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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

435–438

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Klinger, Susanne

Titel/Untertitel:

Status und Geltungsanspruch der historisch-kritischen Methode in der theologischen Hermeneutik.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 352 S. gr.8 = Forum Systematik, 15. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-17-017371-5.

Rezensent:

Eckhard J. Schnabel

Das vorliegende Werk wurde im Wintersemester 2000/2001 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Diese Standortanzeige ist in zweierlei Hinsicht wichtig: Die Gattung "Dissertation" beschränkt zumeist, wie auch in diesem Fall, den Leserkreis auf Fachkollegen, und die konfessionelle Beheimatung lässt nicht unbedingt eine Behandlung vor allem protestantischer Hermeneutikentwürfe erwarten.

K. referiert in der Einleitung (13-21) die Diskussionslage in der Frage nach der Geltung der historisch-kritischen Methode, die in den vergangenen Jahrzehnten ins Wanken gekommen ist. Die Pluralität neuer methodischer Ansätze - psychologische, rhetorische, narrative, reader-response, strukturale, kanonkritische, kulturtheoretische, feministische, befreiungstheologische Modelle - und die "Pluriformität differierender methodischer Zugänge" haben "zu einer komplexen und unübersichtlichen Forschungssituation geführt" (14), die dadurch erschwert wird, dass der historisch-kritische Umgang mit den biblischen Texten kein "historisch-theologisches Gesamtverständnis" sicherstellen kann, "das sowohl den Erfordernissen ihrer wissenschaftlichen Auslegung als auch dem Anspruch ihrer gläubigen Verwendung im Raum der Kirche Rechnung trägt" (15, mit Berufung auf K. Müller, NHthG 2 [1991], 37). K. glaubt, dass sich die Monopolstellung, welcher sich die historisch-kritische Exegese zurzeit noch an deutschen theologischen Fakultäten erfreut, nicht mehr lange halten lässt (15).

K. gliedert ihre Studie, die den Diskussionsstand systematisch aufarbeiten soll, in drei Kapitel. Das erste Kapitel ("Vorstrukturierung der Problemstellung", 23-146) skizziert zunächst in Teil A. die Problemlage, wie sie in der historisch-kritischen Diskussion der Auferstehungstexte zu Tage tritt (23-68). Die Leitfrage nach der Auferstehung Jesu soll verhindern, dass die Darstellung ganz in eine abstrakte Methodendiskussion abgleitet (20), zu-mal die Auferstehungsfrage den Schnittpunkt von fundamentaltheologischen, dogmatischen und exegetisch-historischen Fragen markiert. K. skizziert die erkenntnistheoretischen und methodologischen Voraussetzungen der Bestreitung der Historizität der Auferstehung Jesu seit H. S. Reimarus (24-30) und vor allem bei R. Bultmann (30-48), ehe sie in einem dritten Abschnitt die historisch-genetischen Erklärungsmodelle von W. Marxen, R. Pesch, E. Schillebeeckx und I. Broer (50-57) sowie die "traditionelle Erklärungsrichtung" der Argumentation von G. Essen, H. Kessler, J. Moltmann und W. Pannenberg (57-68) behandelt. Die Kritik der "traditionellen Erklärungsrichtung" an den geschichtsimmanenten Positionen beinhaltet eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden epistemologischen Prinzipien und mit den methodologischen Kategorien des Geschichtsbegriffs der historisch-kritischen Methoden. Dieser Thematik ist Teil B. gewidmet (68-146). In drei Abschnitten untersucht die Autorin 1. die theologische Hermeneutik und die historisch-kritische Methode in der Zeit nach Bultmann (die neue Frage nach dem historischen Jesus; die Fusion von Sprachhermeneutik und Theologie bei G. Ebeling und E. Fuchs; die kritische Erweiterung der Hermeneutik durch die Universalgeschichte bei W. Pannenberg, durch die Überlieferungsgeschichte bei T. Rendtorff, und durch politische Ansätze bei J. Moltmann, E. Schillebeeckx, N. Schiffers, J. B. Metz, 68-86); 2. die historische Kritik in eschatologischer Perspektive bei J. Moltmann (86-103); 3. den Primat der Tradition bei P. Stuhlmacher (103-145).

K. schließt aus ihrer Analyse der hermeneutischen Ansätze von R. Bultmann, J. Moltmann und P. Stuhlmacher, dass die historisch-kritische Exegese, wenn sie interdisziplinär verantwortet werden soll, eine wissenschaftstheoretische Grundlegung benötigt, die mit den Geschichts-, Sozial-, Literatur- und Sprachwissenschaften vereinbar ist (146). Diesem Projekt ist, jedenfalls teilweise, das zweite Kapitel gewidmet ("Theologie zwischen analytischer Philosophie, geisteswissenschaftlicher Hermeneutik und kritischer Gesellschaftstheorie", 147-250). Teil A. enthält "Vorüberlegungen zur Wissenschaftlichkeit der Theologie" (147-172). K. insistiert, dass die historisch-kritische Exegese von spezifischen geisteswissenschaftlichen Voraussetzungen bestimmt wurde und wird und deshalb im Rahmen des Satzes von W. Dilthey, dass die historische Vernunft immer auch ihre eigene Kritik beinhaltet, hinterfragt werden kann und muss. Die "Vorüberlegungen" werden von K. im Gespräch mit W. Pannenberg (Teil B., 172-223) und mit G. Sauter (Teil C., 223- 248) qualifiziert und vertieft.

