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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

386–389

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sellin, Gerhard u. François Vouga [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Logos und Buchstabe. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Judentum und Christentum der Antike.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 1997. 269 S. gr.8 = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 20. Kart. DM 86.-. ISBN 3-7720-1871-8.

Rezensent:

Dieter Sänger

Der anzuzeigende Sammelband enthält die Vorträge einer interdisziplinären Tagung, die im Oktober 1995 in Hamburg stattfand. Zusätzlich zu den dort zur Diskussion gestellten Referaten wurde für die Druckfassung noch ein Beitrag des Chicagoer Judaisten Michael Fishbane aufgenommen: "’Orally Write therefore Aurally Right’. An Essay on Midrash" (91-102).

Wie bereits die Titel der einzelnen Aufsätze und nicht zuletzt der umfangreiche bibliographische Appendix (235-265) signalisieren, hat das Thema Mündlichkeit-Schriftlichkeit in den vergangenen drei Jahrzehnten zunehmend an Aktualität gewonnen. Mit seinen medien- und kommunikationstheoretischen, literatur- und kulturgeschichtlichen Implikationen beschäftigen sich mittlerweile nahezu alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die Theologie eingeschlossen. Ausgelöst wurde dieser fächerübergreifende Diskurs durch die Kritik an der Dominanz des besonders in der abendländischen Tradition ausgebildeten Paradigmas, das die Prinzipien mündlicher Kommunikation auf das Schriftliche überträgt und zum Maßstab auch der Beziehung zwischen Textproduzent und -rezipient macht. Dahinter steht - bewußt oder unbewußt - die Überzeugung, nur so könne die Wahrheit des schriftlich Fixierten präsentisch vermittelt und die Authentizität des historischen Ursprungssinns gesichert werden. Gegenüber diesem "Logozentrismus", den J. Derrida auf eine die ganze westliche Philosophie und Theologie prägende Ontologie der Präsenz zurückführt, wird eingewandt, gerade die Schrift fordere eine prinzipielle Unterscheidung von res und signum, weil ihre Sprachzeichen die Abwesenheit ihrer Referenten voraussetzten. Durch seine Verschriftung verselbständige sich das Wort. Es werde aus der Sprecher-Hörer-Situation herausgelöst und in eine Autonomie entlassen, die auch eine Freiheit der Rezeption bewirke. Die hermeneutischen Konsequenzen der damit vollzogenen Umwertung des traditionellen Verständnisses von gesprochenem "lebendigem" Wort und "totem" Buchstaben (vgl. 2Kor 3,6) sind beträchtlich. Denn wenn der Buchstabe "nicht nur lebendig, sondern sogar kreatorisch erscheint" (10 [Vorwort]), wird jede Interpretation zu einem innovativen Akt. Nur - wird ein Streit über Sinn und Bedeutung eines Textes nicht überflüssig, wenn er eine Vielzahl potentiell realisierbarer Sinnstrukturen enthält? Und welche Kontrollinstanz schützt ihn vor einer rein subjektiven oder gar willkürlichen Auslegung?

Der den Band eröffnende Beitrag von Gerhard Sellin "Das lebendige Wort und der tote Buchstabe. Aspekte von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in christlicher und jüdischer Theologie" (11-31) führt in prägnanter Kürze, aber stets differenziert und mit Blick auf das Wesentliche in die überaus komplexe Thematik ein. Er skizziert die positionellen Alternativen, um die es in der Debatte geht, beleuchtet deren theologie- und philosophiegeschichtlichen Hintergründe mitsamt den sie leitenden hermeneutischen Prämissen und problematisiert am Beispiel der Sprechakt-Theorie die Applikation mündlicher Kommunikationsmodelle auf die Exegese ntl. Makroformen (Brief, Evangelium). Hingegen zeige der jüdische Midrasch, daß die Konzentration auf die Schrift und die bewußte "Absage an die Ontologie der absoluten Präsenz" (27) nicht gleichbedeutend sein müsse mit dem Verzicht, die Wahrheit (Gottes) narrativ und metaphorisch auszusagen. Durch die Kommentierung des verschrifteten "toten" Bibeltextes produziere er neue Texte, Metatexte, "deren Wahrheit aber nicht mehr an ihren objektiven Ursprungsbezügen allein gemessen wird, sondern an ihrer Wirkung in neuen Kontexten" (28 f.). Freilich ist damit das Problem der unendlichen Mehrdeutigkeit und Interpretation noch nicht gelöst, wie S. selbst einräumt (29). Daher bleibt die Aufgabe gestellt, nach Kriterien einer legitimen Rezeption zu suchen, von der die Einsicht in die hermeneutische Eigenart des schriftlichen Mediums nicht dispensiert (31).

