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Ausgabe:

Mai/2004

Spalte:

481–484

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hahn, Johannes [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zerstörungen des Jerusalemer Tempels. Geschehen - Wahrnehmung - Bewältigung.

Verlag:

Hrsg. unter Mitarbeit v. Ch. Ronning. Tübingen: Mohr Siebeck 2002. VIII, 279 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 147. Lw. Euro 89,00. ISBN 3-16-147719-7.

Rezensent:

Jostein Ådna

Der Sammelband geht auf ein interdisziplinäres Kolloquium am 17./18. November 2000 in Münster zurück. Es wurde von dem in Münster angesiedelten Sonderforschungsbereich 493 zu "Funktionen von Religion in antiken Gesellschaften des Vorderen Orients" veranstaltet. Die meisten der insgesamt 13 Autoren und Autorinnen sind mit der Universität Münster verbunden; von außen nahmen Hermann Lichtenberger, Tübingen, sowie Günter Stemberger, Wien, am Kolloquium teil. Einer der insgesamt elf Aufsätze des Sammelbandes ist auf Anfrage von Konrad Schmid, Heidelberg, nachgeliefert worden.

Der Tempel in Jerusalem wurde zweimal zerstört, 587 v. Chr. und 70 n. Chr. Der Kolloquiumsband erörtert Texte, die sich in irgendeiner Weise auf eine oder beide Zerstörungen beziehen und chronologisch vom 6. Jh. v. Chr. bis zum 9. Jh. n. Chr. reichen.

Der Band wird eingeleitet von dem Beitrag Walter Mayers über "Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 587 v. Chr. im Kontext der Praxis von Heiligtumszerstörungen im antiken Vorderen Orient" (1-22). Mayer führt 12 Fallbeispiele von Tempelzerstörungen vor, die von den Sumerern im (3.) 2. Jt. bis zur persischen Vernichtung des Marduktempels in Babylon im 5. Jh. v. Chr. reichen. In dieser Weise wird die Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels 587 (Fall Nr. 11) in den Gesamtkontext des Vorderen Orients gestellt, der zu erkennen gibt, dass "Kultzentren immer dann zerstört (wurden), wenn eine Keimzelle eines politischen, eines nationalistischen Widerstandes anders nicht auszuschalten war" (21).

Es folgen zwei Beiträge, die sich direkt mit dem verheerenden Ereignis 587 beschäftigen: Rainer Albertz, "Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 587 v. Chr. Historische Einordnung und religionspolitische Bedeutung" (23-39) und Karl-Friedrich Pohlmann, "Religion in der Krise - Krise einer Religion. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 587 v. Chr." (40-60). Albertz beurteilt die Zerstörung des Tempels als "eine ganz große Ausnahme in der imperialen Politik der neubabylonischen Könige" (33). Erst nachdem es Nebukadnezar in den Wochen nach der Einnahme Jerusalems deutlich geworden sei, welche Schlüsselrolle der Tempel im proägyptisch-antibabylonischen Widerstand eingenommen hatte, habe er beschlossen, ihn zu zerstören. Pohlmann meint, die frühesten "Reflexe der Irritation und Orientierungslosigkeit" (50.54) bezüglich des Tempelverlustes in einigen Klagetexten im Jeremia- und Ezechielbuch, die auf das Muster profaner Totentrauer zurückgreifen, zu finden, "weil darin noch keine theologischen Reflexionen und Aspekte zur Erklärung oder Rechtfertigung der Ereignisse von 587 v. Chr. auftauchen" (51) (z. B. Jer 8,18-23). Alle theologischen Erklärungen und Rechtfertigungen der Katastrophe, die in alttestamentlichen Texten begegnen, seien erst nachträglich aus einer gewissen zeitlichen Distanz entstanden.

Einen interessanten Einblick in die Rezeptionsgeschichte eines alttestamentlichen Textes, der sich in seinem Ursprung auf die Zerstörung des salomonischen Tempels bezieht, vermittelt der von Ariane Cordes, Therese Hansberger und Erich Zenger verfasste Aufsatz "Die Verwüstung des Tempels - Krise der Religion? Beobachtungen zum Volksklagepsalm 74 und seiner Rezeption in der Septuaginta und im Midrasch Tehillim" (61-91). Kennzeichnend für die aktualisierende Rezeption sei eine zunehmende, sich vom konkreten Geschehen der Tempelzerstörung lösende Metaphorisierung. Durch alle Phasen hindurch vermag Ps 74 bzw. seine Rezeption religiöser Krisenerfahrung der jeweiligen jüdischen Gemeinde Ausdruck zu verleihen.

Der Beitrag H. Lichtenbergers, "Der Mythos von der Unzerstörbarkeit des Tempels" (92-107), bietet eine systematisierende Übersicht über verschiedene Positionen im Frühjudentum im Zeitraum ca. 150 v. bis 100 n. Chr. hinsichtlich der Zerstörbarkeit des Tempels.

