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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

443–445

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Engemann, Wilfried

Titel/Untertitel:

Personen, Zeichen und das Evangelium. Argumentationsmuster der Praktischen Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 394 S. m. Abb. gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 23. Geb. Euro 58,00. ISBN 3-374-02074-7.

Rezensent:

Christoph Müller

"Betrachtet man die Gesamtheit der Kultur sub specie semiotica, so heißt das nicht, Kultur sei nur Kommunikation und Signifikation, sondern es bedeutet, dass man sie gründlicher verstehen kann, wenn man sie unter semiotischen Gesichtspunkten betrachtet." So heißt es bei Umberto Eco (Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1991, 52).

W. Engemann ist einer der profiliertesten Pioniere in der Rezeption semiotischer Fragestellungen und Einsichten für die Theologie, insbesondere für die Praktische Theologie. Ein Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist es, plausibel zu machen, dass sub specie semiotica auch die "Kommunikation des Evangeliums" (die nicht nur auf Homiletik und Liturgik beschränkt wird) gründlicher verstanden und dann auch sachgemäßer und menschenfreundlicher praktiziert werden kann.

Dies soll von verschiedenen "Reflexionsfeldern" aus sichtbar werden. Um Reflexionen zur semiotischen Grundlegung von Kommunikation und Text-Hermeneutik kreisen die Beiträge des ersten Teils. Im Teil II liegt der Schwerpunkt auf der Analyse der Zeichen bzw. der Zeichenzusammenhänge und -funktionen, ohne die auch die Kommunikation des Evangeliums nicht möglich ist. Im Teil III wird die Bedeutung der Person fokussiert (mit Bezugnahmen zur Transaktionsanalyse, zur Praktischen Philosophie und zu charismatisch-evangelikaler Frömmigkeit).

Im Sammelband hat der Autor 16 Referate bzw. Aufsätze zusammengestellt, die in der Zeit zwischen 1986 und 2002 gehalten bzw. publiziert worden sind. Sie sind hier wieder abgedruckt, zum Teil (unterschiedlich stark) bearbeitet, zum Teil auch erstmals veröffentlicht. Wiederholungen sind nicht gestrichen worden, um die Verständlichkeit der jeweiligen Argumentationen nicht zu schmälern. Ein detailliertes Personen- und Sachregister und das Quellenverzeichnis sollen es ermöglichen, sich rasch zu orientieren und Querverbindungen herzustellen.

Die Arbeiten von E. sind vielfältig rezipiert worden. In der Einleitung (15-34) unternimmt es E., solche Rezeptionen (die auch für die Auswahl der Aufsätze leitend waren) unter einigen für ihn zentralen Aspekten aufzunehmen und Missverständnisse richtig zu stellen. Diesem Ziel dienen auch einige Erweiterungen der abgedruckten Aufsätze. Damit werden Argumente präzisiert und die Diskussion weitergeführt.

Semiotik wird von E. primär als allgemeine Kommunikationstheorie bzw. -wissenschaft ins Spiel gebracht. Gewiss: Kommunikation ist mit semiotischen Kategorien und Fragestellungen nicht voll erfassbar - aber ohne Zeichengebrauch ist sie unmöglich. Insofern ist nichts semiotisch exterritorial; auch dogmatische Aussagen und Bekenntnisse sind es nicht.

Unter verschiedenen Aspekten zeigen die Arbeiten, wie fruchtbar es ist, in der Theologie mit Kategorien wie (z. B.) "Zeichen", "Enzyklopädie", "Code", "Kommunikationsumstand" zu arbeiten. Dies gilt nicht nur für die Praktische Theologie. Semiotische Fragestellungen gewinnen auch im Blick auf systematisch-theologische und exegetische Zusammenhänge hohe Relevanz (E.s Laufbahn begann mit einer Repetentur für Altes Testament und Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Leipzig - und das exegetische Interesse bildet einen wichtigen Zug in seiner Theologie).

Der "Zeichen"-Begriff erscheint umfassend: Alles kann für jemanden in bestimmter Hinsicht zum Zeichen für etwas werden. Dabei folgt E. dem "Axiom" Ecos, wonach "die aus unserem Verstehen und Kommunizieren erstehenden Botschaften ... immer Resultat eines komplexen signifikatorischen, also interpretatorischen Prozesses (sind), in dessen Ablauf Quellen, Sender und Sendecodes, Signale und Kanäle, Botschaften, Empfänger und Empfangscodes sowie Kommunikationsumstände gleichermaßen zu berücksichtigen sind" (197).

Texte beinhalten deshalb nicht "in sich" bedeutungsvolle Zeichen (z. B. angeblich kontextunabhängige "Symbole"), die von Lexika aus decodiert werden könnten. Texte werden nur lesbar im Kontext von "Enzyklopädien". Eco versteht darunter unabschließbare semantische Systeme, mannigfache und verwirrende Sammlungen von Zeichenzusammenhängen aller Art. Mit dem Zeichengebrauch bewegen wir uns immer schon in solchen Systemen, setzen sie voraus, erweitern sie und kreieren sie neu. Welche Enzyklopädien sind jeweils im Spiel? Welche werden ausgeblendet bzw. ausgeschlossen?

