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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

426–428

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kühne-Bertram, Gudrun, u. Gunter Scholtz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 272 S. gr.8. Geb. Euro 49,00. ISBN 3-525-30138-3.

Rezensent:

Doris Hiller

Verstehen ist prinzipiell unmöglich. Dieser postmodernen Kritik an Hermeneutik begegnet der vorliegende Sammelband in der Weise, dass er die Grenzen des Verstehens abschreitet. Diese Grenzen sind gezogen dadurch, dass das Nichtverstehen und das Unverständliche schon immer Thema des Hermeneutischen sind, und dadurch, dass es nicht die Hermeneutik, sondern unterschiedliche Konzeptionen des Verstehens und Auslegens gibt. Es wäre - so die Herausgeber - lohnend, eine Geschichte der Hermeneutik unter dem Aspekt der Grenzen des Verstehens zu schreiben. Die philosophischen und humanwissenschaftlichen Beiträge verstehen sich als Anfang eines solchen Projekts. Sie sind dem Begründer der Dilthey-Forschungsstelle an der Ruhr-Universität Bochum, Frithjof Rodi, gewidmet. Die Beiträge sind in drei Kapitel aufgeteilt. Ein erster Durchgang fragt nach Grenzen des Verstehens in der Hermeneutik des 18. und 19. Jahrhunderts. Das zweite Kapitel stellt Texte zu Grenzen des Verstehens in der hermeneutischen Philosophie und Phänomenologie des 20. Jahrhunderts zusammen. Zuletzt wird nach den Verstehensgrenzen in den Humanwissenschaften gefragt. Damit ist sowohl der Entwicklung hermeneutischer Fragen als auch ihrer Verknüpfung im Diskurs der Wissenschaften Rechnung getragen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen: Gunter Schultz geht dem Umgang mit Verstehensschwierigkeiten in der Aufklärung und der Romantik nach (Das Unverständliche bei Chladenius und Friedrich Schlegel, 17-33). Chladenius stellt fest, dass alle sprachlichen Äußerungen etwas Unverständliches an sich haben. Wesentliche Quelle für das Missverstehen ist der Autor selbst. Bei Chladenius bleibt aber offen, ob das Verstehen die Meinung des Autors oder die Wahrheit der Aussage wiedergeben soll. In der Romantik wird ausgehend vom Kunst-Verstehen die Notwendigkeit des Unverständlichen zur hermeneutischen Aufgabe. Mit Schlegel erhält das Unverständliche eine metaphysische Komponente, denn das, was den Menschen trägt, muss im Dunkeln gelassen werden. Hier zeigt sich der Übergang vom Werkverständnis zum Weltverständnis, das die hermeneutische Aufgabe der kommenden Jahrhunderte werden sollte.

An die Grenzen des Verstehens bei Kant und Dilthey stößt Rudolf A. Makkreel in seinem Beitrag (Pushing the Limits of Understanding in Kant and Dilthey, 35-47). Ausgehend von der mit Dilthey aufgeworfenen Frage nach der Erkenntnismöglichkeit der Humanwissenschaften schlägt der Autor vor, sich noch einmal Kants Anthropologie zu widmen. Dort wird deutlich, dass es zwar kein Erklärungsmodell für Selbsterkenntnis gibt, man aber zu einer Erkenntnis gelangt, die sich am absoluten Wert der Gemeinschaft orientiert. Das Gemeinschaftliche markiert jedoch zugleich die Grenze des Verstehens. Weiter kommt man im Verstehen nur, wenn man, so der Vf., solche Bereiche des common sense herausfiltert, in denen das wissenschaftlich Verständliche auch konkreten Lebenssinn hervorbringt.

Das Verstehen und seine Grenzen in Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften (49-67) verfolgt Hans-Ulrich Lessing. Wesentliche Verstehensbarrieren sind nach Dilthey die Natur und das Fremde. Sie sind nur der Außenwahrnehmung zugänglich und damit prinzipiell unverständlich. Insofern es die Aufgabe der Geisteswissenschaften ist, das prinzipiell Unverständliche verstehbar zu machen, kann das Andere, ausgehend vom eigenen Erleben, nur in Symbolen und Metaphern verstanden werden. Die Folge ist dann die Erkenntnis, dass das Verstehen letztlich unabschließbar ist.

Diltheys Erlebnisbegriff und die Grenze des Verstehens (69-83) sind auch Gegenstand der Untersuchung von Maria N. Amaral. Sie geht besonders auf den Zusammenhang von Erleben und Wirklichkeit ein, der durch die Kategorie der Bedeutung hergestellt wird.