Was S. als Problemanzeige formuliert, wird in den übrigen Beiträgen aufgenommen und thematisch variiert. Dorothea Frede, "Mündlichkeit und Schriftlichkeit: von Platon zu Plotin" (33-54), modifiziert die gängige These, Platons Schriftkritik (Phaidros, 274b-278c; Ep. 7,341a-345c) sei grundsätzlicher Natur. Die Vorbehalte richteten sich nicht gegen die Schrift an sich, sondern gälten dem Leser, der dem Trugschluß verfallen könne, Buchwissen ersetze die eigene Denkarbeit (38.41). Zudem erweise sich das schriftlich Fixierte als starr und unbeweglich, während der mündliche Dialog die Möglichkeit biete, im gemeinsamen Frage- und Antwortspiel Erkenntnis zu gewinnen und Wahres vom Falschen zu trennen (Ep. 7,344b [44]).

Wolfgang Kullmann, "Der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit im frühgriechischen Epos" (55-75), illustriert anhand der homerischen Epen die methodischen Schwierigkeiten, an nur schriftlich überlieferten Texten Elemente der Mündlichkeit festzumachen. Um die Alternative zu entschärfen, unterscheidet er im Anschluß an das von P. Koch/W. Oesterreicher entwickelte Sprachmodell (57 f.) zwischen konzeptioneller und medialer Literalität bzw. Oralität.

Auf "Spuren der Unterscheidung von mündlichem und schriftlichem Wort im Alten Testament" begibt sich Ina Willi-Plein (77-89). Neben Jer 36 dient ihr 2Kön 22,8 als Beipiel, wie "in Situationen der Gefährdung mündlicher Tradition und damit Erinnerbarkeit" das gesprochene Wort durch Niederschrift "gewissermaßen archiviert" wird (82), ohne jedoch seinen ursprünglichen Charakter zu verlieren (87 f.).

Herbert Marks überprüft in "Schrift und Mikra" (103-126) die hermeneutischen Vorgaben der Bibelübersetzung M. Bubers und F. Rosenzweigs. Ihre erklärte Absicht, die Mündlichkeit der Bibel wiederzuerwecken, erscheint ihm gleich in mehrfacher Hinsicht suspekt. Beide ignorierten erstens die Mehrdimensionalität des Begriffs miqra’, teilten zweitens die spekulative Annahme vom mündlichen Ursprung der hebräischen Bibel, gingen drittens davon aus, daß Mündlichkeit eine ganz eigene Qualität besitze, was letztendlich dazu führe, "das Wesen der Schrift als widerschriftlich zu bezeichnen" (112), und identifizierten viertens Ursprünglichkeit mit Authentizität (116 f.). Im Ergebnis werde "poetische Logik mit existentieller Wahrheit" verwechselt (118).

Die mittelalterliche Lieddichtung steht im Zentrum von Thomas Cramer, "Der Buchstabe als Medium des gesprochenen Wortes. Über einige Probleme der Mündlichkeits-Schriftlichkeitsdebatte am Beispiel mittelalterlicher Lyrik" (127-152). Gestützt auf das Bildmaterial der Manesseschen Handschrift und unter Hinweis auf gattungstypische ästhetische Stilmerkmale widerspricht er der verbreiteten Vorstellung, die mittelalterliche Lyrik sei primär oder gar ausschließlich oral vermittelt und aural rezipiert worden (130.134). Bei ihr wie bei der Beurteilung weit zurückliegender Literatur generell dürften Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht als Gegensätze, sondern müßten "als zugleich existierende, komplementäre Eigenschaften ein und desselben Textes begriffen werden" (141).

