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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

451–454

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Bernhard

Titel/Untertitel:

Lied - Kirchenmusik - Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. XIV, 784 S. m. Abb. gr.8 = Schleiermacher-Archiv, 20. Geb. Euro 158,00. ISBN 3-11-017063-9.

Rezensent:

Konrad Klek

Nur auf den ersten Blick kann man bei diesem fast 800-Seiten-Opus einen zu dick geratenen, schlecht strukturierten Forschungsbeitrag vermuten. Schon der nähere Blick ins Inhaltsverzeichnis klärt auf: Rund 300 Seiten nimmt ein Dokumenten- und Materialanhang in Beschlag, der fast ausschließlich Erstveröffentlichungen bietet, die für den behandelten Stoff wesentlich sind. Die genaue Durchsicht der 486 Textseiten schließlich ergibt: Hier wird in kaum überbietbarer Präzision ein konkretes Praxisfeld des großen Schleiermacher erschlossen, tatsächlich "rekonstruiert", und das braucht eben Platz, wenn die Konkretion der Praxis nicht vorschnell wegabstrahiert werden soll.

Der systematischen Untersuchungen und "Rekonstruktionen" zum unerschöpflichen Theoriekomplex von Schleiermachers Denken gibt es schon viele, auch zur Liturgik (zuletzt Ralf Stroh, Schleiermachers Gottesdiensttheorie, 1998). Hier ist nun seine pfarramtliche Praxis als Liturg erhoben, ein für die Wirkung Schleiermachers auf Zeitgenossen wie spätere Rezipienten ja sehr zentrales Feld. Damit ergänzt diese 1999 in Berlin abgeschlossene Dissertation die Arbeiten von Andreas Reich (F. Schleiermacher als Pfarrer, 1992) und Ilsabe Seibt (Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829, 1998) in spezifischer, durch die Auswertung neuer Archivfunde auch tatsächlich weiterführender Weise.

Das Auffinden der "Liederblätter" für die von Schleiermacher verantworteten Gottesdienste an der Berliner Dreifaltigkeitskirche - bis zur Einführung des Berliner Gesangbuches 1829 - Anfang der 1990er Jahre war (wie bei der Arbeit von Seibt) zunächst Ausgangspunkt für die präzise Rekonstruktion von Gottesdienstkonzeptionen, gestützt außerdem auf im Druck überlieferte Predigten. Der Vf. konzentrierte sich auf "Festgottesdienste", da hier durch die Einbeziehung eines Chores mit Aufführung von "Kirchenmusik" der Maximalfall von Mehrdimensionalität gegeben war. Diese Beschränkung bedeutete allerdings eine erhebliche Ausweitung des Forschungsfeldes, da der ganze Bereich "Kirchenmusik" in allgemein ästhetischer wie konkret musikpraktischer Fragestellung - was wurde de facto von wem wie musiziert? - mit zu beackern war, wozu die aktuelle Musikforschung kaum Hilfestellung bieten konnte. Im Zuge der Arbeiten kam es nun noch zum Auffinden der Protokolle der Gesangbuchkommission in einem Berliner Pfarramtsarchiv, was zum korrigierenden Korreferat der Arbeit von Seibt nötigte. Der Vf. hat die enorme Anforderung an historischer Erschließungsarbeit ob des überbordenden Akten- und (Lied-)Textmaterials hervorragend gemeistert und in der Darstellung eine klare Struktur gefunden.

Die Arbeit bietet zunächst ein differenziertes und gleichwohl knappes Referat der Festgottesdienst-Theorie Schleiermachers aus den üblichen Quellen ("Christliche Sitte", "Praktische Theologie") mit angemessener kritischer Reflexion des Kunstbegriffs in seiner Ästhetik. Dann wird die eigentliche Aufgabenstellung der Arbeit eingelöst und die Theorie mit der konkreten Praxis konfrontiert, wobei überzeugend der Nachweis gelingt, dass Schleiermacher die theoretisch postulierte Einheit und Ganzheit des Kultus auch äußerst konsequent realisiert hat. Insgesamt neun Gottesdienste, deren Liederblätter im Anhang faksimiliert wiedergegeben sind, werden in allen Details von Eingangslied über Altargebet, Hauptlied, Kirchenmusik, Predigt etc. vorgestellt, in den Zeitereignissen verortet und abschließend als "Das Ganze" gewürdigt. Es beginnt mit der Gedächtnisfeier zum Tod von Königin Luise 1810, bietet mit Reformationsfeier 1817 und Unionsfeier 1822 weitere spezielle Festgottesdienste, um dann aus den Jahren 1819 bis 1826 Gottesdienste zu verschiedenen Kirchenjahresfesten zu präsentieren, so dass ein facettenreiches Gesamtbild entsteht, das gleichfalls "ein Ganzes" darstellt. Vier ausführliche Exkurse, im Anschluss an Gottesdienstreferate jeweils sinnvoll platziert, erörtern die allgemein aufgeworfenen Fragenkomplexe.

