit zwischen 650 und 800, die zahlreiche Bezüge auf apokryphe Traditionen bietet. Grundlage der edierten Texte sind zehn Manuskripte aus der Zeit von 1380 bis 1515. Inhaltlich stehen jene Traditionen im Hintergrund, wie sie vor allem im Protevangelium des Jakobus (PJ), in der Kindheitserzählung des Thomas (PsT) sowie im Pseudo-Matthäusevangelium (PsM) enthalten sind. Traditionsgeschichtlich jüngere Zwischenformen bzw. verschiedene lateinische Kompilationen, die auf die irischen Texte Einfluss genommen haben, werden dann in den speziellen Einleitungen eingehend erörtert bzw. in einem Ap-pendix noch einmal eigens dargeboten.

Die Präsentation der Texte erfolgt in der Reihenfolge ihrer Bedeutung. Am Anfang stehen deshalb die Kindheitserzählung des Liber Flavus Fergusiorum (InfLFF) und die Kindheitserzählung des Leabhar Breac (InfLB). Auf Grund ihres engen Bezuges auf das PJ wird ihre Edition noch einmal durch eine gemeinsame Einleitung von M. McNamara und J.-D. Kaestli eröffnet. Darin geht es vor allem um die verschlungenen traditionsgeschichtlichen Verhältnisse beider Texte. Der Liber Flavus Fergusiorum (nach einem Besitzer John Fergus benannt), eine Sammelhandschrift mehrheitlich religiösen Inhaltes, bietet die Kindheitserzählung als einen relativ klar abgrenzbaren Abschnitt unter zahlreichen anderen, auch weiteren apokryphen Texten. Weniger eindeutig abgrenzbar findet sich die Kindheitserzählung im Leabhar Breac (= gesprenkeltes Buch) als Teil einer umfänglicheren Gospel history, die noch in vier weiteren Histories erhalten ist; in der vollständigsten History, die im 18.Jh. nach ihrer eigentümlichen Kolorierung eben als Leabhar Breac benannt wurde, ist diese Gospel history wiederum nur Teil einer größeren Sammlung religiöser, auch weiterer apokrypher Texte. Während InfLFF nach einem Prolog über die Autorschaft des Jakobus von der Empfängnis Marias bis zu einem Dialog des Joseph-Sohnes Simeon mit der Hebamme nach der Geburt Jesu führt, reicht die InfLB von der Zensusgeschichte bis zur Ermordung des Zacharias. Der Zusammenhang beider Erzählungen, der in jenen der Geburt Jesu vorausgehenden Abschnitten am auffälligsten in Erscheinung tritt, ist offensichtlich über die gemeinsame Benutzung von Quellen vermittelt. Vereinfacht stellt sich die Situation etwa folgenderma- ßen dar: Ein verloren gegangener lateinischer Text, der die Geburt Jesu unabhängig vom PJ erzählte und der um ca. 500 zu datieren ist (von den Herausgebern als "Special Source" bezeichnet) wird durch Kombination mit dem PJ zur sog. "I-Compilation" erweitert; in einem nächsten Schritt entsteht daraus durch Integration von Elementen aus dem PsM die sog. "J-Compilation" (J nach M. R. James, der diesen Text als Erster publiziert hatte), wie sie in zwei lateinischen Fassungen - der Arundel-History und der Hereforder-History - vorliegt. Darauf haben InfLFF und InfLB in unterschiedlicher Weise zurückgegriffen, was die Herausgeber durch sorgfältige Textvergleiche im Einzelnen herausarbeiten. Beide Erzählungen werden in einer kritischen Edition des irischen Textes mit englischer Übersetzung dargeboten.

An letzter Stelle folgt in Band I eine "Erzählung in Versform über die Kindheits-Taten des Herrn Jesus", die im Wesentlichen auf den Inhalt der bekannten Kindheitserzählung des Thomas zurückführt. Die zweisprachige Präsentation ist durch eine Fülle von Anmerkungen bereichert, die das Gedicht stets mit Blick auf die bekannten Textzeugen des PsT analysieren.

Band II stellt dann einige kleinere Texte vor, die Geburt und Kindheit Jesu thematisieren, ohne dabei klarere traditionsgeschichtliche Bezüge erkennen zu lassen. Den Anfang macht ein irisches Gedicht aus dem 13. Jh., das verschiedene Elemente aus den bereits bekannten Erzählungen enthält. Es handelt in einem ersten Teil von der Geschichte Marias, in einem zweiten von Kindheitstaten Jesu, die an zwei Episoden aus dem PsM anklingen. Darauf folgt eine Sammlung von fünf in Irland beheimateten lateinischen Texten aus dem 7.-10. Jh. (lateinisch mit moderner englischer Übersetzung) über Omina, die der Geburt Christi vorausgehen: Ihr Charakteristikum liegt darin, dass sie vor allem in der Öffentlichkeit des Römischen Reiches wahrgenommen werden. Den Abschluss bilden einige kleinere Texte, die zwei Themenkreisen gewidmet sind: Ein irischer und ein lateinischer Text erzählen von der Geburt Jesu im Kontext der ausgestalteten Zensusgeschichte; fünf Texte (einer davon in Versform) erzählen von den Wundern, die sich in der Nacht der Geburt Christi selbst ereignet haben.

Eine wertvolle Bereicherung stellt schließlich der Appendix dar. Er bietet noch einmal eine neue, mit einer ausführlichen Einleitung versehene lateinische Edition der sog. "J-Compilation" durch J.-D. Kaestli und M. McNamara. Dabei stehen die Fassung der Hereforder-History und der Arundel-History synoptisch nebeneinander; die Lesarten der weiteren Textzeugen (2 für die Hereforder Fassung, 7 für die Arundel-Fassung) werden in einem textkritischen Apparat verzeichnet. Sodann folgt zum ersten Mal eine ausführlich eingeleitete kritische Edition der vollständigsten lateinischen Übersetzung des PJ, wie sie in Ms. Paris Bibliothèque Sainte-Geneve 2787 (13. Jh.) vorliegt, durch Rita Beyers. Beide Editionen erschließen jene Texte, die für die Vorgeschichte der irischen Kindheitserzählungen von besonderer Bedeutung sind, auf mustergültige Weise.

Detaillierte Indices erleichtern die gezielte Benutzung: Bibelstellen, Personen und Orte, Stellen der präsentierten Texte, Autoren und Schriften, Themen, Handschriften, irische Worte, lateinische Worte (Letztere differenziert nach den entsprechenden Texten).

Auf inhaltliche Probleme einzugehen ist hier nicht der Ort. Dass diese Texte z. B. für die Frage nach der Entwicklung des Weihnachtsbildes eine Fundgrube darstellen, liegt auf der Hand. Die Querverbindungen zu theologischen Entwicklungen in Exegese und Dogmatik werden immer wieder sichtbar. Analogien zu den apokryphen Überlieferungen anderer Kulturkreise (etwa hinsichtlich der Omina vor und der Wunder während der Geburt Jesu) drängen sich durchgängig auf. Um diesen Bezügen auch nachgehen zu können - dafür gibt es nun eine solide Grundlage. Aus böhmischen Dörfern ist damit - zunächst für einen begrenzten Bereich - ein leicht begehbares, offenes und fortan bekanntes Terrain geworden. Im Blick auf die weitere Aufarbeitung irischer Apokryphen berechtigen die beiden vorliegenden Bände zu größten Erwartungen.