Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2004

Spalte:

441–443

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Conrad, Joachim

Titel/Untertitel:

Liturgie als Kunst und Spiel. Die Kirchliche Arbeit Alpirsbach 1933-2003.

Verlag:

Hamburg-Münster-London: LIT 2003. 464 S. = Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie, 8. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-8258-6792-7.

Rezensent:

Thomas Bergholz

Bücher von Insidern sind ja oft etwas Gefährliches. Entweder sie verlieren sich in end- und kritiklosen Eulogien, so dass das Lesen eines solchen Werkes nur für gleichgesinnte Insider einen Genuss darstellt. Für den Rest der Menschheit sind sie dann meist grenzenlos langweilig. Oder es handelt sich um angebliche oder echte Enthüllungsschriften. In diesem Fall kann die Lektüre für den Außenstehenden zwar spannend sein, aber die Informationen eines solchen Werkes sind, gelinde gesagt, oft mit Vorsicht zu genießen.

Im vorliegenden Werk ist dem Autor das seltene Kunststück gelungen, sicher durch diese Enge wie zwischen Skylla und Charybdis hindurch zu schiffen. Joachim Conrad, seit 20 Jahren in der Kirchlichen Arbeit Alpirsbach aktiv, seit einiger Zeit auch Mitglied im Leitungskreis, ist seit seiner lesenswerten (und vor allem: lesbaren!) Dissertation über den Vater der evangelischen Singbewegung, Richard Gölz, ein intimer Kenner der Materie. Darüber hinaus hat er sich offensichtlich in jahrelangen Quellen- und Archivstudien ein Detailwissen angeeignet, das alle bisherigen Veröffentlichungen zu diesem Kapitel der Kirchengeschichte des 20. Jh.s weit übertrifft. Das Buch zitiert erfreulich oft die bisher schwer zugänglichen, z. T. privaten Archive der Alpirsbacher Gründerväter und die Sitzungsprotokolle des Leitungskreises, ohne zu einer unlesbaren Quellensammlung zu verkommen. So wird ein exaktes Bild der bewegten Geschichte dieser "Kirchlichen Arbeit" gezeichnet und zugleich mit vielen hartnäckigen Gerüchten und Trugbildern aufgeräumt. Dabei mag auch manch lieb gewonnene Selbsttäuschung oder Legende, z. B. über den Doktor-Titel des nach Gölz prägenden Spiritus Rector von Alpirsbach, Friedrich Buchholz, im harten Licht der Tatsachen dahinschwinden (Buchholz hatte seinen Titel in Kunstgeschichte schon nach einem Jahr wegen Plagiatsvorwürfen zurückgegeben, erhielt aber später den theologischen Ehrendoktor der Bonner Fakultät), aber wie so oft wirkt solch eine Offenheit befreiend.

Der Band gliedert sich in einen Text- und einen Registerteil, die fast gleich stark sind. Im Registerteil wird versucht, ein umfassendes Bild aller (!) Namen, Orte und Veranstaltungen aus den vergangenen 70 Jahren der Kirchlichen Arbeit Alpirsbach zu liefern. Schon dieses Register allein ist eine solche Fundgrube von 70 Jahren deutscher Theologie- und Kirchengeschichte, dass es die Anschaffung des Bandes lohnt - wenn man die Namen der Teilnehmer und Referenten der Kirchlichen Wochen (heute: Gregorianische Wochen) überfliegt, liest sich das streckenweise wie ein Who is who der Bekennenden Kirche und der Dialektischen Theologie.

Allerdings liegt in dieser Materialfülle auch die einzige Schwäche des Bandes: Denn jede quellengestützte Edition kann nur so gut sein, wie es die Qualität der Quellen zulässt. Und beim Zusammentragen von Teilnehmerlisten von über 350 Tagungen aus 70 Jahren ist natürlich mit einer gewissen Fehlerquote zu rechnen (z. B. in den Namenslisten, wie der Rez. aus eigener Anwesenheit belegen kann). Das alles schmälert allerdings nicht das Verdienst, diese Zusammenstellung unternommen zu haben, und auch nicht den Wert des Registerteils.

Der Textteil ist streng chronologisch aufgebaut und folgt zunächst den für die KAA in ihren ersten Jahrzehnten prägenden Gestalten: Richard Gölz, der die KAA und die Evangelische Landeskirche nach dem Debakel um die Installation eines festen Konventes in Bebenhausen 1946 verließ und orthodoxer Priester wurde. Friedrich Buchholz, der schon in den 1930er Jahren der musikalische Kopf der KAA wurde, sich ganz in die gregorianische Semiologie versenkte und nach dem Krieg bis zu seinem Tod 1967 als Präses fungierte. Karl Rahner, Kirchenmusikdirektor aus Saarbrücken, der als "Archicantor" die Singgewohnheiten ganzer Generationen von "Alpirsbachern" geprägt hat.