Das dritte Kapitel ("Geschichte als letzter Begründungsrahmen der Theologie?", 251-320) will die aufgezeigten "Problemüberhänge" systematisch aufnehmen und "Richtmaße" abstecken und "Kriterien" formulieren, die eine "geltungstheoretische Verortung historisch-kritischer Exegese" benötigt (21). Die Diskussion um W. Pannenbergs universalgeschichtlichen Entwurf und die damit verbundene Wissenschaftstheorie aufnehmend hält K. fest, dass die notwendige Korrektur und eine fruchtbare Weiterführung nur im Gespräch mit Linguistik und Pragmatik sinnvoll ist (261). K. moniert, dass W. Pannenbergs historisch-hermeneutischer Ansatz im Zusammenhang seiner Prämisse des theonomen Geschichtsbegriffs und im Zusammenhang seiner empirischen Geltungssicherung (z. B. des Osterglaubens) und der theologischen Relevanz, die der historischen Methodik zugesprochen wird, in einen Zirkelschluss gerät (315). In einem erneuten Abschnitt zu den Auferstehungstexten (278-286) illustriert K. die Möglichkeiten und Grenzen historischer Vergegenwärtigung im Zusammenhang von Erkenntnissen der Sozial-, Literatur- und Sprachwissenschaften.

Die Autorin kommt zu dem "zweideutigen" (319) Schluss, dass einerseits am Deutungsmonopol der historisch-kritischen Methode (im Blick auf die Ostertexte) nicht festgehalten werden kann, dass andererseits das christliche Osterbekenntnis aber auch nicht "im zirkulären Bedingungsverhältnis von normativem Geltungsanspruch der Tradition, kritischem Methodenbewußtsein und beanspruchter historisch-hermeneutischer Vermittlung der Osterbotschaft auf der Basis eines ... modifizierten Geschichtsverständnisses" gerettet werden kann (316). Die konsequente historisch-kritische Analyse der Auferstehungstexte zeigt nach K., dass die urchristliche Ostererfahrung "auch in einer Pluralität und Pluriformität von Redeweisen" begegnet (ebd.). K. bezeichnet es als "schief" (ebd.), wenn die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug der Texte auf die Frage nach den historischen Bezügen der bezeugten Ereignisse eingegrenzt wird: die Vergangenheit könne immer nur "imaginiert" werden, weil in jeder historischen Darstellung res factae und res fictae zusammenfließen (318). Linguistische und literaturtheoretische Überlegungen führen K. zur These vom "inspirierten Leser" (U. Körtner). Sie plädiert für eine Ambivalenz, "die das Verhältnis zwischen Theologie und Historie offenläßt" (319), will aber nicht resignieren. Sie glaubt, dass sich "die Konturen einer theologischen Hermeneutik, die der Textualität und Kontextualität der biblischen Texte gleichermaßen gerecht wird und synchronische und diachronische Fragestellungen miteinander vermittelt" (ebd.), in der gegenwärtigen Methodikdiskussion abzeichnen.

K.s Darstellung und Bewertung hermeneutischer und exegetischer Positionen ist durchweg kompetent, lehrreich und fair. Auch wenn man das meiste schon irgendwo gelesen hat: In der aktuellen hermeneutischen Diskussion ist es hilfreich, wenn man in differenziert-konzentrierter Weise an einflussreiche Grundpositionen erinnert wird. Die Resultate der Studie entsprechen - vielleicht unfreiwillig, entsprechende Reflexionen sucht man vergebens - durchaus dem Projekt der Postmoderne, das der menschlichen Vernunft keine universalen Wahrheiten oder Erkenntnisse mehr zutraut, auch nicht im Blick auf die Beschreibung historischer Ereignisse, und deshalb am Ende nur noch den "Leser" mit der je von ihm "gefundenen" (oder "empfundenen") Wahrheit antrifft.

Die aktuelle hermeneutische Diskussion kann angesichts der postmodernen Projekte auch in der Theologie nicht mehr allein mit den Namen R. Bultmann, J. Moltmann, W. Pannenberg und G. Sauter erfasst werden. Auch aus der Linguistik und Literaturtheorie erhobene Einsichten sind kritisch zu hinterfragen, was K. natürlich weiß, aber am Ende ihrer Studie nicht mehr leistet. Hier zeigt sich auch die Problematik ihrer Begrenzung auf Beiträge aus dem deutschen Sprachraum (19). Hätte K. die angelsächsische Literatur mit einbezogen, hätte sie merken müssen, dass entgegen ihrer Behauptung (18) die neuere hermeneutische Diskussion in der Tat bereits systematisch aufgearbeitet wurde.

Leider hat K. die beiden großen Studien von A. C. Thiselton (The Two Horizons: New Testament Hermeneutics and Philosophical Description with Special Reference to Heidegger, Bultmann, Gadamer and Wittgenstein. Exeter: Paternoster 1980; New Horizons in Hermeneutics. The Theory and Practice of Transforming Biblical Reading. London: Marshall Pickering 1992) unbeachtet gelassen oder übersehen. Hätte K. die Studie von K. J. Vanhoozer (Is There a Meaning in This Text? The Bible, the Reader, and the Morality of Literary Knowledge. Grand Rapids: Zondervan 1998) gekannt, wäre sie im Blick auf die Möglichkeit linguistisch und literaturtheoretisch verantwortlicher und hermeneutisch-wissenschaftstheoretisch verantworteter historischer Erkenntnis weniger skeptisch. Wenn man dem Anspruch der "gläubigen Verwendung" der biblischen Texte als heiliger Schrift im Raum der Kirche Rechnung tragen will (15), kann sich gerade eine forschungshistorische Arbeit eine Beschränkung auf die deutschsprachige Diskussion heute nicht mehr leisten.