Der Sammelband enthält zwei neutestamentliche Beiträge: Folker Siegert, "Zerstört diesen Tempel ...! Jesus als Tempel in den Passionsüberlieferungen" (108-139), und Stefan Lücking, "Die Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. als Krisenerfahrung der frühen Christen" (140-165). Siegert hält es für vorstellbar, dass das Tempelwort in seiner ursprünglichen Fassung von Jesus stamme und dass Jesus darin auf sein tödliches Schicksal und auf seine Person verweise. Die Entwicklung nach Jesu Tod - ablesbar in den weiteren Fassungen des Tempelwortes sowie in seinem "nachträgliche[n] Echo" (128) in den neutestamentlichen Briefen - sei jedenfalls, mit oder ohne vorösterlichen Ursprung, eindeutig: Der Wortgottesdienst ersetzt den Opferkult des Tempels; und "der Leib Christi und Tempel des neuen Gottesdienstes war die Gemeinde selbst, ja jedes Glied in ihr" (135). Lücking sucht vor dem Hintergrund des schweren Standes der christlichen Gemeinden im Jüdischen Krieg aufzuzeigen, wie das Markusevangelium gerade in seiner Form als Erzählung der Bewältigung dieser Krise diene.

In ihrem Beitrag "Der Jerusalemer Tempel und das Rom der Flavier" (166-182) erhellt Sabine Panzram die Sicht Roms von den Ereignissen um die Zerstörung des Tempels in Jerusalem.

Zwei Aufsätze befassen sich mit jüdischer Literatur aus der Zeit nach 70 n. Chr. K. Schmid schreibt über "Die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels als Heilsparadox. Zur Zusammenführung von Geschichtstheologie und Anthropologie im Vierten Esrabuch" (183-206). Mit einmaliger Radikalität vertrete 4Esr einerseits die Verfallenheit des bösen Menschenherzens und andererseits die im anstehenden Gericht allein zählende gnadenlose Gerechtigkeit Gottes. Paradoxerweise werde in dieser scheinbar ausweglosen Situation die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels zur einzigen Heilshoffnung, denn es seien ausschließlich die Trauer und das Mitleid um Zion, die "das menschliche Herz aus seiner Sündenverstrickung lösen und so zur Gerechtigkeit vor Gott und damit zur Rettung im Gericht [führen können]" (193). In dem von G. Stemberger gelieferten Aufsatz geht es um "Reaktionen auf die Tempelzerstörung in der rabbinischen Literatur" (207-236). Als ausgewiesener Kenner der umfangreichen rabbinischen Literatur stellt Stemberger exemplarische Texte bis ins 9. Jh. vor. Während das Thema der Tempelzerstörung in der frühen Phase (Mischna, Tosefta) im Hintergrund bleibe, komme es mit zunehmendem Zeitabstand allmählich mehr zum Tragen (babylonischer Talmud). Dies ändere allerdings nichts daran, dass Torastudium und Nächstenliebe als vollgültiger Ersatz für die Opfer angesehen werden. Wenn überhaupt von einem neuen Tempel die Rede sei, dann nur als ein Element der endzeitlichen Erneuerung.

Der Kolloquiumsband wird abgerundet durch den Beitrag von J. Hahn, "Kaiser Julian und ein dritter Tempel? Idee, Wirklichkeit und Wirkung eines gescheiterten Projektes" (237-262). Der Plan, den Tempel zu bauen und Jerusalem mit Juden zu besiedeln und als jüdische Stadt neu zu gründen, müsse im Zusammenhang der übergreifenden Reichspolitik Julians gesehen werden, bei der es dem Kaiser sowohl um die "Wiederherstellung und Stärkung der Städte und autonomen Territorien" (254) als auch um die "Verehrung aller nationalen, lokalen und anderen Gottheiten im Römischen Reich" (255) ging.

Es ist sehr erfreulich und begrüßenswert, wie Ergebnisse des Kolloquiums in Münster über "Zerstörungen des Jerusalemer Tempels" durch diesen Sammelband "an eine weitere Öffentlichkeit" (Vorwort, V) vermittelt werden. Die Beiträge sind größtenteils solide und informativ; durch die interdisziplinäre Beteiligung und thematische Spannweite werden Zusammenhänge deutlich, auf die manche Leser sonst kaum aufmerksam geworden wären und die sie dankbar zur Kenntnis nehmen werden. Der Band hat freilich auch Lücken, etwa in der Behandlung des Neuen Testaments; und manche Thesen in einigen der Aufsätze sind zu wenig untermauert oder gar allzu kühn, um überzeugen zu können.

Aufs Ganze gesehen stellt aber der Kolloquiumsband einen hervorragenden Beitrag zur Erforschung des Geschehens, der Wahrnehmung und Bewältigung der Zerstörungen des Jerusalemer Tempels dar. Ein Stellen- sowie ein Sach- und Ortsregister erleichtern Nachschlagen oder gezielte Informationssuche. Es gibt allen Grund, erwartungsvoll weiteren Beiträgen des Sonderforschungsbereichs 493 entgegenzusehen.