Die Beiträge zur Frage nach dem Verstehen im 20. Jh. werden mit Blick auf die Hermeneutik Husserls eingeleitet. Guy v. Kerckhoven betrachtet Husserls Phänomenologie insbesondere in der Auseinandersetzung mit Th. Lipps (Leiblichkeit und Komprehenz. Zu E. Husserls ältesten Blättern über Einfühlung, 87-112). Der Vf. betont vor allem Husserls schon frühen Verzicht auf den Begriff der Einfühlung, den er durch Fremdapperzeption oder -wahrnehmung ersetzt, womit die Leibhaftigkeit der Mitgegenwart des Anderen erfasst werden kann.

Die moderne Gesellschaft bedarf einer Hermeneutik der Pluralität, die Matthias Jung schon in den frühen Schriften Heideggers vorgezeichnet sieht (Die Vielfalt des Verstehens. Heidegger und die Pluralität des faktischen Lebens, 113-128). Was die Hermeneutik der Faktizität erreichen will, ist eine Verbindung von Selbst- und Weltbezug, von Handeln und Interpretieren. In diesem Bezugssystem ist das hermeneutische Selbst pluralitätsoffen, weil es sich in der Vielzahl von Sinnalternativen versteht. Um den Verstehensprozessen gerecht zu werden, schlägt der Vf. vor, zwischen dissensanerkennendem und konsensorientiertem Verstehen zu unterscheiden. Letzteres beschreibt die Übernahme von sinnerschließenden Möglichkeiten in das eigene Überzeugungssystem. Die Grenze zum Eigenen wird verstehend überwunden, während das dissensanerkennende Verstehen diese Grenze wahrt, jedoch die reale Perspektive des Anderen anerkennt.

Gudrun Kühne-Bertram macht die hermeneutische Logik des Dilthey-Schülers Georg Misch zum Gegenstand ihres Beitrags (Der Ausdruck als Grenze des Verstehens in Georg Mischs Theorie des Wissens, 129-145). Die Korrelation von Ausdruck und Verstehen ist nach Misch die Basis der Auslegung und Selbstauslegung des Lebens. Dabei erweist sich der Ausdruck insofern als Grenze des Verstehens, als ein solcher unbedingt gegeben sein muss. Zugleich fordert der Ausdruck die Verstehensleistung heraus, wobei noch nichts gesagt ist über das tatsächliche oder das angemessene Verstehen. In der Verbindung von Ausdruck und Bedeutung erhält das Verstehen eine unbegrenzte Reichweite.

Die sich mit Heidegger und Gadamer anbahnende Panhermeneutik des grenzenlosen Verstehens hat, wie Otto Pöggeler herausarbeitet, bereits der Husserl-Schüler Oskar Becker erkannt (Deuten gegen Verstehen: Oskar Becker, 147-161). Becker relativiert das Verstehen als umfassenden Zugang zu Welt und Wirklichkeit, indem er ihm das Deuten entgegensetzt. Basis ist eine ontologische Phänomenologie, die den menschlichen Anschauungsraum formal erschließt. In diesem bewegt sich das Deuten, das sich nicht im hermeneutischen Zirkel verfängt, sondern einem Erklären in der Stringenz mathematischer Formeln folgt. Im Experiment zeigt sich, ob die Deutung gelingt oder nicht.

Dass dem neuzeitlichen Menschen die Unmittelbarkeit der Erfahrung versagt ist, bedeutet zugleich, dass es kein reines Verstehen geben kann. Diese Beobachtung verfolgt Käte Meyer-Drawe an der Phänomenologie Merleau-Pontys (Die Dichte der Dauer. Phänomenologische Notizen zu den Grenzen des Verstehens bei Merleau-Ponty, 163-171). Verstehen ereignet sich immer in der Doppeldeutigkeit unserer Existenz als Welt und Zur-Welt, womit das Verstehen zugleich in seine Schranken gewiesen ist, weil es keine Verschmelzung mit dem Unmittelbaren gibt.

Nach den menschlichen Möglichkeiten im Prozess des Verstehens fragt auch die Philosophie Paul Ricurs, die von David E. Klemm vorgestellt wird (Human Capability and the Limits of Understanding in Paul Ricur's Philosophy, 173-193). Menschsein erfährt sich in der Spannung zwischen Endlichem und Unendlichem, wobei die Sprache das Medium ist, das an die Grenzbereiche des Verstehens heranführt. Das Selbst, die Welt und Gott sind Grenzausdrücke, weil sie den Artikulations- und Interpretationsprozess im Verstehen des menschlichen Seins in Gang halten. Der Vf. betont dabei vor allem Ricurs Interesse an der biblischen Sprache, weil ihre Poetik die Begegnung mit dem Unendlichen ermöglicht. Im Gebrauch des Namens "Gott" zeigt sich für Ricur die letzte Grenze des menschlichen Verstehens, während in ihm zugleich die Tiefendimension der Sprache aufscheint.