Mit dem frühen Ausscheiden bzw. Tode dieser Gründerväter geriet die KAA in eine Phase, die erst im Rückblick als eine schleichende, lang anhaltende Krise gedeutet werden kann. Die Entscheidung von Gölz und Buchholz, auf eine deutsche Gregorianik mit den ältesten erreichbaren Melodien zu setzen, war zu einer Zeit gefallen, als einerseits das ökumenische Klima so unterkühlt war, dass im evangelischen Bereich an lateinische Gregorianik nicht zu denken war - trotz des oft und gern übersehenen Votums Luthers aus der Vorrede zur Deutschen Messe, wo er sich ausdrücklich für die Beibehaltung des lateinischen Gottesdienstes ausspricht. Andererseits steckte die moderne Semiologie, d. h. die wissenschaftliche Erforschung des frühmittelalterlichen Neumenmaterials, zu Buchholz' Zeiten erst in den Kinderschuhen: Ihre Anfänge kann man auf das Jahr 1954 datieren; einen breiten Forschungsfortschritt erreichte sie erst im Laufe der 1960er und 1970er Jahre.

Was bis heute den eigentlichen Schatz der KAA darstellt - das "Alpirsbacher Antiphonale", die Stundengebete und Messen zu den Festen und festlosen Zeiten des Kirchenjahres in der Bearbeitung durch Friedrich Buchholz -, das wurde plötzlich zum Problem. Unproblematisch sind lediglich die deutschen Psalmtöne. Aber das kunstvollere Material der Antiphonen, Responsorien sowie der Ordinariums- und Propriumsstücke führen die KAA in ein Dilemma: Einerseits stellt ihre Fassung durch Buchholz ein originäres Kunstwerk dar (es sind mitunter genial zu nennende Würfe darunter!), aber auf der anderen Seite sind diese Bearbeitungen zu Teilen nach dem heutigen Forschungsstand zumindest fragwürdig, manche vielleicht unhaltbar.

Die Frage, wie mit dem Buchholzschen Erbe umzugehen sei, verstrickte die KAA in jahrzehntelange interne Grabenkämpfe, was dazu führte, dass ihre Außenwirkung, die in den beiden Nachkriegsjahrzehnten erheblich gewesen war (man denke nur an das Allgemeine Evangelische Gebetbuch oder die Alpirsbacher Complet, die in vielen Universitätsgemeinden, Kirchenchören und Rüstheimen zum festen Repertoire gehörte), seit den 1970er Jahren kontinuierlich sank.

Erst mit dem neuen Jahrtausend scheint sich eine Lösung dieses Knotens anzudeuten: Wichtige Richtungsentscheidungen wurden getroffen, so dass die KAA sich der veränderten kirchlichen Situation und Forschungslage stellt: Die Buchholzschen Arbeiten behalten ihren Wert, sind aber nicht mehr "allein seligmachend". Es wird an Gebrauchsversionen des Alpirsbacher Antiphonale gearbeitet, die Texte werden dafür auf die Fassung der Luther-Bibel 1984 umgestellt und die Buchholzschen Bearbeitungen am Stand der Semiologie überprüft; aber auch das Singen lateinischer Stücke, vor allem der semiologisch hoch problematischen Ordinariums- und Propriumsgesänge, ist nicht mehr ausgeschlossen.

Dem Vf. kommt das Verdienst zu, diese oft nahe an Verwerfungen heranreichenden Entwicklungen aus sieben Jahrzehnten präzise und ohne Sentiment nachzuzeichnen. Er lässt neben den Zeitzeugen vor allem die Quellen sprechen. Und trotzdem ist dieses Buch weit mehr als eine Vereinschronik oder ein Quellenband. Es stellt für die frühen Jahrzehnte die Frage nach der Hochkirchlichen Liturgischen Bewegung (Stichworte: Berneuchen, Michaelsbruderschaft) - und kommt mit Gölz, Buchholz und den anderen, von der Dialektischen Theologie geprägten Begründern der Arbeit zu einer deutlichen Ablehnung dieser Richtung.

Für die Gegenwart und Zukunft wirft es die Grundsatzfrage nach deutscher Gregorianik auf. Die simplen, ja minimalistischen Formen, wie sie im Evangelischen Gesangbuch (oder auch im Tagzeitenbuch der Michaelsbruderschaft) vorkommen, diese Versionen deutscher Gregorianik, die auf den Grundsätzen des Münsterschwarzacher Antiphonales und der Arbeit Godehard Joppichs beruhen, stellen im Grunde nur eine, eng begrenzte Möglichkeit deutscher Gregorianik dar. - Die Alternative dazu ist immer noch und wieder "Alpirsbach".