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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

428–431

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Mulsow, Martin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance. Dokumentation und Analyse der Debatte um die Datierung der hermetischen Schriften von Genebrard bis Casaubon (1567-1614).

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. X, 405 S. gr.8 = Religion und Aufklärung, 9. Kart. Euro 59,00. ISBN 3-16-147778-2.

Rezensent:

Anja Hallacker

In seinem Todesjahr, 1614, erschien in London die Schrift De rebus sacris et ecclesiasticis exercitationes XVI des französischen Protestanten Isaac Casaubon, ein umfangreiches Werk mit einem wenige Seiten umfassenden Exkurs, der das in der Renaissance viel diskutierte Corpus Hermeticum als spätantike Fälschung einer vermeintlich uralten ägyptischen Weisheit entlarvte. Für spätere Renaissanceforscher und -forscherinnen genügte dies, um Casaubon nicht nur zum Urbild des philologischen Kritikers zu stilisieren, sondern mit ihm auch die Renaissance enden zu lassen.

Martin Mulsow hat nun die verdienstvolle Aufgabe übernommen, die bisher kaum bekannte Debatte um die Datierung des Corpus Hermeticum vor Casaubon fachkundig zu dokumentieren und zu analysieren. Zum einen wird in einer Anzahl von Texten renommierter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die im späten 16. Jh. geführte Diskussion über das Corpus in ihren philosophischen Kontext eingebunden. Den Lesenden werden zudem in einem Anhang die für diese Diskussion grundlegenden lateinischen Textabschnitte zur Verfügung gestellt. Zum anderen versammelt der komfortable Band die wichtigsten Forschungsaufsätze der letzten Jahrzehnte zu diesem Themenkreis und gibt so zugleich einen Einblick in die internationale Renaissanceforschung. Die italienisch verfassten Texte wurden von Angelika Baader und Elisabeth Blum ins Deutsche übertragen, die englischsprachigen Beiträge sind bis auf eine Ausnahme im Original abgedruckt.

M. stellt zwei Texte von Frederick Purnell Jr. ins Zentrum des Bandes: Der erste, Francesco Patrizi and the critics of Hermes Trismegistos, erschien bereits 1976 und ist hier erneut abgedruckt. Purnell präsentiert die Datierungsdebatte in Frankreich und Italien am Ende des 16. Jh.s und relativiert damit den Blick auf Casaubon als den entscheidenden Wendepunkt der hermetischen Tradition. Seiner Ansicht nach beginnt die Diskussion mit Gilbert Genebrards Chronographia (1567/1580). In den 80er Jahren des 16. Jh.s werden die in Paris diskutierten Argumente von Teodoro Angelucci in die Debatte um die neue Naturphilosophie zwischen den Angehörigen der Universität Padua und der Akademie in Venedig eingebracht. Sie stehen im Kontext der für diese Zeit entscheidenden Frage nach der Autorität und Authentizität gelehrten Wissens, seiner Generierung und Verwaltung sowie der Verbindlichkeit von Traditionen. In einem zweiten, hier erstmals veröffentlichten Aufsatz, A Contribution to Renaissance Anti-Hermeticism: The Angelucci-Persio Exchange, vertieft und aktualisiert Purnell seine Forschungen zur Datierungsdebatte im Blick auf Genebrard, Patrizi, Muti, Angelucci und Persio. Die entscheidenden Textpassagen zur Frage der Datierung aus den Werken dieser Autoren sind im Anhang nachlesbar, darunter zwei von Purnell entdeckte Briefe von Angelucci und Persio. M. beleuchtet die beiden zentralen Aufsätze, indem er den Kontext der italienischen Datierungsdebatte auffächert. Im Blick auf die Auseinandersetzung um Aristotelismus, Platonismus, Pythagoreismus und Lullismus wird erklärbar, warum die philologische Kritik des Corpus Hermeticum von einigen Gelehrten ignoriert werden konnte: Den Schriften des Corpus wird, autorisiert durch ihr hohes Alter und dasjenige ihrer Inhalte, ein Wahrheitsgehalt zugeschrieben, der durch philologische Kritik kaum angreifbar ist. In Anlehnung an Frances Yates stellt M. die Frage, ob der Rückgriff auf die bereits durch die Kritik diskreditierten Texte als reaktionär zu bezeichnen ist, wodurch dann ein reaktionärer Hermetismus vor 1600 zu konstatieren wäre.