Die Frage nach den Verstehensgrenzen in den Humanwissenschaften wird zuerst aufgenommen von Karl Acham, der Modelle des Erklärens und Verstehens in den Sozialwissenschaften untersucht (Grenzen des Verstehens. Überlegungen im Anschluß an Max Weber, Karl Jaspers und Heinrich Gomperz, 197-216). Die Grenzen zur Erfassung von sozialem Verhalten, Handlungen und Handlungsmotiven liegen in einseitigen Kausalbetrachtungen, die zu defizienten Erklärungsmodellen führen, ebenso wie in einem einseitigen einfühlenden Verstehen, mit dem auch abnormes Verhalten verständlich gemacht werden soll. Gegen die Tendenz des Alles-Verstehen-Wollens plädiert der Autor dafür, die realen Grenzen des Verstehens in einer docta ignorantia zu wahren.

Um Grenzen und Möglichkeiten des Verstehens in der Psychotherapie (217-229) bemüht sich Jobst Finke. Aufgabe der Psychotherapie ist es, die Grenze zum Unverstehbaren zu überschreiten, um Sinnbrüche kenntlich zu machen und zu überwinden, allerdings ist der Therapeut gehalten, weder im Selbstverständnis des Klienten zu verharren, noch ihm Deutungen aufzuzwingen. Der Vf. plädiert dabei für ein szenisches Verstehen als Synthese von grenzüberschreitendem und sich selbst begrenzendem Verstehen.

Werner Schiffauer lotet die Grenzen des ethnologischen Verstehens (231-246) aus, indem er dieses ins Verhältnis setzt zum interkulturellen Verstehen im Alltag. Der Ethnologe "liest" die Kultur, was ihn von dem unterscheidet, der in der Kultur handelt. An der Grenze des ethnologischen Verstehens sind immer wieder Aushandlungsprozesse nötig, um Verständigung zu ermöglichen.

Wie die Vergangenheit verstanden werden kann, fragt David Carr (History, Fiction, and the Limits of Understanding, 247-255). In Anlehnung an und Auseinandersetzung mit R. Barthes, H. White und P. Ricur geht der Vf. davon aus, dass Geschichte letztlich immer eine Verschränkung von Fiktionalem und Faktischem ist. Der Historiker macht sich in seiner Arbeit zunutze, dass menschlichen Handlungsvollzügen immer auch eine narrative Struktur innewohnt. Als literarisches Genre teilt Geschichtsschreibung Merkmale des fiktionalen Erzählens, ohne deshalb die Unwahrheit zu sagen. Historiker operieren an der Grenze des Verstehens, indem sie sich der fiktionalen Elemente bedienen, um die Wahrheit über Ereignisse in der Vergangenheit sagbar zu machen.

Die Literaturtheorie ist nicht an der Überwindung der Verstehensgrenzen interessiert, sondern - wie Gerhard Plumpe veranschaulicht - an der Wahrung der Grenzen, die das Verstehen von Literatur aufgibt (Grenzen der Kommunikation? Über das Verstehen der Literatur aus systemtheoretischer Sicht, 257-267). Plumpe orientiert sich dabei an der Systemtheorie Luhmanns mit ihrer autopoietischen Kommunikationsstruktur. Literatur macht Kommunikationsofferten, die sich einem abschließenden Verstehen im Sinne einhelliger Interpretation versagt, aber die Polykontextualität des Verstehens beachtet.

Dass die Verstehensfrage facettenreicher ist, als es gemeinhin die Diskussion im Fokus auf Dilthey, Heidegger und Gadamer, dem jedoch auch ein Beitrag zugestanden hätte, suggeriert, wird in dem hier vorgestellten Sammelband nachdrücklich deutlich gemacht. Allen Beiträgen ist zu entnehmen, dass die hermeneutischen Fragen nach dem Verstehen nicht obsolet sind und sich Hermeneutik an ihren Grenzen nicht selbst aufhebt, sondern sich dort allererst profilieren kann. Fazit: Verstehen ist prinzipiell möglich - im Diskurs der Wissenschaften und mit Respekt vor den Grenzen des Verstehens.