Ohne solche Bezugnahme auf Enzyklopädien sind Zeichen ebensowenig lesbar wie ohne bestimmte "Codes". Codes sind nicht nur sprachliche Normen, sondern auch Wertskalen, Überzeugungen, wissenschaftliche und ästhetische Kanones. Sie sind zugleich perspektivisch, partiell und kontextuell. Durch alle Beiträge zieht sich ein fundamental-theologisches Interesse von E.: Er will aufzeigen, dass es keine Kommunikation des Evangeliums gibt, ohne dass die daran Beteiligten sich gemeinsam darin üben, angemessene (von der "Gestalt" und den Kontexten der Texte evozierte, aber möglicherweise noch nicht in ihnen enthaltene!) Codes für das Verstehen der grundlegenden Texte zu entdecken. Zu deren Eigenart gehöre es, dass sie eigenständiges Verstehen aus neuen Kontexten heraus ermöglichen und erfordern, so dass neue "Texte" entstehen. Das heißt für die Predigt, dass sie ebenso einen solchen neuen Text darstellt wie das, was die Hörer und Hörerinnen dann aus diesem Text kreieren - sofern es eine für ihr Leben bedeutungsvolle Botschaft werden soll. "Die Kompetenz der Gemeinde darf also nicht auf die ihr von Luther zugesprochene Fähigkeit zur Beurteilung der Lehre beschränkt werden, sondern erstreckt sich auch auf die Tätigkeit der Gemeinde, sich im buchstäblichen Sinn eigene Verse auf die Predigt zu machen" (138). Dabei sind die Kommunikationsumstände mit-entscheidend. Dies unterstreicht nochmals den Sachverhalt, dass die komplexen Zeichenprozesse nur um den Preis des "Text-Tods" bzw. der Beliebigkeit auf "Inhalte" bzw. "Aussagen" reduziert werden können. Das gegen E. öfters erhobene Beliebigkeitsverdikt stellt also nicht nur ein grobes Missverständnis dar; es lässt auch darauf schließen, dass elementare kommunikationstheoretische Sachverhalte missachtet werden.

Durch die Beachtung der wechselseitigen ("dialektischen") Prozesse von Rezeption und Produktion und der Kommunikationsumstände (die präzisere Einsichten ermöglichen als das meist verwaschene Reden von "Situation") wird eine Hermeneutik auf die Füße gestellt, die meint, die Bedeutsamkeit des zu Verstehenden allein an eine "Sache" oder "Aussage" binden zu können.

E. bezieht sich primär und fast ausschließlich auf die Semiotik Ecos. Ch. S. Peirce wird erwähnt, aber nicht rezipiert, was gerade im Blick auf die von E. skizzierten "Szenen einer Ehe" von Semiotik und Theologie (167 ff.) spannend werden könnte.

Der Versuch, "klassische theologische Exegese", Literaturwissenschaft und rezeptionsästhetisches Interesse der Praktischen Theologie in ein Phasenmodell der "Interpretation und Produktion von Texten" einzuzeichnen (Abb. 237), ist sehr anregend - und gibt zu weiteren Fragen Anlass, etwa derjenigen von noch weiterreichenden und mehrere Phasen überspringenden "wilden" Wechselbeziehungen - und den entsprechenden hermeneutischen Konsequenzen, auch für die Exegese (und die von E. unerschrocken identifizierte "Eisegese"). Das Problem des "Spielraums", den Texte offen lassen, ist mit dem hartnäckigen Verweis auf ihren "Idiolekt" erst in bestimmter Weise gestellt. Ebenso drängend wird das Fragen nach (auch semiotischen!) Analysen und Kriteriologien im Blick auf die Rezeptionsprozesse.

Gerade weil E. sich in manchem sehr pointiert äußert und sich nicht in nebulöse begriffliche Selbstbezüglichkeiten (vgl. 70) und eine Schmuggelhermeneutik flüchtet, stellen sich entsprechende Fragen an ihn selber. Ich denke z. B. - im Zusammenhang der "Wir-alle-Syntax" (96 f.) - an nicht so seltene Verallgemeinerungen ("der Mensch"), imaginäre Subjekte ("der Glaube", "die Bibel") und die exklusive Signifizierung/Hörer/ - wo es doch in der überwiegenden Mehrheit Hörerinnen sind. Oder: wie verhalten sich die merkwürdige Rede von der "Alternativenlosigkeit des Glaubens" (49.358, vgl. auch 222) und die zahllosen "nicht ..., sondern"-Argumentationen zur (überzeugenden) Polemik gegen binäre Codes, Eindeutigkeitsillusionen und falsche Alternativen?

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