Exkurs I beackert gleich das Feld der größten terra incognita, nämlich "die Pflege und Bedeutung der Kirchenmusik an der Berliner Dreifaltigkeitskirche". Hier konnte der Vf. zunächst u. a. im Bezug auf (im Anhang publizierte) Gutachten des Ortskantors Rex die Situation vor Ort hinsichtlich der Chorfrage, der Stellung des Kantors und der Häufigkeit und Charakteristik von besonderer Kirchenmusik genau erhellen und nachweisen, dass in Schleiermachers Festgottesdiensten ein aus Mitgliedern der großen Berliner Singakademie bestehender ad-hoc-Chor gesungen hat, der gegebenenfalls mit Orgelbegleitung agierte, jedoch nicht mit weiteren Instrumenten. Was da jeweils gesungen wurde, musste im Einzelfall zumeist hypothetisch rekonstruiert werden, da auf den Liederblättern nur die Texte ohne weitere Angaben abgedruckt wurden und Aufführungsmaterialien nicht greifbar waren. Der Vf. hat erstaunlich umsichtig recherchiert und möglichst präzise Werkbenennungen in einem heute teilweise sehr schlecht greifbaren Repertoirebereich vorgenommen, wobei nur wenige Leerstellen verblieben. Dabei hat er sicherlich zutreffend die besondere Bedeutung des "Messias" von G. F. Händel als zentrale Quelle für die Gottesdienstmusik und die zeittypische Vorgehensweise herausgearbeitet: Aus unter Umständen ganz verschiedenen Werken wurde nach Art eines Pasticcios eine "Kirchenmusik" arrangiert. Charakteristikum der offensichtlich in Absprache zwischen Kantor Rex und Schleiermacher vorgenommenen Kompilationen war das zentrale Moment der Dialogizität zwischen Chor und Gemeinde mit oft mehreren Stellen für Gemeindegesang. Einen Fehler - wohl den einzigen! - macht der Vf., wenn er eine Bemerkung Schleiermachers über vierstimmigen Liedgesang im Rahmen von Ausführungen zum Wechselgesang zwischen Chor und Gemeinde dahingehend deutet, dass hier der Wechsel zwischen einstimmigem und vierstimmigem Gemeindegesang gemeint sei (136). Ohne dass es für das (waghalsige) Unternehmen vierstimmiger Gemeindegesang weitere Anhaltspunkte und in der Arbeit auch keine weiteren Ausführungen dazu gibt, taucht dieses Phantom im summarischen Schlusskapitel nochmals auf (479.484).

Der mit fast 90 Seiten größte Exkurs II behandelt Schleiermachers Arbeit in der Gesangbuchkommission und bietet die Auswertung der neu aufgefundenen Kommissionsprotokolle. Der Vf. konnte jetzt noch präziser als Seibt die Arbeit der Kommission und ihre jeweilige personelle Konstellation klären und die Beiträge Schleiermachers im Einbringen einzelner Lieder - vornehmlich aus dem Herrnhuter Umfeld - und Erarbeiten von Liedfassungen verifizieren, wobei manche Textfassungen auf den Liederblättern nun einem anderen Kommissionsmitglied zuzuweisen waren.

Das Wechselverhältnis zwischen Liederblatt-Textfassung und Gesangbuchfassung stellt sich nun komplexer dar, als von Seibt vermutet (253 ff.). Mit der vollständigen Wiedergabe der Protokolle im Anhang und einer vom Vf. erstellten Liste sämtlicher von Schleiermacher bearbeiteten Lieder (mit Verfasser- und Quellenangaben) ist somit die Genese des Berliner Gesangbuches von 1829 wissenschaftlich umfassend erschlossen, ein Meilenstein in der hymnologischen Forschung, welche sich dem ungeliebten Terrain der Gesangbücher dieser Zeit bisher kaum zu nähern wagte. Freilich ist nun noch deutlicher geworden, als von Seibt erhoben, dass die verbreitete Titulatur "Reformgesangbuch" im Sinne der Gesangbuchrestauration des 19. Jh.s hier nicht stimmt, da die Vorgehensweise der Kommission sich im Sinne des Rationalismus als deutlich "gebrauchsorientiert" präsentiert (261).