Die im Zentrum des Bandes stehenden Texte werden von vier Aufsätzen zu Hermetismus als Ideologie und zum intellektuellen Ambiente der Debatte flankiert, die das weitere Umfeld der Datierungsdebatte skizzieren. Cesare Vasoli beschreibt in Der Mythos der "Prisci Theologi" als "Ideologie" der "Renovatio" die Traditionsbildung im Kontext der prisca theologia als ein ideologisches Muster und verfolgt diese Spur ausgehend von der spätbyzantinischen Kultur über Georgios Gemistos Plethon und seinen Schüler Basilius Johannes Bessarion bis zu Ficino. Die Schriften des Corpus Hermeticum, die Ficino ebenso übersetzt wie die für die spätbyzantinische Kultur wichtigen Oracula chaldaica, treten als Zeugen einer uralten Weisheit neben das Christentum. Abseits jeder philologisch-kritischen Datierung werden sie als vorchristliche Offenbarungen einer genuin christlichen Wahrheit gelesen. Dass auch aristotelisch geschulte Theologen nicht gegen derartige Ideologien gefeit sind, zeigt Maria Mucillo mit ihrem Beitrag Der scholastische Hermetismus des Annibale Rosselli und die Trinitätslehre. Der kalabresische Franziskaner Roselli verfasste während eines Aufenthaltes im Kloster Monte Santo bei Todi einen umfangreichen scholastischen Kommentar zu den hermetischen Hauptschriften Pymander und Asclepius, der 1585 erstmals gedruckt wurde. Roselli hoffte, eine Instanz gefunden zu haben, vermittels derer sich die Streitigkeiten innerhalb des Christentums schlichten ließen. Nancy G. Siraisi erschließt mit Hermes Among the Physicians einen weiteren Diskussionskreis, der die Autorität des Corpus Hermeticum hinterfragt. In den Medizinerzirkeln von Padua steht die Frage nach dem Beitrag der ägyptischen Weisheit zur Heilkunst im Zentrum, der sich nicht zuletzt an der Authentizität des Corpus bemisst. In Padua wirkt nicht zuletzt Francesco Piccolomini, den Sandra Plastina unter dem Titel Concordia discors als einen Vermittler aristotelischer und platonischer Philosophie beschreibt. Auch hier ist es der Versuch, eine alles umfassende göttliche Ordnung des Wissens zu etablieren, der christliche, jüdische und heidnische Traditionen zusammenführt. Ist die ihnen gemeinsame Wahrheit als solche anerkannt, dient sie als verbindendes Element theologischer und naturphilosophischer Welterklärung.

Die Konsequenzen der Datierungsdebatte und die aus ihr resultierende Frage nach dem Ende des Hermetismus sowie der ihn stützenden Renaissancephilosophie beleuchten abschließend drei weitere Texte. Anna Laura Puliafito Bleuel lenkt den Blick nochmals auf die Hermetische[n] Texte in Francesco Patrizis Nova de Universis Philosophia. Patrizi nutzt die Schriften des Corpus Hermeticum, um gegen die kirchliche Autorität und die Einzigartigkeit der christlichen Offenbarung einen philosophisch-wissenschaftlichen Zugang zur Wahrheit zu etablieren. Er ist ganz im Sinne der prisca-sapientia-Tradition weniger an philologischen Argumenten interessiert als an einer Ordnung und Vermittlung verschiedener Zugänge zu der einen, vielfach offenbarten göttlichen Weisheit. Patrizis Immunität gegen Datierungsfragen liegt in seiner Faszination an einer Weisheit begründet, die nicht nur durch ihr Alter eine hohe Authentizität gewinnt, sondern speziell durch ihre überzeitliche Relevanz. M. zeigt, dass auch Antonio Persio, der im Zuge der Datierungsdebatte vom Corpus Hermeticum abrückt, sich der "Philosophia italica" als reduzierte[r] prisca-sapientia-Ideologie zuwendet. Sein Interesse ist - wie das Patrizis und vieler anderer - in den Dienst einer umfassenden neuen Naturphilosophie gestellt, die als Schlüsseldisziplin einer allgemeinen Reform des Wissens dienen konnte. Mit dieser These unterstreicht M. nochmals den Tenor des gesamten Bandes: In ihren zeitgenössischen Kontext gestellt, gewinnt die Datierungsdebatte einerseits eine neue Dimension als Teil der prisca-sapientia-Tradition, andererseits verliert die Neu-Datierung des Corpus Hermeticum auf die Spätantike ihre Schärfe und Einmaligkeit. Isaac Casaubon, der schließlich im Mittelpunkt des berühmten Textes von Anthony Grafton Protestant versus Prophet (erstmals erschienen 1983, übersetzt und erneut abgedruckt von M. Mulsow) steht, hatte in seiner gegen Cesare Baronio gerichteten Schrift gleichermaßen ideologische Gründe, die hermetischen Texte zu diskreditieren, wie deren Verteidiger Gründe hatten, diese Einwände zu ignorieren. Das Streben nach reiner Philologie und wissenschaftlicher Redlichkeit stand wohl nicht an erster Stelle.

M. legt mit diesem Band die Grundlage für eine Neubewertung der Datierungsdebatte vor dem Hintergrund der für das späte 16. Jh. wichtigen Diskussion um die Möglichkeit von Naturphilosophie. Die Sammlung von aktuellen wie klassischen Forschungsaufsätzen kombiniert mit dem Abdruck der entscheidenden Originalquellen, kompetent eingeleitet von M., bietet einen vorzüglichen Überblick über die Einbindung des Corpus Hermeticum in die Philosophie der Renaissance.