Peter Müller steuert "Beobachtungen am Johannesevangelium zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit" bei, die er unter die Joh 19,22 entlehnte Überschrift ",Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben’" stellt (153-173). Das Pilatuswort deutet M. als ebenso interpretationsfähige wie -bedürftige "Verstehensanleitung" des Kreuzestitulus, von dem die intervenierenden jüdischen Beschwerdeführer befürchteten, er "könnte das Weitererzählen beeinflussen" und "zur unkontrollierten Mündlichkeit führen" (161). Der in Korrespondenz zu Jesu Selbstaussage in 18,37 stehende Titulus bestätigt deren Anspruch und proklamiert ihn öffentlich. "So wird im Evangelium aufgenommen, was von Pilatus begonnen wurde: der Anspruch Jesu als Schrift" (165). Die in Kap. 18 f. zu beobachtende Reziprozität von Schrift und mündlicher Narratio gilt auch in Bezug auf den Logos (Joh 1,1-18.45; 5,31-47 [167-169]). Indem seine Nachfolger Jesus als denjenigen wahrnehmen, von dem in der Schrift geschrieben ist, erschließt der Logos gerade als Schrift "den Anspruch der mündlichen Rede ... und fördert auf diese Weise ... das Bleiben im Wort und in der Wahrheit" (169). Umgekehrt ist es die Aufgabe des Parakleten, an das prinzipiell unabgeschlossene Sinnpotential der aufgeschriebenen Worte Jesu zu erinnern, denn "was geschrieben ist, wird weitergesprochen". Deshalb ist die Schrift nicht Endpunkt, sondern in gleicher Weise Ausgangs- und "Bezugspunkt für das Weiterreden" (173).

Harsche Kritik am methodologischen Ansatz der klassischen Formgeschichte übt Stefan Alkier, "Der 1. Thessalonicherbrief als kulturelles Gedächtnis" (175-194). Weil sie das Schriftliche bagatellisiert und gleichzeitig die mit dem Siegel des Authentischen versehene mündliche Überlieferung literalisiert habe, sei sie zum "Motor einer folgenschweren Verdrängung der Schrift" geworden (183). Mündlichkeit und Schriftlichkeit stünden aber nicht in Opposition zueinander. Beide unterschieden sich lediglich durch ihre Funktionsweisen und medialen Bedingungen. Notwendig sei eine Theorie der Schrift und ihrer Lektüre, die diesen Bedingungen Rechnung trage. Lese man den ältesten Paulusbrief unter dem Aspekt der medienabhängigen Konstruktivität frühchristlicher Gedächtnisbildung, d. h. unter der Fragestellung, welche "Beziehungen zwischen Erinnerung, mündlichen und schriftlichen Medien und christlicher Identitätsbildung" sich noch entziffern lassen (188), ergebe sich: Der 1Thess ist weitgehend als Erinnerungsdiskurs gestaltet und "schreibt das Erinnern als konstitutives Moment in das kulturelle Gedächtnis christlicher Gemeinschaft ein". Christliche Gemeinschaft wird damit zur "Erinnerungsgemeinschaft" (191). Der Brief ersetzt nicht die mündliche Kommunikation, sondern ist "ein eigenes Kommunikationsmedium, das eigenen Bedingungen folgt und andere Möglichkeiten eröffnet" (193).