Exkurs III thematisiert in der Konkretion der faktischen Gottesdienstordnungen (mit ausgeführten Gebeten) Schleiermachers eigene agendarische Praxis an der Dreifaltigkeitsgemeinde als einer der ersten Unionsgemeinden. Auch hier wird der Befund äußerst differenziert (und die Ausführungen von Reich dazu teilweise korrigierend) erhoben in Bezug auf die verschiedenen Stadien in jenen liturgiepolitisch turbulenten Zeiten. Ausführliche Quellenzitate und Synopsen bieten eine eigene Dokumentation der agendarischen Konkretion und zeigen exemplarisch, was "Unionsagende" vor Ort de facto bedeuten konnte, zumal wenn ein solch kompetenter Liturg wie Schleiermacher mit seiner Neigung und Fähigkeit zum "Kompilieren, Komprimieren und Komponieren" (361) am Werke war.

Exkurs IV widmet sich schließlich der persönlichen Dimension von Schleiermachers Gottesdienstvorbereitung und -vollzug mit einem speziellen Blick auf seinen Predigtstil, soweit dies aus spärlichen Selbstzeugnissen und Bemerkungen von Zeitgenossen zu eruieren ist. Dabei weist der Vf. einen dreiphasigen Vorbereitungsprozess nach und entlarvt die Behauptung, Schleiermacher habe seine Predigten extemporiert, definitiv als Mär. Dem vermeintlichen Zwiespalt zwischen begeisterter Aufnahme seiner Predigten damals und der in den Druckfassungen belegten Nüchternheit und Abstraktion der Predigtsprache geht der Vf. behutsam nach und versteht es, gerade diesen Predigtstil als "localgerecht" plausibel zu machen (439 ff.).

Die Einzelbesprechung der ausgewählten Gottesdienste geht dem liturgischen Ablauf entlang und rekonstruiert so exakt den liturgischen Prozess. Bei allen Liedstrophen wird die konkrete Strophenwahl und Textfassung im Vergleich mit Vorlagen in zeitgenössischen Gesangbüchern und der (späteren) Fassung im Berliner Gesangbuch überprüft. Zahlreiche Doppelseiten beanspruchende Synopsen sind beigefügt. Dabei zeigt sich, dass Schleiermacher das Medium Liederblatt nutzte, um mit zahlreichen Textänderungen ad hoc den Gottesdienst als absolut stimmiges Sprachgeschehen durchzugestalten. Interessant ist, dass Kirchenmusik- wie Liedtexte oft stärker die biblisch-kirchlichen (AT!) und traditionell-dogmatischen Vorstellungen transportieren, während die Predigt auf deren Reproduktion konsequent verzichtet, so dass im Unterschied zu rationalistischer Einlinigkeit hier Komplementarität das liturgische "Ganze" konstituiert. Die Besprechung der Predigten bringt zunächst ein Referat von Aufbau und Inhalt, um dann theologische Leitgedanken und Akzente zu profilieren. Davon ausgehend kann in der Gesamtschau auf den Gottesdienst dann die inhaltliche Stringenz des Gesamtablaufs erhoben werden, ein in Ansatz wie Durchführung überzeugendes Verfahren.

Die historische Erschließungsleistung dieser Arbeit ist mit großem Respekt vor der differenzierenden Bewältigung immensen Materials zu würdigen. Ein methodischer Einwand richtet sich dagegen, dass die theologische Kritik an Schleiermachers Praxis nicht ebenso klar strukturiert wurde, sondern oft unvermittelt, auch mit stilistischen Brüchen und unklaren Pauschalbegriffen gepaart (z. B. "johanneische Theologie") hereinbricht, vornehmlich in den Zusammenfassungen am Ende der Abschnitte und Exkurse, wobei gerne Trillhaas mit seiner jetzt schon 70 Jahre alten Arbeit (Predigt und Lehre bei Schleiermacher, 1932) als Gewährsmann in Anspruch genommen wird. Auch die praktisch-theologische Reflexion im Neun-Seiten-"Schluss" ist dann unverhältnismäßig bescheiden und undifferenziert geraten.

So gesehen passt die Arbeit tatsächlich besser ins "Schleiermacher-Archiv" als in die Abteilung Liturgik des praktisch-theologischen Seminars. Es wäre aber schade, wenn aktuelle Fragestellungen wie "Gottesdienst als Gesamtkunstwerk" mit allen Gestaltungsmomenten bis hin zur Frage eines Gottesdienstprogramms (alias "Liederblatt") ohne differenzierende Reflexion auf diese bemerkenswerte historische Vorlage und ihre weitere praktisch-theologische Rezeption (z. B. in der "älteren liturgischen Bewegung") angegangen würden.