François Vouga, "Mündliche Tradition, soziale Kontrolle und Literatur als theologischer Protest. Die Wahrheit des Evangeliums nach Paulus und Markus" (195-209), plädiert für einen "von der Hermeneutik der Texte unabhängigen Zugang zum Phänomen der mündlichen Tradition" als einer unabdingbaren "Voraussetzung für die Klärung der Verhältnisse zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit" (197). Die hermeneutisch bedeutsame Grenze verlaufe nämlich nicht zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit als solcher, "sondern ... zwischen Mündlichkeit (und verschrifteter mündlicher Tradition) und Literatur als Kunstwerk eines Individuums" (202). Dafür spreche zum einen die signifikant vom übrigen Sprachgebrauch des MkEv abweichende Bedeutung des Begriffs ,Evangelium’ in Mk 1,1, zum anderen deren Nähe zum paulinischen Verständnis von Evangelium, das sich für den Apostel nicht einem sozialen Konsens verdankt, sondern auf unmittelbarer göttlicher Offenbarung beruht (Gal 1,10-12.15 f.). Mit der Entstehung und Verbreitung der paulinischen Briefe habe das frühe Christentum eine Tradition aufgegriffen, die "das Problem der Wahrheit und des Prozesses ihrer Erfindung" vom Gruppenkonsens ablöst ("anarchistisch dissoziiert") und zugleich "die Kategorie des einzelnen, seiner Einsichten und seines Rechtes ... indiviualistisch aufwertet" (204); für V. ein Indiz dafür, daß sowohl die Paulusbriefe als auch das MkEv aufgrund ihrer jeweiligen theologischen Profilierung in Auseinandersetzung, wenn nicht gar in Konkurrenz zur mündlichen Tradition entstanden sind (205.207). Deshalb erscheint ihm die Hypothese plausibel, der Vf. des MkEv habe sich auf die von Paulus in das christliche Denken eingeführte "anarchistische und individualistische Tradition direkt berufen und dies durch seinen Sprachgebrauch des Begriffes ,Evangelium’ signalisiert" (206).

Winrich A. Löhr skizziert in seinen Erwägungen zu "Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Christentum des 2. Jahrhunderts" (211-230) modellhaft vier Varianten, die den Prozeß der Kanonbildung begleitet haben: emphatischer Rekurs auf die viva vox, um das eigene exegetische Projekt und damit die eigene Schriftlichkeit zu legitimieren (Papias v. Hierapolis); die strikte Identifikation von Schriftlichkeit und Offenbarung (Markion); Behauptung der Defizienz der Schriftlichkeit, um die Prävalenz der eigenen mündlichen Tradition hermeneutisch zu rechtfertigen (Valentianer); optimistische Einschätzung der Schriftlichkeit als Kommunikationsmodus, weil ihr zugetraut wird, wesentliche Merkmale der Mündlichkeit zu reproduzieren (Clemens v. Alexandrien).

Fast jeder der in dem Sammelband abgedruckten Aufsätze verdiente es, eingehender gewürdigt und d. h. zugleich, auch seinerseits methodenkritisch befragt zu werden.

Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Das besonders von Stefan Alkier heftig attackierte Defizit der sogenannten klassischen Formgeschichte besteht sicher darin, die medienbedingte Diskontinuität zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung entweder nicht erkannt oder zumindest als irrelevant überspielt zu haben. Etwas merkwürdig mutet dann allerdings an, daß A. eine vergleichbar kritische Analyse der dem Theorem des "kulturellen Gedächtnisses" unterliegenden hermeneutischen Prämissen vermissen läßt; dies um so mehr, als er den heuristischen Charakter des von ihm favorisierten Theoriemodells nicht verschweigt (185) und ansonsten sehr differenziert argumentiert.

Die Herausgeber sind sich bewußt, daß es derzeit noch zu früh ist, ein wenn auch nur vorläufiges Fazit der bisherigen Mündlichkeits-Schriftlichkeits-Debatte zu ziehen. In einem Epilog (231-233) weisen sie jedoch auf einzelne Konvergenzpunkte hin, die sich aus den verschiedenen Beiträgen ergeben. Dazu gehört die zur Bescheidenheit mahnende Einsicht, daß weder die Schrift noch das mündliche Wort oder die menschliche Sprache ausreicht, das Wesen der Wirklichkeit - theologisch gesprochen: die Wahrheit der Offenbarung Gottes - zu erfassen. Daß diese grundlegende existentielle Frage im interdisziplinären Diskurs nicht verdrängt wird, sondern im Rahmen der Universitas litterarum nach wie vor ein Gegenstand gemeinsamer Reflexion ist, stimmt hoffnungsvoll. Daß Henning Paulsen, der diesem Dialog wichtige Impulse vermittelt hat und Initiator der Hamburger Tagung war, sich nicht mehr am weiteren Gang der Diskussion beteiligen kann, stimmt traurig.